Das Bekenntnis zum Recht
Werner Knopp
Das Bekenntnis zum Recht
Gedenkrede des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Professor Dr. Werner Knopp am 20. Juli 1979 auf dem Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin
Wir gedenken heute der Männer und Frauen, die als Teilnehmer am Attentat und Staatsstreichversuch des 20. Juli 1944 ihr Leben einsetzten. Die 35 Jahre, die seitdem vergangen sind, sind eine lange Zeit, nach der gebräuchlichen Formel mehr als ein Menschenalter. Die politische Landschaft in Europa, besonders aber in unserem Land, und das Bewusstsein der hier lebenden Menschen haben sich in diesem Menschenalter tief greifender verändert, als das die meisten der Verschwörer voraussahen oder auch nur ahnten. Vieles von dem, was sie bewegte, was sie sich vorstellten und unter sich diskutierten, klingt vor allem für die Jugend einer zugleich verwöhnten und abgebrühten Gesellschaft wie aus einer anderen, sehr fernen Welt. Vom Kreis der Überlebenden und Angehörigen abgesehen also ein offizielles Gedenken nur, das der freie deutsche Staat, der als Antwort auf die Katastrophe des Nationalsozialismus entstand, wie gegenüber fernen Verwandten pflichtgemäß absolviert?
Die Frage ist nicht nur rhetorisch gestellt, aber dennoch mit einem klaren Nein zu beantworten. Die Vorgänge um den 20. Juli 1944 gehören zu den historischen Ereignissen, die von Anfang an zu klaren Stellungnahmen und damit über das Gedenken hinaus zum Nachdenken über Grundfragen gezwungen haben, über Grundfragen, vor die sich Bürger und Staat durch die Jahrhunderte immer wieder gestellt gesehen haben und sehen werden. Das ist nicht nur die Frage nach den Grenzen des von Bürgern und Soldaten geschuldeten Gehorsams, wenn die Staatsführung den Staat ins Verderben lenkt oder ihn gar mit Verbrechen unerhörten Ausmaßes belastet. Denn diese Frage lässt sich nur entscheiden, wenn man sich auf die Grundwerte seiner Existenz als Mensch und als Bürger eines Gemeinwesens und auf die Rangordnung dieser Werte besinnt, so wie es in jenen Tagen alle Deutschen tun mussten, an die die Frage der Teilnahme an der Aktion herantrat.
Wir wissen, wie verschieden die Antworten damals ausgefallen sind, und wie klein letztlich der Kreis der aktiv Teilnehmenden war. Ich erinnere mich auch selbst, wie verschieden ihr Handeln zu ihrer Zeit in ihrem Volk beurteilt wurde.
Diese polarisierende Wirkung des 20. Juli 1944 hat lange angehalten, zumal die Diskussion zunächst naturgemäß von der in das Verhängnis des Dritten Reiches verstrickten Generation geführt wurde. Ich glaube, dass sich diese kontroverse Beurteilung allmählich, aber nachhaltig geändert hat. Der gewachsene Abstand, das Nachrücken neuer Generationen, die Gewöhnung an das Denken in demokratisch-rechtsstaatlichen Kategorien, die endlich aufgenommene Konfrontation mit den vollen Dimensionen der vom Nationalsozialismus im Namen des deutschen Volkes begangenen Verbrechen haben nicht nur die Ehrlichkeit des Wollens der Verschwörer, sondern auch die objektive Berechtigung, ja Notwendigkeit ihres Tuns bei der großen Mehrheit unseres Volkes Anerkennung finden lassen. Parallel dazu hat sich aber auch eine ihrer Leistungen würdige, gerechte Beurteilung des Verhaltens der Masse unserer Soldaten durchgesetzt, die sich an ihren Eid gebunden fühlten.
Vor allem bei Jüngeren steht die moralische Berechtigung der Aktion des 20. Juli inzwischen so außer Zweifel, dass sie aus fern von Notlagen gewachsenem moralischen Rigorismus und unter Ignorierung der Denkgewohnheiten früherer Generationen und der Bedingungen eines totalitären Staates wiederum zur Kritik gelangen. Nur hat diese die umgekehrte Stoßrichtung wie die eines Teiles der Kriegsgeneration: Zu spät, heißt es, nicht bei allen aus nur ethischen Motiven, zu ineffizient, zu rückwärtsgewandt und ohne zukunftsweisende Programme. So sehr diese wechselnden und gegensätzlichen Bewertungen mit dazu beitragen, die Tat des 20. Juli 1944 in unserem sonst eher geschichtsfaulen Volke lebendig zu erhalten, so notwendig machen sie es, nie den entscheidenden Punkt aus dem Auge zu verlieren, um dessentwillen nicht nur unser heutiger Staat, sondern die ganze deutsche Nation Anlass hat, der Männer und Frauen des 20. Juli 1944 mit Respekt und Dankbarkeit zu gedenken: Vor aller Welt und für die deutsche Geschichte ein unauslöschliches Zeichen dafür gesetzt zu haben, dass es hinter dem auf Unterjochung und Vernichtung von Völkern angelegten Kriegsreich Hitlers ein anderes Deutschland gab, das den Ausbruch in die Barbarei nicht länger ertragen und dieses Land in die jahrhundertelang gewachsene Wert- und Regelordnung Europas zurückholen wollte. Dieses Zeichen konnte nicht durch noch so viele Fälle individuellen Widerstands gesetzt werden, die das Regime nicht einmal am Rande gefährdeten, sondern nur durch eine sichtbare Aktion, die auf das Zentrum des Machtapparates der Diktatur zielte. Nur Taten dieses Ranges, nicht Einzelaktionen und nicht Diskussionen oder Entwürfe graben sich in das Bewusstsein der Nation und in die Geschichte ein und werden von ihr gewogen, zumal als Gegengewicht gegen eine Untaten begehende Gewaltherrschaft, und nur eine solche Tat wiegt schwer genug, damit auch kommende Generationen, die von den Verstrickungen der Kriegsgeneration nichts mehr wissen, das deutsche Volk über die dunkle Zeit des Gewaltstaats hinweg als ihr Volk wiedererkennen und anerkennen.
