„Aber die Liebe zu Deutschland wächst von Tag zu Tag ...“

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Anneliese Knoop-Graf

„Aber die Liebe zu Deutschland wächst von Tag zu Tag ...“

Festvortrag von Anneliese Knoop-Graf am 19. Juli 2006 in der St. Matthäus-Kirche, Berlin

Ich nehme den Auftrag der Gedenkstätte Deutscher Widerstand gerne an, um meinen Teil zur zeitgeschichtlichen Rezeption des deutschen Widerstandes beizutragen und für das gemeinsame Gedenken an den Widerstand einzutreten - für das Gedenken an die Frauen und Männer also, denen die Verantwortung für Deutschland wichtiger war als ihr eigenes Leben.

Wir wissen, unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus gab es keinen einheitlichen breiten politischen Widerstand gegen das Regime. Der Widerstand war in vielen unabhängigen kleineren Gruppen unterschiedlicher Richtungen oder auch Einzelpersonen gespalten. Einer dieser Gruppen, der Weißen Rose, will ich mich heute aus gegebenem Anlass besonders zuwenden und ein Thema nachzeichnen, das meinen Bruder und seine Freunde immer wieder beschäftigt hat: Widerstand aus Patriotismus; ein Thema, das die Vergangenheit mit der Gegenwart miteinander verbindet.

Wenige Tage vor seiner Hinrichtung schrieb Willi Graf aus seiner Todeszelle: „Aber die Liebe zu Deutschland wächst von Tag zu Tag, und ich nehme schmerzvollen Anteil an seinem Geschick und seinen großen Wunden.“

Vier Wochen später wurde das am 19.4.1943 „Im Namen des deutschen Volkes“ verhängte Urteil vollstreckt, ein Urteil, das die Angeklagten als „Volksverräter“ bezeichnete, „die ... der deutschen Jugend Schande gemacht haben“.

Das war die Reaktion der Schergen auf die Flugschriften der Weißen Rose, in denen es zum Beispiel hieß: „Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues, geistiges Europa aufrichtet.“

Willi Graf - Versuche einer Annäherung an die Welt, die ihn umgibt, in der er aufwächst, über die er hinauswächst. Kindheit und Jugend verbrachte er mit einer älteren und mir, der jüngeren Schwester, in Saarbrücken, wo unser Vater Geschäftsführer eines Unternehmens für Weingroßhandel und Saalvermietung war. Unser Elternhaus war stark von der katholischen Tradition geprägt. Religiöse Erziehung stand im Mittelpunkt des Familienlebens; unsere Bildung im geistigen, kulturellen und politischen Bereich wurde vornehmlich der Schule überlassen.

Mit elf Jahren trat Willi in den katholischen Schülerbund „Neudeutschland“ ein und wurde dort bald Fähnleinführer. Der Name dieses 1919 gegründeten Bundes steht für sein Ziel, „aus den Quellkräften katholischer Art und den gesunden Werten deutschen Volkstums ein neues Deutschland zu bauen.“

In einer entsprechenden Verlautbarung hieß es: „... dass wir uns bewusst zum Deutschsein als unsere von Gott gewollten volkshaften Art bekennen“. Es dominierte zunächst eine weitreichende Zustimmung zu den politischen Zielsetzungen der NSDAP und seinen hierarchischen Strukturen. Noch Anfang 1938 hatte eine der führenden Persönlichkeiten des Neudeutschland bekundet: „Deutschland, Volk, Vaterland ließen wir uns nicht nehmen. Im Gegenteil, es war unser Deutschland, unser Volk, unser Vaterland ... Das deutsche Volk war für uns erstrangig unter den Völkern: Herzvolk des Erdteils, Herz der Welt!“ (Ludwig Wolker)

Aber auch kritische Stimmen wurden laut und wandten sich bereits am 1. Mai 1933 mit scharfen Worten gegen ein „Ja“ zur Diktatur: „Wir werden unsere eigenen politischen Ideen in so positiver, klarer und prägnanter Form herauszuarbeiten versuchen, dass jedermann eindeutig sieht, wie unser ’Ja’ aussieht und wo wir unweigerlich ’Nein’ zum neuen Sozialismus sagen müssen.“

Zwischen diesen politischen Positionen mussten sich die Jugendlichen ihren eigenen Standort suchen. Willi hatte für sich das „Nein“ entschieden und blieb bei diesem „Nein“.

