Das Leben im Weizenkorn

Karl Meyer

Das Leben im Weizenkorn

Predigt von Pater Provinzial Dr. Karl Meyer am 20. Juli 1984 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Predigttext: Joh.12, 24-25.

In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben.

Liebe Schwestern und Brüder in Christus!

Die Geschichte derer, die im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 zum Tode verurteilt worden waren, sollte nach dem Willen der Machthaber ein für alle Mal beendet sein. Ihre Namen wurden für immer ehrlos erklärt. Sie wurden in Schande gehenkt, ihre Leichen verbrannt und die Asche in die Felder gestreut.

Aber Asche in der Hand der Mächtigen kann Weizen in der Hand Gottes sein.

40 Jahre sind seitdem vergangen. 40 Jahre: eine Zeit, in der gute Saat bei fruchtbarem Boden heranreifen kann. 40 Jahre: aber auch eine Zeit, in der das Saatkorn zertreten werden und verloren gehen kann. Ich habe jüngeren Menschen erzählt, ich würde zum 20. Juli in Berlin-Plötzensee einen Gottesdienst halten. Mehrere sahen mich ahnungslos an, wussten nichts mit diesem Datum zu verbinden.

40 Jahre: eine lange Zeit, in der das Saatkorn verderben und verdorren kann. Worte, geboren aus Not und Einsamkeit, gefüllt mit der Entschiedenheit eines ganzen Lebens, werden uns zu leicht zu schönen Zitaten, die nach Bedarf zurechtgestutzt werden. „Laßt uns dem Leben trauen, weil wir es nicht allein zu leben haben, sondern Gott es mit uns lebt“, hat Alfred Delp am Heiligen Abend 1944 geschrieben, – in der Einsamkeit seiner Gefängniszelle in Berlin-Tegel, – mit gefesselten Händen. Es ist schön, dass sich unter diesem Wort „Dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt“ in diesem Jahr in München mehr als 100.000 Christen versammelt haben zu Festfeiern, Nachdenken und Gebet. Aber nicht selten habe ich in diesen Tagen auch die Kurzform des Leitworts gefunden:

„Dem Leben trauen“, zuletzt im Leitartikel der FAZ vom 18. 7. 1984. Das Motto treffe gut die gewandelte Stimmungslage. Lasst Zukunftsängste und Lebensunlust, nehmt eine optimistische Grundhaltung zum Leben ein, legt man uns nahe. Ob Gott dabei im Spiele ist oder nicht, scheint sekundär zu sein.

Besinnung tut also Not, wenn das Weizenkorn Frucht bringen soll, wenn es nicht verderben oder verloren gehen soll.

In uns soll die Saat aufgehen. Darum müssen wir uns bewusst halten, welcher Reichtum uns mit diesen Menschen, ihrem Schicksal und ihren Worten übergeben worden ist.

Welches Leben ist in dem Weizenkorn beschlossen, das Gott in seinen Acker, in unser Herz, in die Kirche in Deutschland, in diese Nation ausgesät hat und von dem er möchte, dass es Frucht bringe.

1. Das Leben ist das Leben, das diese Männer und Frauen selbst aus Familie und Kirche empfangen haben, das sich in ihnen manchmal unter Schmerzen und Kämpfen durchgesetzt, das in ihnen Gestalt gewonnen und dann ihr Fühlen und Denken bestimmt hat.

Es ist gekennzeichnet von der Ehrfurcht vor der Würde jedes einzelnen Menschen. Sie waren umgetrieben von der Suche nach den wesentlichen Elementen und unverzichtbaren Bedingungen für ein Leben des Menschen in Würde. Dieses Denken verdichtet sich bei Alfred Delp in das Vermächtnis: „Brot ist wichtig, die Freiheit ist wichtiger, am wichtigsten aber die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung.“ (Alfred Delp: Im Angesicht des Todes, Frankfurt: Knecht 10/1976, 160f.) Eingegangen in dieses Wort ist die Erfahrung des eigenen Hungers, der eigenen Fesseln, die Not eigener Erniedrigung und Angst.

2. Das Leben, das in dem Weizenkorn beschlossen ist, ist ein Leben, das sich nicht in Diskussionen und Gedanken erschöpft hat, sondern zur Tat gekommen ist. Im Maße ihrer wachsenden Einsicht in Recht und Unrecht sind sie für die Schwachen eingetreten und haben sie nicht allein gelassen. Warum ist Dietrich Bonhoeffer einen Monat vor Kriegsbeginn aus Amerika nach Deutschland zurückgekehrt, obwohl es für ihn große Gefahr bedeutete? Er war überzeugt, dass sein Platz an der Seite der jungen Pfarrer war, die er ausgebildet hatte. Sie alle haben den tödlichen Mächten in ihrem Reden, Planen und Tun Widerstand entgegengesetzt. Sie haben ihr Leben eingesetzt, damit andere besser leben sollten.