Wir schulden den Männern und Frauen des 20. Juli 1944 indessen mehr als das Bekenntnis zu dieser Bedeutung ihrer Tat. Das deutsche Volk hat, da es nach dem Scheitern des Staatsstreiches den Weg in die Katastrophe bis zu Ende gehen musste, bitter und teuer dafür bezahlt, dass es sich vom Nationalsozialismus in Gewaltherrschaft und Krieg reißen ließ und seinen Namen für scheußliche Verbrechen hergeben musste: Viele Millionen Deutsche verloren ihr Leben, noch mehr ihre Heimat – jahrhundertealte und geliebte Provinzen, auf dem verbleibenden Gebiet wurde der so mühsam errungene deutsche Nationalstaat und seine Hauptstadt zerrissen. Erfolg, Wohlstand und Ansehen der Bundesrepublik Deutschland haben die ganze Höhe des damit gezahlten Preises jedenfalls in unserer Republik im Bewusstsein vieler verdrängt. Verdrängt haben sie auch einen anderen Preis, den die Deutschen für Hitler gezahlt haben; die durch ihn bewirkte Diskreditierung von Grundwerten und Grundhaltungen, ohne die ein Staat, zumal der besonders fragile und gefährdete demokratische Verfassungsstaat, auf die Dauer nicht bestehen kann.
Auf solche Grundwerte und daraus erwachsende Grundhaltungen muss man aber zu sprechen kommen, wenn man vom 20. Juli 1944 spricht. Für viele der damals Beteiligten war das Sich-klar-Werden darüber Gegenstand intensiver Reflexionen und Diskussionen, für alle eigentlich lassen sich bis heute gültige Grundhaltungen als entscheidender Handlungsantrieb ausmachen. Ich greife zwei heraus, die mich nach Beruf und Amt immer besonders berührt haben.
Einmal das Bekenntnis zum Recht als der Grundlage des Staates und daraus folgend über die Schändung des Rechts durch die Nationalsozialisten. In der Potsdamer Erklärung vom März 1933 hatte Hitler mit der ihm eigenen Offenheit bei der Aufdeckung seiner Ziele die Bindung an Gesetz und Recht durch leere Ermächtigungsfloskeln wie Macht oder wie Entfaltung der völkischen Kraft ersetzt. In allen Verfassungs- und Proklamationsentwürfen der Verschwörer dagegen findet sich mit hohem Rang und tiefem Nachdruck die Forderung nach Wiederherstellung des Rechts. Hinzugefügt wird oft: und des Anstands oder: und der Gerechtigkeit. Dahinter steht die furchtbare Erfahrung des Unrechtsstaates. Denn Hitler hatte mit seiner Missachtung des Rechts ernst gemacht und nicht nur die klassischen Elemente des Rechtstaates beseitigt wie die Teilung der Gewalten und die Unabhängigkeit der nur an Gesetz und Recht gebundenen Gerichte, nicht nur ein vom Recht gelöstes Terror-Reich von SS, Sicherheitsdienst und Gestapo mit gesetzlosen Kerker- und Vernichtungssystemen entstehen lassen, sondern auf vielen Gebieten auch die formell fortbestehende Rechtsordnung von innen her pervertiert. Das Erbe von Jahrhunderten europäischer und deutscher Rechtstradition, die allmählich und schon unter der Monarchie ein hohes Maß an Rechtsstaatlichkeit entwickelt hatte, war damit verleugnet und verhöhnt; kein Wunder, dass vieles, was damals Recht genannt und gutgläubig, feige oder gewissenlos so gehandhabt wurde, uns heute als Unrecht erscheinen muss. Gewiss waren Recht und Justiz auch im Kaiserreich und in der Republik immer wieder kritisiert worden: Formalismus, Volksfremdheit, Klassenjustiz lauteten die Stichworte. Aber jetzt erst, im Dritten Reich, erfuhr man, was man verloren hatte und von wie elementarem Wert es trotz aller Kritikwürdigkeit im Einzelnen gewesen war.