Die politische Situation des Saargebietes, insbesondere der erbittert geführte Abstimmungskampf, der mit dem 13. Januar 1935 endete, hatte großen Einfluss auf die „nationale“ Orientierung vieler Jugendlicher.

Unsere aus dem Rheinland stammenden Eltern fühlten sich dem Reich als ihrem angestammten Vaterland zugehörig. Unser Vater - überzeugt von der guten nationalen Sache - wurde aktives Mitglied der 1934 gegründeten Partei „Deutsche Front“, die eindeutig für die Angliederung ans Reich eintrat, ein Kurs, der vom katholischen Klerus gebilligt, ja, teilweise auch gefördert wurde. Als unser Vater später einen Gnadenerweis für Willi zu erreichen versuchte, hat er seine „besonderen Verdienste“ im Abstimmungskampf herangezogen. Es klingt heute für mich fast wie ein Hohn, wenn in den von verschiedenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichneten Gesuchen immer wieder darauf hingewiesen wird, dass sich der „Vater des Angeklagten“ rückhaltlos für die deutsche Sache eingesetzt und in den Dienst der Bewegung gestellt habe. „Es sei sicher“, so weiter, „dass sich die Erziehung des Sohnes im deutschen Geist vollzogen habe“, was unser Vater - welche Demütigung für diesen rechtschaffenden Mann - ausdrücklich bestätigte: „Erziehung zu nationalem Denken und nationalsozialistischer Aufgeschlossenheit“ sei einer seiner wichtigsten Erziehungsgrundsätze gewesen. Sein Sohn hätte eine „ganz positive Einstellung zu Volk und Reich und könne in seinem innersten Wesen niemals seinem Volk untreu sein.“

Es scheint mir heute fast unverständlich, dass Eltern und Lehrer, Bekannte und Verwandte ihre auf religiösem Bewusstsein basierenden kritischen Vorbehalte gegenüber dem Hitlerregime nicht auch mit einem Votum gegen Deutschland verbanden. Am 13. Januar 1935 stimmten 90,8 % der saarländischen Bevölkerung der Rückgliederung an das Reich zu. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in unserem Elternhaus Gespräche, geschweige denn Diskussionen darüber gegeben hätte.

Am 12. Oktober 1943 schrieb Willi kurz vor seinem gewaltsamen Tod in einem vom Gefängnispfarrer herausgeschmuggelten Brief: „Alles, was ich bin, verdanke ich Euch, meine lieben Eltern, denn Ihr gabt mir alle Freiheiten und Möglichkeiten mit auf den Lebensweg.“

An welche „Freiheit“ mag er dabei wohl gedacht haben?

Es war wohl so, dass er sich - anders als es bei uns Schwestern der Fall war - durch die Erziehungsweise unserer Eltern weder eingeengt noch gemaßregelt fühlte.

Und dennoch - was unseren Vater betrifft: Erzogen in den Denkweisen autoritärer Strukturen und eingebunden in ein patriotisches Nationalbewusstsein, wie es gerade für seine Generation selbstverständlich war, konnte er Widerstandsaktivitäten gegen das Gewaltsystem mit seiner Vaterlandsliebe nicht vereinbaren. Wir wissen heute, dass die Freunde der Weißen Rose aus einer unerschütterlichen, christlichen Grundeinstellung heraus den Widerstand gegen das Verbrecherregime als unabdingbare Christenpflicht auffassten. Eine solche Konsequenz war für unseren Vater offenbar nicht nachvollziehbar. Eine Einstellung, die auch von unseren Verwandten geteilt wurde. Ein Vermerk in Willis Tagebuch anlässlich eines Besuches bei den Bonner Verwandten am 20. November 1942 drückt seine kritischen Vorbehalte aus: „Man spricht das übliche Zeug, sieht die Gefahren, muss nun aber aushalten.“

In den langen Monaten der Einzelhaft hat Willi sich mit der Frage beschäftigt, wie unser Vater wohl über sein Tun dachte. Er flüsterte meiner Schwester während eines Gefängnisbesuches zu: „Sage dem Vater, es war kein Dummer-Jungen-Streich; er wird einmal stolz auf mich sein.“

Die Zerschlagung und Verfolgung der Weißen Rose hatte auch ihre Angehörigen getroffen. Sie mussten Verhaftungen und Verhöre auf sich nehmen. So war nicht nur ich selber bis Mitte Juni 1943 inhaftiert, auch unsere Eltern waren vom 28. Februar 1943 bis unmittelbar nach dem zweiten Weiße-Rose-Prozess am 19. April 1943 in Haft. Auch wenn unser Vater nur selten und dann sehr verhalten in seinem Schmerz über Willis Tod sprach, waren wir - meine Schwester und ich - uns klar darüber, dass er sich mit dem Gedanken quälte, Willis Tun letztlich nicht begreifen zu können.