3. Das Leben, das im Weizenkorn umschlossen ist, ist schließlich das Leben, das sie, als sie ohnmächtig ausgeliefert waren, anbetend und ergeben in Gottes Hand gelegt haben, voll Vertrauen, dass er es ihnen durch den Tod bewahre. Hatten sie nicht in Gefangenschaft, bei Verhören, in der Verhandlung, ja bis zum Schafott und Galgen dieselben paradoxen Erfahrungen gemacht wie der Apostel Paulus: „Wir gelten als Betrüger und sind doch wahrhaftig; wir sind verkannt und doch anerkannt; wir sind wie Sterbende und seht: wir leben; wir werden gezüchtigt und doch nicht getötet; uns wird Leid zugefügt, und doch sind wir jederzeit fröhlich; wir sind arm und machen doch viele reich; wir haben nichts und haben doch alles.“ (2. Kor. 6, 8b-10). So gestalteten sie ihr Leben mehr und mehr aus dem christlichen Glauben, „um wenigstens als fruchtbares und gesundes Saatkorn in die Erde zu fallen“ (A. Delp), – als ein unverwechselbares Zeugnis für die letzte Größe menschlichen Lebens, unter der Zusage ewigen Lebens zu stehen.

Dieses Leben, das im Weizenkorn verborgen ist, stammt nicht vom Menschen selbst. Es ist ursprünglich das Leben Jesu, des Sohnes Gottes, das er in dieser Welt aus der Fülle und Liebe seines Vaters heraus gelebt, das selbst als fruchtbares Weizenkorn in die Erde gefallen ist und das er so denen, die an ihn glauben, zugeeignet hat. Dieses Leben Jesu ist in den meisten der Widerstandskämpfer mehr und mehr als Quelle ihres Lebens im Denken, Handeln und Erleiden hervorgetreten.

Wenn vom Leben und Tod der Männer und Frauen des Widerstandes gegen Hitler mehr blieb als Asche in der Hand der Mächtigen, nämlich Saatkorn in der Hand Gottes, wie steht es dann um die Frucht dieser Saat – 40 Jahre danach?

Gott wird die Saat zu seiner Zeit wachsen lassen, das ist richtig. Aber für unser Schicksal – mein Schicksal, lhr Schicksal und das des deutschen Volkes – ist es nicht unwichtig, ob wir Gottes gutes Ackerfeld (1. Kor. 3, 9) sind, auf dem Frucht wächst, oder nicht.

Wir haben uns kritischen Fragen zu stellen:

Nehmen wir uns Zeit, über die Würde des Menschen nachzudenken, den Gott als Wesen mit Leib und Seele geschaffen hat?

Berührt uns der Satz: „Brot ist wichtig“? Setzt er sich in uns fest? Bedenken wir, dass Menschen die Freiheit nur schwer hochschätzen können, wenn der Hunger nie gestillt worden ist?

Geht uns die Aussage nach: „die Freiheit ist wichtiger“? Denken wir nach über die Freiheit eines Christenmenschen, über die Freiheit in den Ordnungen Gottes, oder verwechseln auch wir Freiheit mit Freiheiten, die ich mir herausnehme und die des anderen – des Einzelnen wie anderer Völker – Unfreiheit verursachen?

Halten wir das schwierige Wort, das im Angesicht des Todes geschrieben wurde, aus: „Am wichtigsten ist die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung“? Lassen wir uns darauf ein, dass Verheißung und Führung Gottes, sein Halt und seine Prüfungen die Persönlichkeit des Menschen letztlich tragen? Gott als Partner des Menschen: darauf kann der Mensch um seiner Würde willen am wenigsten verzichten.

Sind wir bereit, die Menschen zu verteidigen und Widerstand zu leisten gegen Mächte und Systeme, die mit den heute immer noch wachsenden technischen Hilfsmitteln diese wichtigen Elemente menschlicher Würde unterdrücken oder vergessen machen?

Machen wir einen Anfang damit, Gott als den zu jeder Stunde tragenden Grund unseres Lebens anzuerkennen und zu ehren? Haben wir die Zeit, in Anbetung vor ihm zu stehen, vor ihm zu verstummen, auf ihn zu hören, um – wo immer es gefordert ist – ihm und seinem heiligen Willen die Ehre zu geben?

Wenn wir diese Fragen bejahen können – und sei es nur anfanghaft – dann kann nach Gottes Willen in uns das Leben der Zeugen neue Gestalt finden, und wir selbst können zum Weizenkorn werden, aus dem zukünftige Generationen Leben empfangen.

Jesus Christus ist der Anführer auf diesem Weg. Er beschenkt uns auch in dieser Feier.

Amen.







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