Das Licht in der Finsternis - Die bleibende Bedeutung des 20. Juli 1944. Persönliche Gedanken und Erinnerungen

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Isa Vermehren

Das Licht in der Finsternis - Die bleibende Bedeutung des 20. Juli 1944. Persönliche Gedanken und Erinnerungen

Festvortrag von Schwester Isa Vermehren, RSCJ anlässlich des 62. Jahrestages des 20. Juli 1944

Der Vortrag wurde krankheitshalber als Videobeitrag erstmals am 20. Juli 2006 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin gezeigt.

I.

„Das Licht, das im Finstern leuchtet“ – dieses Bild fällt mir ein, wann immer ich dem Datum begegne, das uns heute hier zusammengeführt hat. Doch ich will gleich als notwendige Ergänzung hinzufügen: Das Licht leuchtet wohl in der Finsternis, aber es erleuchtet sie nicht, es hebt die Finsternis nicht auf, es dient, so scheint es auf den ersten Blick, nur der Kontrastwirkung, die auch die Dunkelheit deutlicher hervortreten lässt. So ist in meinen Augen der 20. Juli als geschichtsträchtiges Datum zunächst durch eine schillernde, mich immer neu erschreckende Ambivalenz gekennzeichnet: Inmitten des tragischen, weil selbstverschuldeten Unterganges unseres deutschen Reiches ereignet sich die menschliche Tragödie des gescheiterten Attentats und reißt die letzten Hoffnungsträger unserer verfahrenen Kriegsführung mit in den Abgrund der totalen Niederlage. Die Hoffnung vieler auf das Ende der Hitlerdiktatur sah sich getäuscht. Stattdessen steigerte sich der Größenwahn der Machthaber in einen ausufernden Vernichtungswillen, vor dem niemand wirklich geschützt war. Die Fahndung nach Mittätern hat zu 7 000 Hinrichtungen geführt.

Ich erinnere den Schock der Empfindungen, der von der raschen Folge der sich widersprechenden Meldungen ausging: Gegen 13 Uhr teilte mir ein aufgeregtes Klopfzeichen meines Zellennachbarn in Ravensbrück mit: „Hitler ist tot!“ Ich hätte laut aufschreien können vor Glück und Erleichterung. Aber schon etwa zwei Stunden später kam die Nachricht, die alle Hoffnungen niederschlug: „Hitler lebt“; und wir alle wussten, was das für seine Feinde – und unsere Freunde – bedeutete. Dass das Attentat gewagt worden war, erfüllte uns mit Genugtuung, aber dass es wieder, wie schon so viele andere Versuche, an einem unvorhersehbaren und unverschuldeten Irrtum scheiterte, war eine schwer zu bestehende Prüfung unseres Glaubens an einen gerechten und gnädigen Gott. Dabei war doch gerade dieser Glaube eines der großen Motive, die die Männer des 20. Juli zum Handeln bewogen hatten.

In den zwölf Jahren der Hitlerdiktatur fühlte sich das Leben in Deutschland zunehmend an, als bewegte man sich unter einem schweren schwarzen Tuch, unter dem man kaum atmen und nichts mehr klar wahrnehmen konnte. Seit Kriegsbeginn waren kleine Fetzen aus den heimlich abgehörten Nachrichten des BBC die einzigen glaubwürdigen Informationen, an denen man sich orientieren konnte, doch ihre Beschaffung und Weitergabe waren lebensgefährlich. Mit ihrer Hilfe verfolgten wir das zunehmend unübersichtliche Kriegsgeschehen und schließlich voller Hoffnung den täglich spannender werdenden Wettlauf der alliierten Streitkräfte von Ost und West in Richtung Berlin. Gleichzeitig erlebten wir in Mitleid und Verzweiflung den immer chaotischeren Rückzug unserer geschlagenen deutschen Armeen aus all den freventlich überfallenen und usurpierten Nachbarstaaten des europäischen Kontinents „heim ins Reich“. Was für eine grauenhafte Vergeudung von Menschenleben und Material bedeutete diese Verlängerung des Krieges, deren Sinnlosigkeit doch allen Generälen bekannt war! Hitlers tausendjähriges Reich hatte nur zwölf Jahre gebraucht, um aus halb Europa einen qualmenden Trümmerhaufen zu machen und unser Volk in seine tiefste Schande zu führen.