Eine Bestätigung dieser Vermutung erhielt ich vor einiger Zeit: Dank der sorgfältigen Recherche eines Doktoranden (Sönke Zankel) wurde im Landesarchiv Saarland ein Originalbrief meines Vaters aufgefunden, den er am 17. April 1943 aus dem Gefängnis - also unter Zensur - an mich geschrieben hatte. Mich, die in jener Zeit im Gefängnis in der Brienner Straße in München war, hat dieser Brief damals nicht erreicht. Er schrieb mit unter anderem: „Für mich ist es der einzige Trost, dass ich von alledem, das vorgefallen sein mag, nichts weiß und noch weniger als nur die geringste Ahnung hatte. Wir müssen aber darunter schwer leiden.“ Der letzte Satz des Briefes lautet: „Mutter und ich mussten nun bald sechzig Jahre alt werden, um noch mit dem Gefängnis bekannt zu werden, ein Ort, den wir doch nur vom Hörensagen gekannt haben. Ich weiß noch gar nicht, wie ich mich in der Öffentlichkeit damit zurechtfinden soll.“ Eine Sorge, die unberechtigt blieb; das soziale Netz unserer Eltern war so sicher, dass sie keinerlei Repressalien ausgesetzt waren.

War in der Grenzstadt Saarbrücken Anfang der dreißiger Jahre das geistige Leben außerordentlich rege gewesen, so legte sich nach der Rückgliederung über all dies der Eishauch des Nationalsozialismus. In manchen von Willis Tagebuchaufzeichnungen aus jener Zeit kündigt sich etwas an von der Herausforderung, der man sich stellen müsste; z. B. 1934: „Uns steht ein schwerer Winter bevor, wir dürfen nicht verzweifeln“ oder „Mag kommen, was will, wir bleiben auf unserer Idee stehen“.

Hieraus spricht eher spontane Gegenwehr, emotionales Sich-anders-Fühlen als bewusstes, oppositionelles Denken. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entzündete sich zunächst dort, wo die jungen Menschen Einschränkungen in ihrer Jugendkultur hinnehmen mussten: Erst nach und nach bezog sie sich auch auf grundsätzliche Themen wie „Antisemitismus“, „Verletzung der Menschenwürde“, „Amoralität des Krieges“, „Vergötzung von Rasse und Volk“.

Notizen in Willis Tagebuch sowie Erinnerungen seiner Freunde bezeugen die zunehmende Distanzierung von der mitlaufenden Mehrheit. Damit belegen sie das Wachbleiben gegenüber der Blendung, den zunächst noch ganz persönlich erfahrenen Widerspruch zur Zeit, der sich schließlich zum Widerstand gegen das Regime als gezielt politisches Handeln entwickelte.

Damit waren Willi und seine Freunde unweigerlich mit dem nationalsozialistischen Herrschaftsapparat in Konfrontation geraten. Dass sie in dieser Haltung weitgehend alleine standen, wussten sie. Von der Kirchenleitung fühlten sie sich im Stich gelassen. Wegweisung suchten sie sich innerhalb ihrer kleinen Gemeinschaft. Zu Hause redeten sie nicht darüber. So hatte ich schon in den dreißiger Jahren den Eindruck, als ob die Zusammenkünfte meines Bruders mit seinen Freunden Verschwörungen seien, bei denen kein anderer und schon gar nicht ein Mädchen teilhaben durfte.

Diese Vorbehalte sind wohl so zu erklären, dass Willi stark von einer männerbündischen Lebensform geprägt war. Andererseits aber bat er mich im Herbst 1942, mit ihm gemeinsam in München zu studieren. Hier machte er mich mit dem Kreis der Weißen Rose bekannt, ohne mich allerdings in ihre Aktionen einzubeziehen; nicht zuletzt aus der prinzipiellen Erwägung heraus, dass das „Nichts für Frauen sei“ - ja - insbesondere auch nichts für mich, wie er mir bei einem Besuch im Gefängnis auf meine Frage hin zu verstehen gab.

