Das Symbol des anderen, des besseren Deutschland

Willy Brandt

Das Symbol des anderen, des besseren Deutschland

Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Willy Brandt am 19. Juli 1965 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Tag für Tag finden weit über tausend Menschen den Weg zu diesem Mahnmal. Einzeln und in Gruppen kommen sie hierher. Jüngere und ältere, aus Berlin, aus dem deutschen Westen, aus Europa, aus vielen Teilen der Welt. Schweigend betreten sie den kahlen Hinrichtungsraum. Allein an dieser Stelle sind 1.800 Menschen aus Deutschland und den besetzten Gebieten Europas ermordet worden: Männer und Frauen, die sich gegen die braune Gewaltherrschaft aufgelehnt hatten.

Hier in dieser Gedenkstätte ehren wir alle, die wegen ihrer Überzeugung, ihres Glaubens oder ihrer Abstammung von den sogenannten Nationalsozialisten geschmäht und misshandelt wurden; ihrer Freiheit, ihres Lebens beraubt. In dieser Gedenkstätte ehren wir den Widerstand gegen den hitlerschen Totalitarismus, der so viel Schande über unseren Namen gebracht hat.

Der 20. Juli 1944 wurde zum Symbol des anderen, des besseren – im Sinne Stauffenbergs des ewigen Deutschland. Der Widerstand war nicht auf dieses eine große Vorhaben und auf diese eine Gruppierung von Menschen begrenzt. Seit 1933 waren immer wieder beherzte Menschen der Unmenschlichkeit entgegengetreten oder auch ohne besondere Aktivität zwischen die Mühlsteine des Regimes geraten. Unter ihnen finden wir große Namen und Tausende, die unbekannt geblieben sind. Viele taten auf ihre Weise, was eigentlich hätte selbstverständlich sein müssen und doch in jener Zeit zum Außergewöhnlichen wurde.

Es gibt großartige Kapitel der Nächstenliebe aus jenen Ländern, in denen der Widerstand identisch war mit nationaler Solidarität. Aber es hat auch in diesem Land und in dieser Stadt Hilfe gegeben für Bedrängte und Verfolgte. Damit zu prahlen, würde uns nicht zustehen. Aber wir dürfen daraus Hoffnung schöpfen. Denn auch im Alltag hat es immer wieder Menschen gegeben, für die Humanität kein abstrakter Begriff war, sondern eine sich täglich stellende Forderung.

Für den Senat von Berlin war es eine schöne Aufgabe, jene Mitbürger öffentlich zu ehren, die in Berlin leben und selbstlos anderen geholfen haben. 556 „unbesungene Helden“ sind bisher geehrt worden. Obwohl es in Deutschland eine einheitliche Widerstandsbewegung nicht gegeben hat, fanden sich immer wieder Frauen und Männer aus allen Schichten des Volkes, aus allen weltanschaulichen und politischen Richtungen in Widerstand zusammen – von links und rechts und aus der Mitte kämpften sie gegen den moralischen Bodensatz. Nicht alle sahen ihr Ziel in einer freiheitlich-demokratischen Ordnung. Aber sie trafen sich in ihrer Bereitschaft, für den Menschen, für die Menschlichkeit Opfer zu bringen und das Leben zu wagen.

Noch viel zu wenig ist bei uns bekannt und gewürdigt, was der Widerstand in den besetzten Ländern politisch und moralisch bedeutete und wie viel Opfer an Gut und Blut er gefordert hat. Die Freiheitsbewegungen des europäischen Widerstands haben dazu beigetragen, dass auch unser Land befreit wurde. Aus ihren Impulsen ergab sich mancher Ausgangspunkt für ein Streben nach europäischer Einigung.

Bittere Erfahrungen und starke Überzeugungen gestatteten, über die eigenen Grenzen hinauszudenken. Die Taten und Opfer des deutschen Beitrages zum europäischen Widerstand verhinderten eine kollektive Verurteilung unseres Volkes. Was das bedeutet, wird gerade die junge Generation zu würdigen wissen. Der Widerstand darf aber nicht als nationales Alibi missbraucht werden, um uns der Auseinandersetzung mit dem zu entziehen, was in und durch Deutschland geschah. Das NS-Regime bleibt in seinem Wesen verbrecherisch. Terror hatte das deutsche Volk mundtot gemacht, erstickte jeden Versuch wirksamer Gegenwehr. Aber es bleibt die bedrückende Frage, wie viele sich wirklich haben wehren wollen. Auch unter ganz anderen Bedingungen stellt sich immer wieder die Frage, welche Verantwortung der Einzelne tragen kann und will.

Die Männer des 20. Juli haben wahrhaft für unser Volk gehandelt. Sie wussten, dass sie nur wenige waren und Deutschland im Augenblick nicht repräsentierten, wohl aber unsere freiheitlichen Traditionen fortführten. Der Widerstand, der verbreiteter war, als manche meinen, aber doch schwächer, als er hätte sein können, widerlegte die ungerechte Anklage kollektiver Schuld, entband aber die Generation, die das NS-Regime mit wachen Bewusstsein erlebt hat, nicht von Haftung und Selbstprüfung.

Der deutsche Widerstand, auf sich allein gestellt, vom Ausland verkannt oder auch im Stich gelassen und ohne die Gewissheit des Erfolges, hat bewiesen, dass selbst in der dunkelsten Zeit unserer Geschichte das Bekenntnis zu unveräußerlichen Menschenrechten nicht zerstört werden konnte. Unsere Geschichte kennt auch während jener dunklen Jahre eine freiheitliche Tradition. Sie war im Widerstand lebendig, und sie lebt weiter im Freiheitswillen der gewaltsam von uns getrennten Landsleute. Berlin bildet die Brücke. Dieser Geist des Widerstandes sollte uns helfen, heute unser geschichtliches Selbstverständnis als Deutsche zu gewinnen. Ich weiß, dass sich die junge Generation zu dieser Tradition bekennt und bin gerade deshalb dem Ring Politischer Jugend dankbar für seine Bereitschaft, von jetzt an gemeinsam mit dem Senat die Gedenkfeier hier in Plötzensee zu tragen und zu gestalten. Diese Gedenkfeier ist dem deutschen und dem europäischen Widerstand gleichermaßen gewidmet.

Meinem Freund Halvard Lange darf ich herzlich danken, dass er zu uns gekommen ist. Wenn ich ihn jetzt bitten darf, zu uns zu sprechen, so grüßen wir ihn heute nicht in erster Linie als den weltweit geachteten Staatsmann eines kleinen Volkes, sondern als einen Mann, in dem die noblen Eigenschaften des europäischen Widerstandes lebendig sind.






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