Die Bundesrepublik Deutschland hat das Vermächtnis der Verschwörer erfüllt und den Rechtsstaat wiederhergestellt, sogar mit einer in der deutschen Geschichte und im internationalen Vergleich kaum erreichten Perfektion. Auch in dieser Gestalt finden Recht, Rechtswege und Rechtsprechung vielfach Kritik. Zu den alten Stichworten sind neue hinzugekommen. Die auf gesellschaftliche Veränderung drängenden Teile der jüngeren Generation betrachten Recht und Rechtsprechung, die als Bremsklötze verstanden werden, vielfach misstrauisch, Regierung und Verwaltung fühlen sich durch die weitgehende Zuständigkeit und Entscheidungsfreudigkeit der Gerichte gelegentlich im elementaren Entscheidungsbereich beschnitten oder gelähmt, Regelungsperfektionismus und Sozialingenieurtum verschleißen in vieler Augen die Autorität des Gesetzes. Mögen wir über der ehrlichen Auseinandersetzung mit allen diesen Problemen nie vergessen, dass die entscheidenden formellen und materiellen Elemente der Rechtsstaatlichkeit in unserem Staate gesichert sind, dass wir Gesetz und Recht verpflichtet sind, von ihnen aber auch geschützt werden, in unseren Menschenrechten und in einer Fülle anderer Rechte von früher nie gekanntem Ausmaß. In dieser Hinsicht hat die Reaktion auf Hitler unseren Staat wieder auf einen Grundwert gegründet, der auch für die Verschwörer entscheidender Antrieb ihres Handelns war: die Herrschaft des Rechts, und wir haben Grund diese Errungenschaft gegen jede Gefährdung zu verteidigen. Dass das öffentliche Bewusstsein für diese Notwendigkeit geschärft ist, zeigten Ernst und Argumentationshöhe der beiden großen Parlamentsdebatten um die Frage der Verjährung von Verbrechen aus der Zeit der Gewaltherrschaft. Hier ging es um Grundfragen des Rechtsstaates, die schon viele der Männer des 20. Juli 1944 bewegt haben, vor allem um das Verhältnis allgemeiner rechtstaatlicher Grundsätze zu der schon von den Verschwörern immer wieder beschworenen Notwendigkeit unnachsichtiger Verfolgung der NS-Verbrecher durch die Deutschen selbst.
Eine andere Grundhaltung, die für viele Verschwörer entscheidender Antrieb ihres Handelns war, ist in ihrer heutigen Bedeutung ungleich schwerer zu erfassen als das Bekenntnis zum Recht. Denn Hitler hatte diese in Deutschland verbreitete und durch viele Opfer besiegelte Haltung zur Erhaltung der Loyalität von Millionen Gutgläubiger schamlos missbraucht und sie dadurch diskreditiert, so dass sie in der Reaktion auf Hitler jedenfalls in der Bundesrepublik fast tabuisiert wurde. Ich spreche vom Patriotismus, von der tätigen Liebe zum Land, oder, sagen wir es ruhig, zum Vaterland.
In einer Hinsicht hatten es die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 dabei leichter als wir:
Vaterland war für sie das noch unzerrissene Deutschland, oder – wie sie es alle, von rechts bis links ganz selbstverständlich nannten – das Reich. Um seine Zukunft ging es ihnen, und soweit Pläne für die Gestaltung dieser Zukunft bestanden und wir diese kennen, fällt zweierlei auf:
Zum einen fehlt jedes Anknüpfen an Weimar, etwa im Sinne einer Wiederherstellung der nach 1933 verlorengegangenen Legalität auf dem Boden der ja nie aufgehobenen Weimarer Reichsverfassung. Die Weimarer Republik war eben in den Augen der Männer des 20. Juli 1944 nicht nur gescheitert, ihre tragenden Kräfte hatten auch viel stärker versagt, als wir uns das zu denken angewöhnt haben.
Zum anderen fehlt in den Überlegungen der Verschwörer jede Zukunftsrolle für Preußen, formal ja noch immer bestehend als größtes Land des Reiches. Angesichts der preußischen Herkunft und Erziehung vieler Beteiligter – Karl Friedrich Goerdeler schreibt ausdrücklich: „Ich bekenne mich als Preuße“ – zeigt das, wie sehr Preußen in Deutschland aufgegangen war. Trotzdem ist die starke Beteiligung großer preußischer Namen nicht einfach Zufall oder auch nur Folge der Überpräsentiertheit ehemaliger preußischer Führungsschichten in Heer und Verwaltung des Reiches. Sie ist auch Folge des Umstandes, dass Preußen, das Land des Dienstes und des Gehorsams, durch Jahrhunderte besonders deutlich auch die Grenzen des Gehorsams und den Vorrang der Verantwortung gegenüber dem Land vor der gegenüber dem König entwickelt hatte. Yorck hatte 1812 das berühmte Beispiel für die Anwendung dieser Grundsätze geliefert, und Theodor Fontane, der Dichter Preußens, hatte in seinem Roman „Vor dem Sturm“ die Lehren daraus in die seherischen Worte gefasst: „Es ist ein schnödes Unterfangen, das Wohl und Wehe von Millionen an die Laune, vielleicht an den Wahnsinn eines Einzelnen knüpfen zu wollen“ – der König ist nur um des Landes willen da, und höher als die beschworene Treue zu ihm steht die natürliche Liebe zum Land. Es war dieser Geist, der viele Männer des 20. Juli 1944 zur Tat trieb, und preußischer Geist der großen Reformzeit beeinflusste über Gneisenaus Denkschrift zur Volkserhebung auch den süddeutschen Stauffenberg. Insofern kann man sagen, dass Preußen, das für Deutschland neben manchem Verhängnisvollen große und dauernde Leistungen erbracht hat, als wichtige Quelle für die geistigen Grundlagen der Aktion vom 20. Juli 1944 und durch den Opfergang vieler seiner großen Namen von der Bühne der deutschen Geschichte in Ehren abtrat.