Noch bevor die konfessionellen Gruppen im Saargebiet endgültig aufgelöst worden waren, hatte Willi sich für seinen eigenen Weg entschieden. Er weigerte sich, in die Hitlerjugend einzutreten und schloss sich einem illegalen Kreis südwestdeutscher Bündischer, der Gemeinschaft des „Grauen Ordens“, an. Diese jungen Leute lebten ihr Leben abseits der üblichen Bahnen. Die Lust am geistigen Abenteuer trieb sie auf die ruhelose Suche nach Entdeckungen in Literatur, Philosophie und Kunst. Dichtung wurde zur Lebens- und Überlebenshilfe.

Ihr Deutschland stand im schroffen Gegensatz zum tatsächlichen Deutschland. Die Jungen hatten keinen Feind außer dem Feind im eigenen Land. Ständig auf Entdeckung gefasst, verteidigten sie unbeirrt ihren Freiraum. Sie wollten gemeinsam mit ihren Freunden ihr eigenes Leben leben, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Sahen die Jungen des Grauen Ordens den NS-Staat auch als Feind an, liebten sie gleichwohl ihr Land, ihr Volk, ihre Heimat. Doch was die Regierung als „nationale Gesinnung“ vorschrieb, war nicht ihr Deutschtum; den Führerkult, die Diffamierung Andersdenkender, den vom Wortlärm übertönten Patriotismus hielten sie für undeutsch und unheilvoll.

„Ob das Vaterland überhaupt noch die Bedeutung hat, wie es vielleicht einmal war?“ resümierte Hans Scholl diese Gedanken in einem Brief. Und Professor Huber, der eher eine nationalkonservative Staatsvorstellung vertrat, formulierte gegenüber der Gestapo: „Für mich ist es unmöglich, in einem Staatswesen der heutigen Struktur weiterzuleben und einen Beruf auszuüben, der mich täglich und stündlich in die denkbar schwersten Konflikte mit der Staatsauffassung der heutigen Parteiführer bringt.“

Aus solchen Überlegungen entstanden Probleme, vor allem im Krieg. Im Gegensatz zu vielen anderen, die glaubten, ihr Vaterland um jeden Preis verteidigen zu müssen, war es Willi und seinen gleichgesinnten Freunden von vornherein klar, dass dieser Krieg verloren werden müsse, ja, schon seit seinem Beginn verloren sei. Sie erkannten, dass nicht Franzosen, Engländer, Amerikaner und auch nicht die Russen Feinde waren, sondern dass der „Führer“ es war, der Deutschland in den Untergang trieb.

Um diesen Gedanken zu vollziehen, war es notwendig, über den eigenen nationalen Schatten zu springen, das oft korrumpierte „deutsche Nationalgefühl“ aufzugeben.

Was muss es wohl junge Menschen damals gekostet haben, sich diese Auffassung zu Eigen zu machen, da doch bei jeder „Siegesmeldung“ die Kirchenglocken läuteten und in den Gottesdiensten täglich für „Führer, Volk und Vaterland“ gebetet wurde.

Jedenfalls ließen die Vertreter der Kirche bekanntlich keinen Zweifel an der Legitimation des Krieges erkennen; vielmehr mahnten sie, „für das teure Vaterland zu kämpfen oder mutig zu sterben“. Dass die Soldaten mit ihrem pflichtbewussten Einsatz in Hitlers Wehrmacht de facto für die Erhaltung und Ausbreitung des NS-Regimes kämpften, wurde von den meisten nicht erkannt.

Es bleibt mir ein Rätsel, warum z. B. Bischof von Galen, ein aufrechter, mutiger Patriot konservativer nationaler Prägung, den verbrecherischen Charakter des Hitlerkrieges nicht erkannt und darum die ihm anvertrauten Gläubigen aufgerufen hat, sich gehorsam und todesbereit zur Verfügung zu stellen. So bitter die Einsicht auch sein mag - wir kommen nicht daran vorbei, zuzugestehen, dass alle Verurteilungen der nationalsozialistischen Ideologie und alle Proteste gegen die nationalsozialistischen Verbrechen durch die Bischöfe kein Hindernis für sie gewesen sind, den Krieg Hitlers zu unterstützen, weil sie ihn offenkundig für gerechtfertigt hielten. Entsprechend heißt es dann im 3. Flugblatt der Weißen Rose: „Ein Ende muss diesem Unstaat bald bereitet werden. Ein Sieg des faschistischen Deutschland hätte unabsehbare Folgen.“

Bald nach Kriegsbeginn wurde Willi zur Wehrmacht eingezogen und als Sanitäter ausgebildet. Er war an den Kriegsschauplätzen in Frankreich und Belgien, Polen und Russland. Die Fronterlebnisse, vor allem im Osten, wirkten auf sein Gemüt wie ein betäubender Schlag. In die Uniform der Peiniger gekleidet, hat Willi das gepeinigte Land und die gequälten Menschen lieben gelernt.