Das vorletzte Kriegsjahr war das verlustreichste an Menschen und Material. Strategisch war es ohne Bedeutung, psychologisch gesehen, eine Flucht aus einer Wirklichkeit, die für alle unerträglich geworden war. Um Weihnachten stieg die Zahl der Selbstmorde in der Armee drastisch an. Allgemeine Ratlosigkeit herrschte angesichts der Last so vieler, so unsäglicher Leiden, des Fluchs von so viel Lüge und Gewalt, Raub und Totschlag, Feigheit und Verrat. Wer konnte das rechtfertigen? Wer konnte hier noch vergeben, wieder gutmachen, das Gewissen beruhigen? In dieser Bedrängnis war der Gedanke an den Tod auf dem Felde der verratenen Ehre weniger belastet als die Frage, welche Kämpfe es kosten würde, aus den Trümmern der alten Heimat eine neue aufzubauen.

Wir wurden alle heimgesucht von tiefer Resignation. Wer das Attentat als einen Befreiungsschlag erwartet hatte, konnte an diesem Tage der Sonne nicht ins Gesicht sehen. Wir wagten auch nicht, einander in die Augen zu blicken, um nichts preiszugeben von der Hilflosigkeit unserer so verwirrten wie verzweifelten Gedanken und Empfindungen. Wir alle brauchten Zeit, bis wir unsere geschockten Gefühle wieder so im Griff hatten, dass ein vernünftiges und verantwortungsbewusstes Denken sich durchsetzen konnte. Die gestraffte Organisation und erhöhte Alarmbereitschaft der SS nach dem 20. Juli verlangten uns neue Vorsicht und Aufmerksamkeit ab. Mit äußerer Gelassenheit und Fremdheit mussten wir unter den Augen des Wachpersonals Männern wie Graf Moltke oder Baron Guttenberg begegnen, die in das KZ Ravensbrück eingeliefert wurden. Auf ihre geistige und moralische Kraft hatten sich die Hoffnungen vieler auf eine Neugestaltung unseres Landes gestützt. Für uns waren einige von ihnen auch persönliche Freunde. Wenn zum Beispiel Moltke abends um

10 Uhr in Fesseln zum Verhör geholt wurde und erst am nächsten Morgen zurückkehrte, war es vorbei mit der Nachtruhe.

Die Arbeit Ihrer Forschungsstelle hat inzwischen ans Licht gebracht, was damals im undurchdringlichen Dunkel und in der Enge des Gefängnishofes in der Bendlerstraße sich vollzog, wo Helden als Verräter beschimpft und erschossen wurden und Feiglinge triumphierten. Die Sprachregelung für die Interpretation der Ereignisse war schon nach wenigen Stunden überall und fett gedruckt zu lesen: „Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen...“ Schon die Zahl der folgenden Hinrichtungen – 7 000, wie bereits festgestellt – entlarvt diese Behauptung als Lüge.

Sie alle kennen die verleumderischen Berichte und wissen, wie nachhaltig sie das Bewusstsein der Bevölkerung bestimmt haben. Was sich in dieser Nacht wirklich ereignet hatte, wurde von vielen noch lange nach Kriegsende nur zögernd, widerwillig, ungläubig zur Kenntnis genommen; mit tiefster Hochachtung nur von denen, die sich, aller Verführung zum Trotz, ein reines Empfinden für so kostbare Begriffe wie Ehre, Vaterland, Gerechtigkeit erhalten hatten. Erst in den fünfziger Jahren begann sich langsam eine positive Bewertung des damaligen Geschehens durchzusetzen.

II.

Doch es gab für uns damals nicht nur diese eine Wahrheit, die unser nationales Ansehen betraf und der Genüge geschehen musste. Daneben stand –

diese weit übergreifend und sie erst einmal zu-rückdrängend – die andere Wahrheit unserer grenzenlosen Entwürdigung, die dem deutschen Volk erst nach Beendigung des Krieges und mit der Öffnung der Konzentrationslager in ihrem ganzen Ausmaß zugänglich wurde. Was man im Ausland all die Jahre gewusst und mit zunehmendem Abscheu verfolgt hatte, wurde uns in den ersten Wochen und Monaten nach Kriegsende von den Besatzungsmächten vor Augen geführt. Aller Gräuel, alle himmelschreienden Unrechtsverhältnisse in den zahllosen Konzentrationslagern, die weit verstreut waren in allen Teilen Deutschlands und seiner Nachbarländer, wurden ins offene Tageslicht gerückt. Die Kriegsberichterstatter der Alliierten überboten sich in immer neuen Fotos, Artikeln, Dokumentationen der menschenverachtenden Methoden, mit denen die Nazis ihre Macht ausgeübt hatten – ein tief entsetzender Blick in die Abgründe des menschlichen Herzens!

