Aufstand des Gewissens

Volker Rühe

Aufstand des Gewissens

Rede des Bundesministers der Verteidigung Volker Rühe anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Aufstand des Gewissens“ am 19. Juli 1994 im Zweiten Dienstsitz des Bundesministeriums der Verteidigung, Berlin

I.

Morgen jährt sich zum fünfzigsten Mal das Attentat des Obersten Claus Graf von Stauffenberg auf Hitler. Der 20. Juli 1944 war ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte, Offiziere wagten den Aufstand des Gewissens und gaben dafür ihr Leben hin. Sie haben Deutschland die Ehre und Würde wiedergegeben, die die Nazi-Verbrecher unserem Land geraubt hatten. Die mutige Tat des 20. Juli war wesentliche Voraussetzung für die Rückkehr des deutschen Volkes in die Gemeinschaft zivilisierter Nationen.

Heute eröffne ich hier, an meinem zweiten Wohnsitz im Bendlerblock, die Ausstellung „Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933-1945“.

Der Bendlerblock war Zentrum des militärischen Widerstands gegen den Diktator und das nationalsozialistische Regime, zuletzt auch die Stätte seines tragischen Scheiterns. Es ist der Ort, an dem Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg, General Friedrich Olbricht, Oberst Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und Oberleutnant Werner von Haeften erschossen wurden.

II.

Die Ausstellung „Aufstand des Gewissens“ wird in besonderer Weise den Worten von Generalmajor Henning von Tresckow gerecht, der wenige Wochen vor der Tat Stauffenberg mit den Worten drängte: „Das Attentat muß erfolgen, koste es, was es wolle. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.“

Den langen und vielfach gewundenen Weg hin zum gescheiterten Attentats- und Staatsstreichversuch dokumentiert die Ausstellung in ausgezeichneter Weise. Sie konzentriert sich auf den militärischen Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime.

Auch wenn der militärische Widerstand tragisch scheiterte, war er in der vielschichtigen Widerstandsbewegung der einzige, der das totalitäre Regime aus dem Innern Deutschlands heraus hätte zu Fall bringen können. Nur das Militär hatte damals die notwendigen Machtmittel.

Wir wissen, wie schwer den Offizieren, die tief in der Tradition des preußischen Pflichtethos wurzelten, der Bruch ihres Eides fiel. Es gehört ein außergewöhnliches Maß an Einsicht, moralischer Kraft und Charakterstärke, Mut und Opferbereitschaft dazu, in schier auswegloser Situation so zu handeln wie diese Männer.

III.

Die Ausstellung „Aufstand des Gewissens“ stellt das ganze Spektrum von Aktivitäten gegen das NS-Regime dar, mit dem sich Soldaten in den Jahren 1933 bis 1945 gegen das Unrecht des Nationalsozialismus und seiner Machthaber zur Wehr setzten. Dazu zählt die Beteiligung von Soldaten am „Kreisauer Kreis“ des Grafen von Moltke ebenso wie die Aktionen der wehrpflichtigen Studenten der „Weißen Rose“. Auch das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ und der „Bund deutscher Offiziere“ werden nicht ausgespart. Die Ausstellung gibt damit die Möglichkeit zu vergleichender Betrachtung und abgewogener Bewertung.

Historische Darstellung ist allerdings zu unterscheiden von moralischer Bewertung. Die Formen des Widerstandes müssen an den verfolgten Zielen und an den unverzichtbaren Wertmaßstäben gemessen werden.

Die kommunistischen Gründer der DDR haben gegen Hitler gekämpft und dennoch keine bleibenden Lehren für die Zukunft daraus gezogen. Sie errichteten in Deutschland eine zweite Diktatur. Der formelhafte „Antifaschismus“ des SED-Regimes war Deckmantel für neue Unterdrückung und neue Verbrechen.

Ulbricht, Pieck und andere kommunistische Machthaber tragen die Verantwortung für das Sterben an der Mauer und in den Gefängnissen der DDR. Die Bundeswehr als Armee des demokratischen und vereinten Deutschlands kann und will diesen Namen kein ehrendes Gedenken bewahren.