Noch ein anderes berührt mich, wenn ich über den Patriotismus der Männer des 20. Juli 1944 nachdenke. Zwar war Gegenstand ihres Patriotismus das noch ungeteilte Deutsche Reich, aber sie mussten doch die Realität des Hitlerschen Kriegsreiches hinweg –, ein anderes Deutschland an seine Stelle denken und in die Zukunft projizieren. Wieder einmal zeigte sich, dass es den Deutschen mit ihrer Liebe zum Vaterland seit langem nicht mehr leicht gemacht wird. Viele gerade unserer besten Köpfe haben daher auch immer ein kritisches, schwieriges Verhältnis zu ihrem eigenen Land und Volk gehabt. Helmut Jammer von Moltke schrieb noch im Angesicht des Todes die gerade im Zeitalter des Terrorismus auch uns Bürger eines gewandelten Deutschland wieder erschreckenden Worte: „Ich habe mein ganzes Leben lang... gegen einen Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt...“. Aber viele dieser kritischen Deutschen haben ebenso wie unzählige andere nicht nur die ihnen nahe stehenden Menschen, sondern auch ihr Land geliebt und aus dieser Haltung heraus Opfer für dieses Land gebracht, und gerade zwei der kritischsten Deutschen haben die für mich am meisten anrührenden Verse über das Verhältnis von uns Deutschen zu unserem Land geschrieben.
Für uns Bürger der Bundesrepublik Deutschland scheint das Bekenntnis zum Patriotismus nicht leichter geworden zu sein. Auch das Beispiel der Männer des 20. Juli 1944 hat es bisher nicht vermocht, den schon früher überstrapazierten, durch Hitler dann ungeheuerlich missbrauchten Begriff durchgreifend zu rehabilitieren und damit wieder zu einer gerechten Würdigung aller für Deutschland gebrachten Opfer und zugleich zu einer allgemeinen Verhaltensrichtschnur für die Zukunft zu kommen. Dies ist tief zu bedauern. Denn unser Staat bedarf der über gleichsam geschäftsmäßige Beziehungen hinausgehenden Zuneigung und Einsatzbereitschaft seiner Bürger nicht nur, er verdient sie als freiester und rechtlichster Staat, den es auf deutschem Boden gegeben hat und gibt, auch in besonderem Maße. Aber nicht nur wirkt das durch Hitler verschuldete Tabu fort, die Abneigung gegen jede gefühlsmäßige Bindung an den Staat wird bei der jungen Generation auch durch Schule und Publizistik vielfach genährt, so als solle das Kritikdefizit der Väter gegenüber dem Hitlerreich jetzt durch ein Kritikübersoll der Söhne gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat kompensiert werden. Auch und gerade dieser Staat wird sich auf die Dauer nur behaupten können, wenn seine Bürger in ihm mehr sehen als einen Entwicklungsrahmen für soziale Veränderungen und eine Adresse für Schutz und Versorgungsansprüche, wenn sie mit anderen Worten in ihm wieder so ungezwungen und fern von Hybris ihr Vaterland sehen, wie das ihre Nachbarn in anderen Ländern auch tun.
Eines deutschen Patriotismus bedarf es aber auch in anderer Hinsicht. Die Aktion des 20. Juli 1944 war, wenn ich recht sehe, in der bisherigen Geschichte die letzte politische Aktion von Gewicht und Perspektive, die einer Zukunftsgestaltung für ganz Deutschland galt und von Deutschen aus allen Teilen des Landes gemeinschaftlich getragen und zu entscheidenden Teilen in der deutschen Hauptstadt Berlin durchgeführt wurde. Auch so gesehen ist sie ein politisches Vermächtnis für alle Deutschen. Dass sie den endgültigen Abschied der Deutschen als geschlossen handelnder Nation von der geschichtlichen Bühne darstellen sollte, wollen und können wir nicht glauben. So wie die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 das andere Deutschland im Auge hatten, für das sie sich einsetzten und dem ihre Hoffnung galt, so müssen wir uns zwar im Interesse des Friedens auf die gegenwärtige Teilung Deutschlands einstellen und mit ihr leben, aber über unsere Bundesrepublik hinaus stets auch das ganze Deutschland sehen, das eines Tages in Frieden wieder vereinigt zu sehen unsere Hoffnung ist.
Von solchen Gedanken bewegt, gedenke ich mit Ihnen derer, die am 20. Juli 1944 ihr Leben für unser Land einsetzten. „Er soll sich zum Opfer bringen können“, sagt Fontane im Hinblick auf die Situation jedes Einzelnen von ihnen, „sich, Leben, Ehre. Geschieht es im rechten Geiste, so wird er die Ehre, die er einsetzt, doppelt wiedergewinnen.“ Das Opfer geschah im rechten Geiste und darum erweisen auch wir den Gebliebenen heute an dieser Stelle die Ehre, welche die deutsche Nation ihnen schuldet.
