Ein letzter Besuch...

Als Chef des Stabes bei General Stülpnagel in Frankreich leitet Hans-Otfried von Linstow am 20. Juli 1944 die Verhaftung von Gestapo- und SD-Kräften in Paris ein. Drei Tage später wird er festgenommen. Sein Sohn Hans-Harald erzählt vom letzten Besuch des Vaters bei der Familie.

Im Frühling 1944 zieht die Familie von Linstow von München nach Kempfenhausen am Starnberger See - Mutter Ingeborg, Vater Hans-Otfried und die Söhne Hans-Ingo und Hans-Harald. Der Besitzer ihres neuen Heims, Arnold Rechberg ist ein Freund der Eltern -  Künstler, Tuchfabrikant und leidenschaftlicher Politiker. Bereits kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs vertritt er vehement die Auffassung, Deutschland und Frankreich müssten friedlich und gemeinsam an der zukünftigen Gestaltung Europas arbeiten. Den Nationalsozialisten war er unbequem. Rechberg wurde mehrmals inhaftiert, zeitweise im Konzentrationslager Dachau.

Hans-Otfried von Linstow wird im April 1944 von seiner damaligen Funktion als stellvertretender Münchner Stadtkommandant nach Paris zum Militärbefehlshaber General Carl-Heinrich von Stülpnagel versetzt. Sein jüngerer Sohn Hans-Harald erinnert sich, als er viele Jahre später in Frankreich die historischen Plätze des Deutschen Widerstandes in Paris besuchte: “An Ort und Stelle wird einem zutiefst bewusst, wie es den Männern unseres Widerstands ergangen sein muss. Im Hotel Raphael war mir die Präsenz meines Vaters fast fühlbar.”

Hans-Otfried mit Sohn Hans-Harald
Hans-Otfried mit Sohn Hans-Harald © Privatbesitz

“Etwa zehn Jahre später erzählte mir meine Großmutter auf unseren gemeinsamen Wanderungen viel über meinen Vater. Auch von seinem bedrückenden und nachdenklichen Besuch im Juni 1944 in Berlin. Es sollte sein letzter sein”, berichtet Hans-Harald von Linstow.

Auf der Rückreise von Berlin nach Paris besucht der Vater für wenige Stunden die Familie am Starnberger See. Hans-Harald ist da fünf Jahre alt. “Noch heute bin ich glücklich und dankbar für diese letzten Momente mit unvergesslichen und intimen Erinnerungen an ihn.”  Der erste Sommer am Starnberger See ist Hans-Harald als “kindlich unkompliziert” in Erinnerung, vieles sei jedoch auch eigenartig und beängstigend gewesen: “Eines Tages fuhren Autos vor, aus denen Männer mit Hüten und grauen Mänteln ausstiegen. Nachdem diese ein Gespräch mit meiner Mutter eingefordert hatten, verließen sie mit persönlichen Sachen, wie Kleidung, Manschettenknöpfen und Akten meines Vaters unter dem Arm, wieder das Haus.”

 

Hans-Otfried von Linstow mit Kindern Hans-Ingo und Hans-Harald (v.l.)
Hans-Otfried von Linstow mit Kindern Hans-Ingo und Hans-Harald (v.l.) © Privatbesitz

Am 30. August 1944 kommt der jüngste Spross der Familie, llsemarie, genannt „Pünktchen”, zur Welt. Am selben Tag stirbt der Vater. Im September 1944 erreicht die Familie ein Brief aus Berlin mit der entsetzlichen Nachricht, dass er “im Namen des deutschen Volkes..."  am 30. August 1944 hingerichtet worden war. “Erschüttert nahm meine Mutter dies zur Kenntnis. Zusätzlich musste sie auch der Aufforderung Folge leisten, die Kosten für die Hinrichtung zu übernehmen. An diesem Tag habe ich meine Mutter und Hans-Ingo fassungslos weinen sehen.”

Es vergehen 50 Jahre bis Hans-Harald vom Abschiedsbrief des Vaters an die Mutter erfährt. Anlässlich des Jahrestags des 20. Juli 1944 wird dieser in einer TV-Sendung vorgelesen. ”Mir war dieser Brief bis dahin nicht bekannt; und ich war zu Tränen gerührt. Die Vorstellung, dass mein Vater in seiner ausweglosen Situation, einige Minuten vor seiner Hinrichtung, in der Lage war, einen so intimen, zu Herzen gehenden Brief zu schreiben, überwältigte mich.”

Abschiedsbrief vom 20.08.1944
Abschiedsbrief vom 20.08.1944 © Privatbesitz
Abschiedsbrief Teil II
Abschiedsbrief Teil II © Privatbesitz

In den letzten Kriegswochen Anfang des Jahres 1945 beobachtet Hans-Harald täglich, wie sich ausgemergelte, oft kranke, schwache Menschen bei kaltem und stürmischem Wetter in Richtung Süden schleppen – angetrieben von Aufsehern mit Gewehren und großen Hunden. “Ich durfte das Haus damals nicht verlassen”, erzählt er. Heute erinnern Gedenktafeln an diese fürchterlichen Gewaltmärsche der geschwächten und gequälten Häftlinge aus dem KZ Dachau.