Als er dann im Sommer 1942, zur Studentenkompanie in München beurlaubt, die Bekanntschaft mit Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst und später mit Professor Kurt Huber machte und von den Widerstandsaktivitäten der Weißen Rose erfuhr, war seine geistige und moralische Widerstandskraft so bindend, dass er sich dieser Gruppe rückhaltlos anschloss.

In der lange vermissten Gemeinschaft mit Gleichgesinnten öffneten sich für Willi neue Wege: vom Widerstand im Denken zum Widerstand im Handeln.

Am 14. Januar 1943 notierte er in seinem Tagebuch: „Die Zeit geht damit vorbei, dass ich mich mit dem Plan beschäftigte. Ob es der richtige Weg ist? Manchmal glaube ich es sicher, manchmal zweifle ich daran.“ Welche Gedanken mögen hinter solchen Zweifelsfragen gestanden haben? Hat ihn etwa das Problem des Hochverrats jemals wankend werden lassen? Ich glaube nicht! Für Willi war der Kampf gegen diesen Staat nicht Hochverrat oder Ungehorsam gegenüber der kirchlichen Obrigkeit, sondern notwendige Folgerung eines verantwortungsbewussten Deutschen und Christen. Als streitbarer junger Katholik wuchs er über den Anspruch seiner Kirche und ihrer umstrittenen Gebote hinaus und wandte Maßstäbe christlicher Ethik an, die seinem eigenen Gewissen entsprachen.

Muss es aber dennoch nicht eine doppelte Anstrengung für ihn gewesen sein, die ihm anerzogene Gehorsamspflicht gegenüber „Vater Staat“ und „Mutter Kirche“ zu unterlaufen?

Das Ende ist bekannt. Das Scheitern der Weißen Rose, besiegelt mit der Verhaftung der Geschwister Scholl am 18. Februar 1943, war bei diesem Risiko vorhersehbar, jedoch nicht unbedingt für diesen Zeitpunkt zu erwarten. Gleichwohl wurden die Münchner Studenten von den Folgen ihres Tuns nicht überrascht. Von einem leichtsinnigen, gar verklärten In-den-Tod-rennen jugendbewegter Phantasten kann keine Rede sein.

Am 19. April 1943 wurde mein Bruder mit vierzehn Mitangeklagten zum Tode verurteilt, danach musste er noch ein halbes Jahr auf seinen Tod warten.

Am 12. Oktober 1943 telegrafierte die Staatsanwaltschaft München an den Volksgerichtshof Berlin über den Vollzug der Hinrichtung: „Angelegenheit heute ohne Zwischenfall erledigt.“

Vorausgegangen war die Protokollierung in der „Strafsache gegen Graf, Wilhelm“: „Der Hinrichtungsvorgang dauerte vom Verlassen der Zelle an gerechnet eine Minute, elf Sekunden, von der Übergabe an den Scharfrichter bis zum Fall des Beiles elf Sekunden. Zwischenfälle oder sonstige Vorkommnisse von Bedeutung sind nicht zu berichten.“

Entscheidend bleibt die Frage: Woher nahm mein Bruder die Kraft und den Mut, das Nazi-Regime mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen? Weder ein auffälliges Talent erklärt das Format seines Lebensentwurfs, noch stört ein spektakulärer Effekt das Bild der einfachen Bewährung.

Doch auch personale Verantwortung setzt menschliche Bezüge voraus. Diese fand er im Kreis der Weißen Rose. Was ihre Mitstreiter taten, taten sie zusammen. Was sie schrieben, schrieben sie zusammen und stärkten sich gegenseitig, um das menschliche Bezugssystem, das ihr Vaterland war, vor der mit allen verbrecherischen Mitteln betriebenen Vernichtung zu retten, soweit dies zu dieser Stunde überhaupt möglich war.

Als Sophie Scholl von dem Gestapo-Beamten nach dem Motiv ihres Tuns befragt wurde, antwortete sie: „Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte.“

Ich erinnere an Willis eingangs zitierte Worte: „Aber die Liebe zu Deutschland wächst von Tag zu Tag.“

Nicht zufällig leitet Willi diesen Satz mit der Konjunktion „aber“ ein.