Das Bekenntnis zum Recht
Gedenkrede des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Professor Dr. Werner Knopp am 20. Juli 1979 auf dem Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin
Wir gedenken heute der Männer und Frauen, die als Teilnehmer am Attentat und Staatsstreichversuch des 20. Juli 1944 ihr Leben einsetzten. Die 35 Jahre, die seitdem vergangen sind, sind eine lange Zeit, nach der gebräuchlichen Formel mehr als ein Menschenalter. Die politische Landschaft in Europa, besonders aber in unserem Land, und das Bewusstsein der hier lebenden Menschen haben sich in diesem Menschenalter tief greifender verändert, als das die meisten der Verschwörer voraussahen oder auch nur ahnten. Vieles von dem, was sie bewegte, was sie sich vorstellten und unter sich diskutierten, klingt vor allem für die Jugend einer zugleich verwöhnten und abgebrühten Gesellschaft wie aus einer anderen, sehr fernen Welt. Vom Kreis der Überlebenden und Angehörigen abgesehen also ein offizielles Gedenken nur, das der freie deutsche Staat, der als Antwort auf die Katastrophe des Nationalsozialismus entstand, wie gegenüber fernen Verwandten pflichtgemäß absolviert?
Die Frage ist nicht nur rhetorisch gestellt, aber dennoch mit einem klaren Nein zu beantworten. Die Vorgänge um den 20. Juli 1944 gehören zu den historischen Ereignissen, die von Anfang an zu klaren Stellungnahmen und damit über das Gedenken hinaus zum Nachdenken über Grundfragen gezwungen haben, über Grundfragen, vor die sich Bürger und Staat durch die Jahrhunderte immer wieder gestellt gesehen haben und sehen werden. Das ist nicht nur die Frage nach den Grenzen des von Bürgern und Soldaten geschuldeten Gehorsams, wenn die Staatsführung den Staat ins Verderben lenkt oder ihn gar mit Verbrechen unerhörten Ausmaßes belastet. Denn diese Frage lässt sich nur entscheiden, wenn man sich auf die Grundwerte seiner Existenz als Mensch und als Bürger eines Gemeinwesens und auf die Rangordnung dieser Werte besinnt, so wie es in jenen Tagen alle Deutschen tun mussten, an die die Frage der Teilnahme an der Aktion herantrat.
Wir wissen, wie verschieden die Antworten damals ausgefallen sind, und wie klein letztlich der Kreis der aktiv Teilnehmenden war. Ich erinnere mich auch selbst, wie verschieden ihr Handeln zu ihrer Zeit in ihrem Volk beurteilt wurde.
Diese polarisierende Wirkung des 20. Juli 1944 hat lange angehalten, zumal die Diskussion zunächst naturgemäß von der in das Verhängnis des Dritten Reiches verstrickten Generation geführt wurde. Ich glaube, dass sich diese kontroverse Beurteilung allmählich, aber nachhaltig geändert hat. Der gewachsene Abstand, das Nachrücken neuer Generationen, die Gewöhnung an das Denken in demokratisch-rechtsstaatlichen Kategorien, die endlich aufgenommene Konfrontation mit den vollen Dimensionen der vom Nationalsozialismus im Namen des deutschen Volkes begangenen Verbrechen haben nicht nur die Ehrlichkeit des Wollens der Verschwörer, sondern auch die objektive Berechtigung, ja Notwendigkeit ihres Tuns bei der großen Mehrheit unseres Volkes Anerkennung finden lassen. Parallel dazu hat sich aber auch eine ihrer Leistungen würdige, gerechte Beurteilung des Verhaltens der Masse unserer Soldaten durchgesetzt, die sich an ihren Eid gebunden fühlten.
Vor allem bei Jüngeren steht die moralische Berechtigung der Aktion des 20. Juli inzwischen so außer Zweifel, dass sie aus fern von Notlagen gewachsenem moralischen Rigorismus und unter Ignorierung der Denkgewohnheiten früherer Generationen und der Bedingungen eines totalitären Staates wiederum zur Kritik gelangen. Nur hat diese die umgekehrte Stoßrichtung wie die eines Teiles der Kriegsgeneration: Zu spät, heißt es, nicht bei allen aus nur ethischen Motiven, zu ineffizient, zu rückwärtsgewandt und ohne zukunftsweisende Programme. So sehr diese wechselnden und gegensätzlichen Bewertungen mit dazu beitragen, die Tat des 20. Juli 1944 in unserem sonst eher geschichtsfaulen Volke lebendig zu erhalten, so notwendig machen sie es, nie den entscheidenden Punkt aus dem Auge zu verlieren, um dessentwillen nicht nur unser heutiger Staat, sondern die ganze deutsche Nation Anlass hat, der Männer und Frauen des 20. Juli 1944 mit Respekt und Dankbarkeit zu gedenken: Vor aller Welt und für die deutsche Geschichte ein unauslöschliches Zeichen dafür gesetzt zu haben, dass es hinter dem auf Unterjochung und Vernichtung von Völkern angelegten Kriegsreich Hitlers ein anderes Deutschland gab, das den Ausbruch in die Barbarei nicht länger ertragen und dieses Land in die jahrhundertelang gewachsene Wert- und Regelordnung Europas zurückholen wollte. Dieses Zeichen konnte nicht durch noch so viele Fälle individuellen Widerstands gesetzt werden, die das Regime nicht einmal am Rande gefährdeten, sondern nur durch eine sichtbare Aktion, die auf das Zentrum des Machtapparates der Diktatur zielte. Nur Taten dieses Ranges, nicht Einzelaktionen und nicht Diskussionen oder Entwürfe graben sich in das Bewusstsein der Nation und in die Geschichte ein und werden von ihr gewogen, zumal als Gegengewicht gegen eine Untaten begehende Gewaltherrschaft, und nur eine solche Tat wiegt schwer genug, damit auch kommende Generationen, die von den Verstrickungen der Kriegsgeneration nichts mehr wissen, das deutsche Volk über die dunkle Zeit des Gewaltstaats hinweg als ihr Volk wiedererkennen und anerkennen.
