Aus der Vergangenheit Kraft für die Zukunft

Hanna-Renate Laurien

Aus der Vergangenheit Kraft für die Zukunft

Ansprache der Bürgermeisterin von Berlin Dr. Hanna-Renate Laurien am 19. Juli 1987 im Rathaus Schöneberg, Berlin

Im Namen des Senats von Berlin und im Namen des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen begrüße ich Sie am Vorabend des 20. Juli.

Gemeinsam wollen wir auch in diesem Jahr der Menschen gedenken, die vor 43 Jahren versuchten, Deutschland vom Joch der Diktatur zu befreien. Wir gedenken derjenigen, die ihr Leben riskierten und verloren, damit Deutschland eine Zukunft hatte. Sie geben Zeichen in unsere Zeit, die wir nicht vergessen dürfen: Nur wer Maßstäbe bewahrt, kann Menschlichkeit bewahren. Nur wer in der Tagespolitik das Grundsätzliche entdeckt und sichert, kann Politik gestalten, und nur derjenige, der das Loslassen vollziehen kann, behält das Entscheidende.

Sie, die Angehörigen und Freunde, die Sie menschliche und geistige Gemeinsamkeit mit den Männern des 20. Juli gelebt haben, wurden allein gelassen, hatten Einsamkeit und Schmerz zu ertragen und gewinnen aus den Verlassenheiten von damals neue Gemeinsamkeiten heute. Geben Sie aus dieser Gemeinsamkeit Zeichen in unsere Stadt, in unser Land, wie Gemeinsamkeit beschaffen sein sollte. Nicht Gefühlsduselei, sondern Liebesstärke, nicht Gruppendruck, der Individualität einschränkt und Gleichförmigkeit produziert, sondern ein Bündnis der Verschiedenen, die sich in Grundhaltungen verbunden wissen.

Das schließt Meinungsverschiedenheiten ein und nicht aus! Berlin ist die Stadt, die Zeugnis geben kann und soll von der Verbundenheit der Unterschiedlichen, dem Recht auf Gegensätze, die man nicht nur erträgt, sondern sogar mag. Das eben ist das Zeichen der Freiheit, der die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes gedient haben. In Berlin gibt es, wie Sie wissen, eine besondere Verpflichtung, des Widerstandes zu gedenken. Die deutsche Hauptstadt war Zentrale des ‚Terrors’ und des Widerstandes, Berlin ist heute die Nahtstelle, an der die Bedrohung der Freiheit hautnah zu spüren ist.

Hier in Berlin wird man schneller als anderswo gewahr, dass Freiheit und Recht keine Selbstverständlichkeiten sind, dass sich Widerspruch, Kritik in einer freiheitlichen Gesellschaft existentiell vom Widerstand in Diktaturen und totalitären Systemen unterscheiden. So sind Ihr Besuch unserer Stadt, Ihr Treffen mehr als eine Gedenkveranstaltung, sie sind Zeugnis für Freiheit, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit, sie geben aus der Vergangenheit Kraft für die Zukunft. Wir danken Ihnen und heißen Sie aus bewegtem Herzen willkommen.