IV.

Die Offiziere des 20. Juli standen mit ihrem Leben dafür ein, dass Eid, Befehl und Gehorsam an Menschenwürde, Recht und schließlich an die Verantwortung vor Gott gebunden sind. Für den militärischen Dienst wie auch die staatliche Ordnung insgesamt müssen diese Bindungen oberste Maxime jedes Handelns sein. Das war letztlich Stauffenbergs Vorstellung vom anderen, von seinem „heiligen Deutschland“, auf das er sich sterbend berief.

Heute ist diese sittliche Verantwortung gesetzliche Pflicht des Soldaten der Bundeswehr. Die Bundeswehr ist die erste deutsche Armee, in der die Prinzipien von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das soldatische Selbstverständnis prägen.

Sie stellt sich der ganzen deutschen Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen. Für das Traditionsverständnis der Bundeswehr kann aber nur Vorbildcharakter haben, was den Werten unserer Verfassung genügt. Der 20. Juli ist daher wesentlicher Bestandteil der Tradition der deutschen Streitkräfte.

Der Widerstand gegen Unrecht und Diktatur führt deutlich vor Augen, dass Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit uns nicht geschenkt sind. Sie müssen immer neu errungen und geschützt werden.

Graf Stauffenberg wollte eine neue Ordnung, „die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt“. Der revolutionäre und zugleich friedliche Durchbruch zu den Werten im Herbst 1989 war die großartige Leistung unserer Landsleute in den neuen Bundesländern. Heute haben alle Deutschen das Glück, in Frieden und Freiheit zu leben.

Aus der wiedergewonnenen Einheit erwächst neue Verantwortung – im Innern wie nach außen. Radikalismus und Gewalt von links und von rechts, Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass haben im vereinten Deutschland keinen Platz. Patriotismus, Toleranz und Solidarität gehören untrennbar zusammen, denn Menschenwürde ist unteilbar.

V.

Dem Frieden zu dienen bedeutet aber auch, dass wir unseren Beitrag dort leisten, wo Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gefährdet oder unterdrückt sind. Deutschlands Sicherheit und Wohlstand hängen von seinen internationalen Verpflichtungen und Verflechtungen ab. Deutschland wird nicht abseits stehen, wenn Bündnispartner oder die Völkergemeinschaft unsere Hilfe und Unterstützung brauchen.

Am vergangenen Dienstag hat das Bundesverfassungsgericht die Rechtmäßigkeit der internationalen Einsätze unserer Bundeswehr in der Adria, in AWACS-Flugzeugen und in Somalia festgestellt. Ich habe mich über diese Entscheidung gefreut.

Sie ermöglicht dem deutschen Volk die volle Teilnahme an den Aufgaben der Gemeinschaft zivilisierter Nationen in gleicher Souveränität und in gleicher Verantwortung.

Der Auftrag der Bundeswehr, Deutschland und seine Bündnispartner zu schützen, humanitäre Hilfe zu leisten und an internationalen Friedenseinsätzen teilzunehmen, entspricht den Herausforderungen unserer neuen Sicherheitspolitik. Den Einsatz für Frieden, Freiheit und Humanität sind wir auch den Frauen und Männern des deutschen Widerstandes schuldig, die für diese Werte ihr Leben gaben.

Die Ausstellung „Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933-1945“ wurde bereits 1984 konzipiert und seitdem mit großem Erfolg an einer Reihe von Standorten in der alten Bundesrepublik gezeigt. Für die heutige Neueröffnung wurde die Ausstellung völlig überarbeitet und neu zusammengestellt, der Katalog wurde erheblich erweitert. Dafür danke ich den Offizieren und Wissenschaftlern des Militärischen Forschungsamtes ebenso wie der historischen Ausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand hier in der Stauffenbergstraße für die Überlassung von Leihgaben und tätige Unterstützung.

Auch diese neue Ausstellung wird später noch an anderen Standorten gezeigt werden, vor allem in Städten im Osten Deutschlands. Ich bin sicher, dass sie dort auf breites Interesse stoßen und den Erfolg der ersten Ausstellung wiederholen wird.