Die Mutter, die sehr gut Englisch sprach, habe sich laufend mit dem Vermieter Arnold Rechberg beraten. “Ich nahm noch Kanonendonner wahr, hörte aber trotzdem Worte wie: “Der Krieg ist aus"” Am Hauseingang lagen weiße Tücher bereit.

Anfang Mai 1945 fahren schließlich Kolonnen von schwerbewaffneten, motorisierten Kriegsfahrzeugen vorbei, versehen mit amerikanischem Sternenbanner und freundlichen, amerikanischen Soldaten. “Alle Hausbewohner standen am Gartentor, Pünktchen auf dem Arm von Kinderschwester Erni, ich an der Hand von Hans-Ingo, alle schwenkten wir weiße Tücher, und die vorbeifahrenden Soldaten warfen uns Kaugummis, Drops und Schokolade zu.”, erzählt Hans-Harald.

Die Mutter und Arnold Rechberg fehlen. Sie halten sich im Arbeitszimmer des Vaters auf, in dem sein Portrait in Wehrmachtsuniform über dem Schreibtisch hängt. Als ein Trupp Soldaten Einlass verlangt, führt sie der ältere Sohn Hans-Ingo dorthin. Später berichtet er dem jüngeren Bruder, wie ein amerikanischer Colonel sich vor das Bild des Vaters gestellt und diesen mit einem militärischen Gruß geehrt habe. Im Gegensatz zu allen Nachbarvillen wird der Rechberg-Hof nie besetzt, keiner muss das Haus verlassen.

Hans-Harald von Linstow mit Schwester Ilsemarie (genannt "Pünktchen")
Hans-Harald von Linstow mit Schwester Ilsemarie (genannt "Pünktchen") © Privatbesitz

Nach dem Krieg kommt Hans-Harald auf gemeinsamen Reisen der Stiftung Hilfswerk 20. Juli 1944 erstmals mit ehemaligen Mitgliedern der Resistance in Kontakt. “Nur selten trafen wir Franzosen, die über den deutschen Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur informiert waren. Von den Ereignissen des 20. Juli 1944 in Paris hörten sie zum ersten Mal.”

Interesse am deutschen Widerstand sei aber durchaus vorhanden gewesen, wie Hans-Harald auf einer Buchvorstellung mit Nachkommen deutscher Widerstandskämpfer in Bordeaux erfährt: “denn man durfte nicht vergessen, wieviel entsetzliches Unheil die Nationalsozialisten in diese Stadt gebracht hatten.” Tausende der jüdischen Bewohner wurden damals in die Vernichtungslager in Richtung Osten verfrachtet; viele Jugendliche und Schüler als Mitglieder der Resistance erschossen. “Gegen Ende der Lesung kam eine ältere Dame auf mich zu, gab mir ihre etwas zittrige Hand und sagte: “Monsieur, vous êtes le premier homme allemand à qui je donne ma main!” (Mein Herr, Sie sind der erste deutsche Mann, dem ich die Hand gebe!) Sie war Jüdin und erzählte von ihren Eltern, die deportiert und im Lager verstorben waren. Sie selbst sei durch Franzosen versteckt worden und habe ihre Eltern nie wiedergesehen. “Wir hielten uns lange an den Händen, denn mir fehlten die Worte”.

Seit 2010 gibt es eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der Association Nationale Mémoires du Mont-Valerien und der Stiftung 20. Juli 1944, die Hans-Harald von Linstow im Auftrag der Stiftung als “Chargé de mission" begleitet. Seit einigen Jahren nehmen auch Mitglieder der Stiftung 20. Juli 1944 an den jährlichen Gedenkfeiern in Erinnerung aller Toten der Resistance teil, so auch 2011 am Arc de Triomphe: Die damalige Präsidentin der Association, Lysiane Tellier, und Hans-Harald von Linstow legen dort gemeinsam einen Kranz nieder. “Plötzlich bleibt sie stehen, nimmt meine Hand, schaut mir in die Augen und sagt:” Harald, maintenant nous deux pensons à votre père Hans-Otfried.” (Harald, jetzt denken wir zwei an deinen Vater Hans-Otfried).

Hans-Harald von Linstow mit Lysiane Tellier
Hans-Harald von Linstow mit Lysiane Tellier © Privatbesitz

Hans-Otfried von Linstow wird nach dem Scheitern des Umsturzversuches von Linstow am 23. Juli 1944 in Paris festgenommen, am 30. August 1944 in Berlin vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und noch am selben Tag im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee durch den Strang ermordet.

 

Eine Kurzbiographie von Hans-Otfried von Linstow und Linteraturhinweise finden Sie hier.