Diese Seite der Machtausübung, die in der Geschichte beispiellos ist, war der Bevölkerung sorgfältig vorenthalten worden. Wer darauf anspielte, musste mit KZ-Haft rechnen. Im Ausland aber hatte sich uns Deutschen gegenüber vielerorts eine Mauer aus Abscheu und Verachtung aufgebaut. So brach nach Kriegsende die so lange verleugnete Wahrheit schonungslos über uns herein. Viele waren entsetzt, erschüttert und fassungslos. Die Ausbeutung der KZ-Häftlinge als Arbeitssklaven, ihre völlig unzureichende Versorgung und Unterbringung waren abstoßend bis zur Unerträglichkeit. Ihre Vernichtung in den Verbrennungsöfen aber, die Einstufung von Menschen als Ungeziefer, das man ausrotten müsse, der Völkermord an 6 Millionen vor allem polnischer Juden - die Ungeheuerlichkeit dieser Verbrechen überstieg die Fassungskraft. Selbst angesichts der Beweise weigerte man sich, sie für möglich zu halten. Viele flüchteten in die immer brauchbare Vermutung: „Das meiste ist sicher Feindpropaganda“ oder suchten sich in das so oft bekundete Vertrauen zu retten: „Hätte der Führer das gewusst …“

Das Wissen um so grauenhafte Verbrechen, geplant und ausgeführt von der eigenen Regierung, in sich hineinzulassen, verlangt viel an innerer Bereitschaft und Anstrengung. Es setzt sich nicht von alleine fest in unserem Denken, dafür ist es zu abstoßend. Das muss man sich immer wieder neu vorsagen und versuchen, es sich vorzustellen, bis man wirklich zu dem Entsetzen vordringt, das dem Tatbestand entspricht. Vielen war der Zugang zur Wahrheit verstellt durch leichtfertigen Unglauben, der meint, sich zu rechtfertigen mit dem Argument: „Das kann ich mir nicht vorstellen …“ – also kann es das so auch nicht gegeben haben … Diesem Unglauben, dieser Sucht, Lästiges zu verdrängen, zu vergessen, bin ich sehr viel öfter begegnet als der Bereitwilligkeit, sich dem himmelschreienden Unrecht mitleidig zuzuwenden.

Nach Kriegsende standen wir alle unter dem doppelten Schock der militärischen und der moralischen Niederlage. Für eine schwere Stunde in der Weltgeschichte lastete auf uns die Wucht der doppelten Verurteilung, uns militärisch und moralisch disqualifiziert zu haben. Es gab einen kurzen Moment lang keinen einzigen Fürsprecher für uns, gab nichts und niemanden, auf den wir uns berufen konnten als einen Hüter des Rechts, als Zeugen für unsere intakte Gesinnung, mit der wir uns selbst und unseren Freunden treu zu bleiben versuchten inmitten aller Anfeindungen von übermächtigen Gegnern.

In dem inneren und äußeren Elend der Nachkriegszeit versank das Datum des 20. Juli für lange Zeit. Es dauerte zehn Jahre, bis man es ertrug, der Vergangenheit ins Gesicht zu sehen und in dem drückenden Dunkel nach rettenden Lichtzeichen zu suchen. Immer lauter wurde die eine brennende Frage gestellt: Gab es denn damals in unserem Land keinen Sinn mehr für Gerechtigkeit, für Ehre, für Menschenwürde und Barmherzigkeit? Wo sind die, die widerstanden haben? Wo sind die Zeugen dafür, dass es einen richtenden Gott im Himmel gibt?

Tatsächlich brach in dem Augenblick der tiefsten Schmach und Schande, der tiefsten Erniedrigung, den unser Volk bestehen musste, das Licht gerade durch jene Finsternis hindurch, die vielen als die unverzeihlichste gegolten hatte: das Attentat auf den obersten Kriegsherrn, dem alle Offiziere heilige Eide unverbrüchlicher Treue geschworen hatten. Durch das tausendfache Unrecht, das im Namen des deutschen Volkes geschehen war, fühlten sie sich in ihrer Ehre als Deutsche, als Christen, als Soldaten zutiefst verletzt und verraten und eben darum auch verpflichtet, dem Unheil ein Ende zu machen. Das Licht, das vom Wollen und Tun dieser Männer und Frauen ausging, hob die Finsternis nicht auf, aber es festigte die Füße derer, die im Licht standen.

Hier zeigt sie sich wieder die eingangs zitierte Ambivalenz: Was scheinbar dem Untergang geweiht ist, enthüllt sich als Bedingung des Aufstiegs.