Wir schulden den Männern und Frauen des 20. Juli 1944 indessen mehr als das Bekenntnis zu dieser Bedeutung ihrer Tat. Das deutsche Volk hat, da es nach dem Scheitern des Staatsstreiches den Weg in die Katastrophe bis zu Ende gehen musste, bitter und teuer dafür bezahlt, dass es sich vom Nationalsozialismus in Gewaltherrschaft und Krieg reißen ließ und seinen Namen für scheußliche Verbrechen hergeben musste: Viele Millionen Deutsche verloren ihr Leben, noch mehr ihre Heimat – jahrhundertealte und geliebte Provinzen, auf dem verbleibenden Gebiet wurde der so mühsam errungene deutsche Nationalstaat und seine Hauptstadt zerrissen. Erfolg, Wohlstand und Ansehen der Bundesrepublik Deutschland haben die ganze Höhe des damit gezahlten Preises jedenfalls in unserer Republik im Bewusstsein vieler verdrängt. Verdrängt haben sie auch einen anderen Preis, den die Deutschen für Hitler gezahlt haben; die durch ihn bewirkte Diskreditierung von Grundwerten und Grundhaltungen, ohne die ein Staat, zumal der besonders fragile und gefährdete demokratische Verfassungsstaat, auf die Dauer nicht bestehen kann.
Auf solche Grundwerte und daraus erwachsende Grundhaltungen muss man aber zu sprechen kommen, wenn man vom 20. Juli 1944 spricht. Für viele der damals Beteiligten war das Sich-klar-Werden darüber Gegenstand intensiver Reflexionen und Diskussionen, für alle eigentlich lassen sich bis heute gültige Grundhaltungen als entscheidender Handlungsantrieb ausmachen. Ich greife zwei heraus, die mich nach Beruf und Amt immer besonders berührt haben.
Einmal das Bekenntnis zum Recht als der Grundlage des Staates und daraus folgend über die Schändung des Rechts durch die Nationalsozialisten. In der Potsdamer Erklärung vom März 1933 hatte Hitler mit der ihm eigenen Offenheit bei der Aufdeckung seiner Ziele die Bindung an Gesetz und Recht durch leere Ermächtigungsfloskeln wie Macht oder wie Entfaltung der völkischen Kraft ersetzt. In allen Verfassungs- und Proklamationsentwürfen der Verschwörer dagegen findet sich mit hohem Rang und tiefem Nachdruck die Forderung nach Wiederherstellung des Rechts. Hinzugefügt wird oft: und des Anstands oder: und der Gerechtigkeit. Dahinter steht die furchtbare Erfahrung des Unrechtsstaates. Denn Hitler hatte mit seiner Missachtung des Rechts ernst gemacht und nicht nur die klassischen Elemente des Rechtstaates beseitigt wie die Teilung der Gewalten und die Unabhängigkeit der nur an Gesetz und Recht gebundenen Gerichte, nicht nur ein vom Recht gelöstes Terror-Reich von SS, Sicherheitsdienst und Gestapo mit gesetzlosen Kerker- und Vernichtungssystemen entstehen lassen, sondern auf vielen Gebieten auch die formell fortbestehende Rechtsordnung von innen her pervertiert. Das Erbe von Jahrhunderten europäischer und deutscher Rechtstradition, die allmählich und schon unter der Monarchie ein hohes Maß an Rechtsstaatlichkeit entwickelt hatte, war damit verleugnet und verhöhnt; kein Wunder, dass vieles, was damals Recht genannt und gutgläubig, feige oder gewissenlos so gehandhabt wurde, uns heute als Unrecht erscheinen muss. Gewiss waren Recht und Justiz auch im Kaiserreich und in der Republik immer wieder kritisiert worden: Formalismus, Volksfremdheit, Klassenjustiz lauteten die Stichworte. Aber jetzt erst, im Dritten Reich, erfuhr man, was man verloren hatte und von wie elementarem Wert es trotz aller Kritikwürdigkeit im Einzelnen gewesen war.