Das Einzigartige an der Weißen Rose war, dass sie keiner politischen, weltanschaulichen oder militärischen Gesellschaftsgruppe angehörte, sondern dass es junge Menschen waren, von denen jeder Einzelne Augenzeuge eines Prozesses war, bei dem das Verbrechen am Menschen - eigener oder fremder Nationalität - als politisches oder militärisches Mittel planmäßig eingesetzt wurde. Nur wer die Schändung am Menschen persönlich erfahren hat, kann das Motiv des sonst vielleicht unfassbaren Handelns der Weißen Rose erkennen. Ihr Ziel, das Volk, das sie liebten, vor Entehrung und Untergang retten zu wollen, hat hier sein Fundament.

Wie immer man den Aufstand der Weißen Rose bewerten mag, eines scheint gewiss: Der Neuanfang in einem demokratischen Deutschland nach 1945 wäre - zumindest für junge Menschen - noch schwieriger und orientierungsloser gewesen, hätte es nicht diese Gruppe gegeben, die vor aller Welt zeigte, dass es auch unter der im NS herangewachsenen bürgerlichen Jugend einen Kraftkern gab, dessen Wirkung über die Zeiten hinweg trotz der scheinbaren Sinnlosigkeit der Aktionen und der Tragödie des Endes dieser „Weißen Rose“ nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Ohne Echo, folgenlos also, ist der Münchner Aufstand gewiss nicht geblieben.

„Ihr sollt nicht umsonst gestorben, sollt nicht vergessen sein“, sagte Thomas Mann am 27. Juli 1943 in einer Radioansprache „Deutsche Hörer“, „ihr, die ihr, als noch Nacht über Deutschland und Europa lag, wusstet und verkündetet: Es dämmert ein neuer Glaube an Freiheit und Ehre.“

Und in der Tat: In ihrem 5. Flugblatt haben die Studenten der Weißen Rose die Grundgedanken des neuen geistigen Europa visionär entwickelt und damit etwas Unersetzliches hinterlassen: das Bewusstsein, dass die Verteidigung der Menschenrechte höchstes Ziel des kollektiven und persönlichen Handelns ist.

Wenn wir uns heute klar machen, welche ethische Verantwortung hinter Willis Deutschlandliebe steht, werden wir skeptisch gegenüber einem Patriotismus, der in der heutigen politischen Auseinandersetzung allzu häufig instrumentalisiert wird.

Die letzten Worte, die mir mein Bruder heimlich über den Gefängnispfarrer zukommen ließ, haben eine - mein persönliches Anliegen übergreifende - aktuelle Bedeutung. Er hinterließ mir sein Vermächtnis, indem er mir schrieb:

„Gegenüber meinen Freunden sollst Du bestimmt sein, mein Andenken und mein Wollen aufrecht zu erhalten. Sage ihnen allen meinen letzten Gruß. Sie sollen weitertragen, was wir begonnen haben.“

„Weitertragen“ - was bedeutet das heute? Die Zeichen, die erneut Wachsamkeit anmahnen, mehren sich. Wir dürfen sie nicht ignorieren. Die Erinnerungen an die Weiße Rose sollen nicht zuletzt auch dazu beitragen, die bessere Tradition unseres Landes wieder zu beleben und dafür zu sorgen, dass das Eintreten für ein humanes Gemeinwesen nicht mit dem Tode von Menschen bezahlt werden muss, die leben wollten; Menschen, deren Tod unheilbare Wunden hinterlassen hat bei denen, die sie liebten und überlebten, und deren Beistand ich und viele andere so sehr hätten brauchen können.

Dennoch: „Ich werde bei Dir sein, auch wenn ich nicht mehr im Leben an Deiner Seite stehen kann“ - schrieb Willi in jenem letzten Brief.

Was bleibt, ist sein Auftrag an mich: „Weitertragen“; ein Auftrag, der mein Leben nachdrücklich geprägt und mich bewogen hat, heute, bei diesem denkwürdigen Anlass, zu Ihnen zu sprechen.

Ich beziehe den Widerstand des 20. Juli 1944 ein in die verbindende und verbindliche Maxime, die mir mein Bruder im Juli 1942 in einem Brief hinterlassen hat:

“Jeder Einzelne trägt die ganze Verantwortung. Für uns aber ist die Pflicht, dem Zweifel zu begegnen und eine eindeutige Richtung einzuschlagen.“

So schließt sich der Kreis.