Berlin, die Hauptstadt des deutschen Widerstandes

Willy Brandt

Berlin, die Hauptstadt des deutschen Widerstandes

Tischrede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Willy Brandt am 20. Juli 1958 im Haus der Kaufleute, Berlin

Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine lieben Freunde,

ich möchte Ihnen zunächst einmal dafür danken, dass ich heute unter Ihnen sein darf und dass Sie wiederum in so großer Zahl zu uns nach Berlin gekommen sind. Mein ganz besonderer Gruß gilt der „zweiten Generation“, deren Vertreter ich gestern Abend etwas wehmütig in dem Bewusstsein betrachtet habe, der ersten Jugend entwachsen zu sein. Lassen Sie mich unseren jungen Freunden sagen: Viele von Ihnen haben es schwer gehabt in den hinter Ihnen liegenden Jahren, aber ich kann nur wünschen, dass möglichst viel von der Haltung dieser „zweiten Generation“ ausstrahlen möchte auf die Altersschicht unseres Volkes, in die sie eingebettet ist.

Berlin ist und bleibt nicht nur die eigentliche Hauptstadt Deutschlands. Berlin war auch, ist und bleibt die Hauptstadt des deutschen Widerstandes. Hier konzentrierte sich das Geschehen, zu dessen Gedenken wir uns heute zusammengefunden haben und weiterhin zusammenfinden wollen. Berlin würde etwas Wesentliches fehlen, wenn es nicht die Stätte der lebendigen Erinnerung an den 20. Juli und an den Widerstand gegen die braune Okkupation bliebe, und wenn Sie sich nicht Jahr für Jahr mit uns zusammenfänden. Berlin hat sich bemüht, den Geist des 20. Juli wach zu halten und aus den gleichen Kraftquellen zu schöpfen, als es sich darum handelte, der neuen Herausforderung zu begegnen und ihr gegenüber unseren Anspruch auf ein würdiges und freiheitliches Leben zu verfechten.

Gestatten Sie mir zwei Bemerkungen zu Fragen, von denen die eine durch Henk, die andere im Gespräch aufgeworfen worden ist: Um mit der letzteren Frage anzufangen, möchte ich Ihnen zusagen, dass auch der Senat von Berlin in einer nächsten Sitzung damit befasst sein wird, wie die Umgebung der Gedenkstätte in Plötzensee in einen würdigeren Zustand versetzt werden kann. Hier haben wir etwas versäumt, aber ich muss mich damit entschuldigen, dass man in einer Millionenstadt seine Augen nicht überall haben kann. Hier ist etwas nicht in Ordnung, und wir werden es in Ordnung bringen.

Zum anderen ist mit Recht bemängelt worden, dass bisher viel zu wenig geschieht, um unserer Jugend ein richtiges Bild des deutschen Widerstandes und des 20. Juli zu vermitteln. Aber es ist auch hinzugefügt worden, dass Berlin auf diesem Gebiet bereits einiges geleistet hat. Der Herr Senator für Volksbildung wird sicher gern bereit sein, diese Frage im Kreise der Kultusminister der Länder zur Sprache zu bringen, und ich bin sicher, dass wir hierbei auch auf die Unterstützung des Bundesinnenministeriums rechnen können.

Wir stehen alle unter dem Eindruck der Gedenkfeiern von gestern Abend und heute Vormittag. Und ich glaube, dass ich in Ihrer aller Namen sprechen darf, wenn ich sage: Das Bedeutendste an diesem 19. und 20. Juli 1958 in Berlin war, dass wir nicht einfach noch einmal beisammen waren und dass nicht alte Manuskripte verlesen wurden, sondern dass in den Reden gestern und heute wesentlich Neues ausgesagt wurde. Darum dürfen wir auch die Hoffnung haben, dass von diesen Reden und diesen Veranstaltungen aus etwas bewegt werden kann in unserem Volk.

Als ich gestern Mittag nach Berlin zurückkam, fand ich ein Telegramm des General Speidel vor, in dem er uns seine Verbundenheit versicherte. Vorhin, am Schluss der Feierlichkeit in der Bendlerstraße, war ich stark beeindruckt von den Worten, die der Graf Schwerin sprach – Worte, deren nicht nur menschliche, sondern vor allem auch staatspolitische Bedeutung wir nicht unterschätzen sollten. Unter den heute Morgen niedergelegten Kränzen war einer der Bundeswehr. Der Senat von Berlin hatte in Übereinstimmung mit dem Bundesverteidigungsminister gehofft, dass ein solcher Kranz diesmal von Offizieren der Bundeswehr in Uniform niedergelegt werden könnte. Davon hat man Abstand genommen, weil auch in alliierten Kreisen Bedenken laut wurden, die sich auf den besonderen Status dieser Stadt beziehen. Es wäre nicht fair, wenn ich jetzt gegen diese Auffassung und Entscheidung, die ich mir nicht zu eigen mache, polemisieren wollte, aber über dieses Thema wird an anderer Stelle noch in aller Ruhe zu sprechen sein.

Lassen Sie mich schließen, indem ich Sie in einer gefahrvollen und uns gewiss nicht holden weltpolitischen Lage an die Überzeugung erinnere, die uns der große Bürgermeister dieser Stadt, Ernst Reuter, hinterlassen hat, eine Überzeugung, die so recht das Wesen des deutschen Widerstandes kennzeichnet: dass es nicht die machtpolitischen Gegebenheiten des Augenblicks sind, die über die Zukunft eines Volkes und der Völkergemeinschaft entscheiden, sondern dass – gerade an den Schnittpunkten der geschichtlichen Entwicklung – die eigentliche Kraft ausgeht von den moralischen Kräften und den geistigen Kräften. Das werden wir hier in der Hauptstadt Berlin niemals vergessen.

Und lassen Sie mich Ihnen sagen, dass Sie uns in Berlin immer herzlich willkommen sind und dass Sie das Ihnen zustehende geistige Heimatrecht in Anspruch nehmen dürfen in Berlin als der Hauptstadt des deutschen Widerstandes.