Die Bundesrepublik Deutschland hat das Vermächtnis der Verschwörer erfüllt und den Rechtsstaat wiederhergestellt, sogar mit einer in der deutschen Geschichte und im internationalen Vergleich kaum erreichten Perfektion. Auch in dieser Gestalt finden Recht, Rechtswege und Rechtsprechung vielfach Kritik. Zu den alten Stichworten sind neue hinzugekommen. Die auf gesellschaftliche Veränderung drängenden Teile der jüngeren Generation betrachten Recht und Rechtsprechung, die als Bremsklötze verstanden werden, vielfach misstrauisch, Regierung und Verwaltung fühlen sich durch die weitgehende Zuständigkeit und Entscheidungsfreudigkeit der Gerichte gelegentlich im elementaren Entscheidungsbereich beschnitten oder gelähmt, Regelungsperfektionismus und Sozialingenieurtum verschleißen in vieler Augen die Autorität des Gesetzes. Mögen wir über der ehrlichen Auseinandersetzung mit allen diesen Problemen nie vergessen, dass die entscheidenden formellen und materiellen Elemente der Rechtsstaatlichkeit in unserem Staate gesichert sind, dass wir Gesetz und Recht verpflichtet sind, von ihnen aber auch geschützt werden, in unseren Menschenrechten und in einer Fülle anderer Rechte von früher nie gekanntem Ausmaß. In dieser Hinsicht hat die Reaktion auf Hitler unseren Staat wieder auf einen Grundwert gegründet, der auch für die Verschwörer entscheidender Antrieb ihres Handelns war: die Herrschaft des Rechts, und wir haben Grund diese Errungenschaft gegen jede Gefährdung zu verteidigen. Dass das öffentliche Bewusstsein für diese Notwendigkeit geschärft ist, zeigten Ernst und Argumentationshöhe der beiden großen Parlamentsdebatten um die Frage der Verjährung von Verbrechen aus der Zeit der Gewaltherrschaft. Hier ging es um Grundfragen des Rechtsstaates, die schon viele der Männer des 20. Juli 1944 bewegt haben, vor allem um das Verhältnis allgemeiner rechtstaatlicher Grundsätze zu der schon von den Verschwörern immer wieder beschworenen Notwendigkeit unnachsichtiger Verfolgung der NS-Verbrecher durch die Deutschen selbst.
Eine andere Grundhaltung, die für viele Verschwörer entscheidender Antrieb ihres Handelns war, ist in ihrer heutigen Bedeutung ungleich schwerer zu erfassen als das Bekenntnis zum Recht. Denn Hitler hatte diese in Deutschland verbreitete und durch viele Opfer besiegelte Haltung zur Erhaltung der Loyalität von Millionen Gutgläubiger schamlos missbraucht und sie dadurch diskreditiert, so dass sie in der Reaktion auf Hitler jedenfalls in der Bundesrepublik fast tabuisiert wurde. Ich spreche vom Patriotismus, von der tätigen Liebe zum Land, oder, sagen wir es ruhig, zum Vaterland.
In einer Hinsicht hatten es die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 dabei leichter als wir:
Vaterland war für sie das noch unzerrissene Deutschland, oder – wie sie es alle, von rechts bis links ganz selbstverständlich nannten – das Reich. Um seine Zukunft ging es ihnen, und soweit Pläne für die Gestaltung dieser Zukunft bestanden und wir diese kennen, fällt zweierlei auf:
Zum einen fehlt jedes Anknüpfen an Weimar, etwa im Sinne einer Wiederherstellung der nach 1933 verlorengegangenen Legalität auf dem Boden der ja nie aufgehobenen Weimarer Reichsverfassung. Die Weimarer Republik war eben in den Augen der Männer des 20. Juli 1944 nicht nur gescheitert, ihre tragenden Kräfte hatten auch viel stärker versagt, als wir uns das zu denken angewöhnt haben.
Zum anderen fehlt in den Überlegungen der Verschwörer jede Zukunftsrolle für Preußen, formal ja noch immer bestehend als größtes Land des Reiches. Angesichts der preußischen Herkunft und Erziehung vieler Beteiligter – Karl Friedrich Goerdeler schreibt ausdrücklich: „Ich bekenne mich als Preuße“ – zeigt das, wie sehr Preußen in Deutschland aufgegangen war. Trotzdem ist die starke Beteiligung großer preußischer Namen nicht einfach Zufall oder auch nur Folge der Überpräsentiertheit ehemaliger preußischer Führungsschichten in Heer und Verwaltung des Reiches. Sie ist auch Folge des Umstandes, dass Preußen, das Land des Dienstes und des Gehorsams, durch Jahrhunderte besonders deutlich auch die Grenzen des Gehorsams und den Vorrang der Verantwortung gegenüber dem Land vor der gegenüber dem König entwickelt hatte. Yorck hatte 1812 das berühmte Beispiel für die Anwendung dieser Grundsätze geliefert, und Theodor Fontane, der Dichter Preußens, hatte in seinem Roman „Vor dem Sturm“ die Lehren daraus in die seherischen Worte gefasst: „Es ist ein schnödes Unterfangen, das Wohl und Wehe von Millionen an die Laune, vielleicht an den Wahnsinn eines Einzelnen knüpfen zu wollen“ – der König ist nur um des Landes willen da, und höher als die beschworene Treue zu ihm steht die natürliche Liebe zum Land. Es war dieser Geist, der viele Männer des 20. Juli 1944 zur Tat trieb, und preußischer Geist der großen Reformzeit beeinflusste über Gneisenaus Denkschrift zur Volkserhebung auch den süddeutschen Stauffenberg. Insofern kann man sagen, dass Preußen, das für Deutschland neben manchem Verhängnisvollen große und dauernde Leistungen erbracht hat, als wichtige Quelle für die geistigen Grundlagen der Aktion vom 20. Juli 1944 und durch den Opfergang vieler seiner großen Namen von der Bühne der deutschen Geschichte in Ehren abtrat.