III.

Das alles war vor mehr als sechzig Jahren. Die Mauer, die uns vom Ausland trennte, ist heute wohl weitgehend abgetragen, bis auf die Grundsteine, die erkennen lassen, wo sie mal gestanden hat. Und mit dem Datum des 20. Juli ist das Bekenntnis zu Recht und Wahrheit, Freiheit und Würde, zu Todesverachtung und Gottesfurcht mit unauslöschlichen Lettern in unsere deutsche Geschichte eingegraben. Das sind Grundwerte, ohne die kein Volk seine Identität behaupten kann. Daher gedenken wir heute in tiefer Ehrfurcht und Bewunderung jener ausgezeichneten Menschen, die mit ihrem Leben für die Erhaltung dieser Werte eingetreten sind, als sie durch gewissenlose Machthaber dem größten Missbrauch ausgesetzt waren.

Wir haben überlebt. Haben wir auch überwunden? Die gegenwärtig so oft gehörte Frage: Kann sich dieses unerhörte Geschehen wiederholen, verrät viel von der Unsicherheit, vor der wir im Blick auf unsere Vergangenheit und unsere Zukunft stehen. Die nicht endende Diskussion um die Grundwerte macht es überdeutlich, dass der eigentliche Schaden jener mörderischen Jahre erst jetzt wirklich wahrgenommen wird und in seinen nationalen wie globalen Wirkungen ins Bewusstsein dringt. Verloren gegangen ist uns die Selbstverständlichkeit, mit der wir unsere Existenz geborgen und hingeordnet wussten auf die transzendente Realität des lebendigen Gottes, des alleinigen Herrn über Leben und Tod. Die neue Erfahrung ist die, dass wir – trotz aller aufgeklärten wissenschaftlichen Erkenntnisse über unser ganzes Dasein – die innere Gelassenheit nicht wiederfinden können, mit der wir uns bisher im Sinn des Ganzen aufgehoben gefühlt haben. Es gelingt uns nicht, die für unser gemeinsames Leben unentbehrlichen Richtlinien aus eigener Kraft zu erstellen. Wir wissen, dass wir das Gute tun sollen; aber wenn es Gott nicht gibt, gibt es auch das Gute nicht – so hat es Sartre uns in der Mitte des letzten Jahrhunderts verkündet. Mit anderen Worten, hat sieben Jahrhunderte früher Thomas von Aquin dasselbe gesagt, als er das viele Böse als Grund angab für den Unglauben so vieler.

Wir haben überlebt. Haben wir auch überwunden? Diese Frage führt tief in das Herz des je eigenen, des individuellen Erlebens und berührt doch das gemeinsame Leben aller. Überwinden musste jeder von uns in immer neuen Anläufen die Angst vor dem Tod, dem leiblichen und dem seelischen, vor dem Untergang des eigen Ich, meiner Person, des Wissens um die eigene Identität. In diesen sich in tiefer Innerlichkeit abspielenden Kämpfen ging es immer noch einmal darum, das eigene Dasein um seines einmaligen Wertes willen zu bejahen. Dieser Wert, der jahrelang den Angriffen einer zerstörerischen Ideologie ausgesetzt war, hatte sich uns dennoch wieder und wieder kundgemacht in allem, was uns innerlich ja als Glück, als Sinn, als Schönheit und Wahrheit, als kostbar, berührt hatte – ob im Kleinen oder Großen: Im Staunen über eine eben erblühte Rose oder über die Pracht des nächtlichen Sternenhimmels, in der Erfahrung von Freundschaft und Vergebung, von Liebe und Vertrauen, das andere uns schenkten; Erfahrungen schließlich am Rande des von allen Seiten gefährdeten Daseins, dass wir nicht allein gelassen sind, weil der mächtigere Herr des Himmels und der Erde seine Weise hat, uns nahe zu sein.

Aus der Quelle dieser Erfahrungen, die ja nicht unser Werk waren, sondern uns geschenkt wurden, nährten sich der Mut und die Kraft, dem eigenen Untergang in immer neuen Variationen entgegen zu sehen, entgegen zu gehen, von der Gewissheit getragen, dass das, wovon unser Herz berührt wurde, von keinem Tod uns genommen werden kann.

Die vielen autobiographischen Zeugnisse aus den Todeszellen bezeugen dieses dramatische, für uns alle verborgen bleibende Ringen jedes Einzelnen um den Sieg des Lebens, den Sieg des Lichtes inmitten der Finsternis.