Noch ein anderes berührt mich, wenn ich über den Patriotismus der Männer des 20. Juli 1944 nachdenke. Zwar war Gegenstand ihres Patriotismus das noch ungeteilte Deutsche Reich, aber sie mussten doch die Realität des Hitlerschen Kriegsreiches hinweg –, ein anderes Deutschland an seine Stelle denken und in die Zukunft projizieren. Wieder einmal zeigte sich, dass es den Deutschen mit ihrer Liebe zum Vaterland seit langem nicht mehr leicht gemacht wird. Viele gerade unserer besten Köpfe haben daher auch immer ein kritisches, schwieriges Verhältnis zu ihrem eigenen Land und Volk gehabt. Helmut Jammer von Moltke schrieb noch im Angesicht des Todes die gerade im Zeitalter des Terrorismus auch uns Bürger eines gewandelten Deutschland wieder erschreckenden Worte: „Ich habe mein ganzes Leben lang... gegen einen Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt...“. Aber viele dieser kritischen Deutschen haben ebenso wie unzählige andere nicht nur die ihnen nahe stehenden Menschen, sondern auch ihr Land geliebt und aus dieser Haltung heraus Opfer für dieses Land gebracht, und gerade zwei der kritischsten Deutschen haben die für mich am meisten anrührenden Verse über das Verhältnis von uns Deutschen zu unserem Land geschrieben.
Für uns Bürger der Bundesrepublik Deutschland scheint das Bekenntnis zum Patriotismus nicht leichter geworden zu sein. Auch das Beispiel der Männer des 20. Juli 1944 hat es bisher nicht vermocht, den schon früher überstrapazierten, durch Hitler dann ungeheuerlich missbrauchten Begriff durchgreifend zu rehabilitieren und damit wieder zu einer gerechten Würdigung aller für Deutschland gebrachten Opfer und zugleich zu einer allgemeinen Verhaltensrichtschnur für die Zukunft zu kommen. Dies ist tief zu bedauern. Denn unser Staat bedarf der über gleichsam geschäftsmäßige Beziehungen hinausgehenden Zuneigung und Einsatzbereitschaft seiner Bürger nicht nur, er verdient sie als freiester und rechtlichster Staat, den es auf deutschem Boden gegeben hat und gibt, auch in besonderem Maße. Aber nicht nur wirkt das durch Hitler verschuldete Tabu fort, die Abneigung gegen jede gefühlsmäßige Bindung an den Staat wird bei der jungen Generation auch durch Schule und Publizistik vielfach genährt, so als solle das Kritikdefizit der Väter gegenüber dem Hitlerreich jetzt durch ein Kritikübersoll der Söhne gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat kompensiert werden. Auch und gerade dieser Staat wird sich auf die Dauer nur behaupten können, wenn seine Bürger in ihm mehr sehen als einen Entwicklungsrahmen für soziale Veränderungen und eine Adresse für Schutz und Versorgungsansprüche, wenn sie mit anderen Worten in ihm wieder so ungezwungen und fern von Hybris ihr Vaterland sehen, wie das ihre Nachbarn in anderen Ländern auch tun.
Eines deutschen Patriotismus bedarf es aber auch in anderer Hinsicht. Die Aktion des 20. Juli 1944 war, wenn ich recht sehe, in der bisherigen Geschichte die letzte politische Aktion von Gewicht und Perspektive, die einer Zukunftsgestaltung für ganz Deutschland galt und von Deutschen aus allen Teilen des Landes gemeinschaftlich getragen und zu entscheidenden Teilen in der deutschen Hauptstadt Berlin durchgeführt wurde. Auch so gesehen ist sie ein politisches Vermächtnis für alle Deutschen. Dass sie den endgültigen Abschied der Deutschen als geschlossen handelnder Nation von der geschichtlichen Bühne darstellen sollte, wollen und können wir nicht glauben. So wie die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 das andere Deutschland im Auge hatten, für das sie sich einsetzten und dem ihre Hoffnung galt, so müssen wir uns zwar im Interesse des Friedens auf die gegenwärtige Teilung Deutschlands einstellen und mit ihr leben, aber über unsere Bundesrepublik hinaus stets auch das ganze Deutschland sehen, das eines Tages in Frieden wieder vereinigt zu sehen unsere Hoffnung ist.
Von solchen Gedanken bewegt, gedenke ich mit Ihnen derer, die am 20. Juli 1944 ihr Leben für unser Land einsetzten. „Er soll sich zum Opfer bringen können“, sagt Fontane im Hinblick auf die Situation jedes Einzelnen von ihnen, „sich, Leben, Ehre. Geschieht es im rechten Geiste, so wird er die Ehre, die er einsetzt, doppelt wiedergewinnen.“ Das Opfer geschah im rechten Geiste und darum erweisen auch wir den Gebliebenen heute an dieser Stelle die Ehre, welche die deutsche Nation ihnen schuldet.