"Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung."

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Carl-Heinz Evers

„Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“

Gedenkrede des Berliner Senators für Schulwesen Carl-Heinz Evers am 2. Juli 1965 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Ein jüdischer Mystiker sagte im 18. Jahrhundert: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Sind wir Deutschen im eigenen Land im Exil? So fragen wir angesichts dieser Mauer, hinter der aufrechte Menschen gehenkt wurden, weil sie der Unmenschlichkeit Widerstand leisteten.

Seit die Schüler der Berlin Oberschulen sich vor einem Jahr hier versammelten, um des 20. Jahrestages des 20. Juli 1944 zu gedenken, haben wir viel erlebt, was das Opfer dieser Männer angeht. Wir wurden Zeugen der Debatten um die Verjährung von Naziverbrechen. Wir vernahmen das Wort Karl Jaspers: „Für Völkermord gibt es keine Verjährung.“ Wir erlebten das Ergebnis der Verjährungsdebatte. Und wenn in den nächsten Jahren nicht endlich das geschieht, was eigentlich schon vor über einem Jahrzehnt hätte geschehen sein müssen, dann wird es uns nicht erspart bleiben, mit Mördern leben zu müssen. Wir erinnerten uns in diesem Jahr zwischen den Gedenkstunden der Berliner Oberschulen zum 20. Juli des 20. Jahrestages der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945. Und in der Veranstaltung des Schülerparlaments fielen auch Worte, die wenig damit zu tun hatten, dass das Geheimnis der Erlösung Erinnerung heißt.

Wessen sollen wir uns erinnern? So fragen wir uns angesichts der Richtstätte vieler Opfer, die dem Unrecht Widerstand leisteten. So fragen wir, die wir zu dem Teil des deutschen Volkes, zu den 70 Prozent gehören, die 1933 noch nicht geboren waren oder 1932 noch nicht das Wahlrecht hatten. Wessen sollen wir uns erinnern? Wir sollen uns erinnern, dass wir alle geschichtliches Gepäck tragen. Wir können aus der Geschichte unseres Volkes nicht austreten; wir können keinen Urlaub von unserer Geschichte nehmen. Wir müssen als Angehörige des Volkes die Geschichte Deutschlands akzeptieren. Und zu dieser Geschichte gehört auch Mord und Völkermord. Jene Männer, die ihr Leben gaben, um dem Unrecht und der Unmenschlichkeit zu wehren und die Wendung zu Recht, Freiheit und Menschlichkeit herbeizuführen, machen es uns leichter, die Last dieser jüngsten Geschichte zu tragen. Daher verneigen wir uns in Dankbarkeit vor ihnen.

Es geht hier nicht um unsere Schuld. Denn jene Millionen Deutschen, die 1933 bis 1945 Kinder waren oder noch gar nicht geboren waren, tragen keine Schuld. Schuld gibt es ohnehin nicht kollektiv; Schuld gibt es nur persönlich. Und mit der ganzen Unbefangenheit der Schuldlosen fragt die jüngere und die junge deutsche Generation: Wie hat Deutschland die Chance, die ihm nach 1945 gegeben wurde, genutzt? Wurden die Weichen richtig gestellt?

Gerade die Jüngeren und die Jungen in unserem Volke haben betroffen registriert, welches Misstrauen im Frühjahr dieses Jahres gegenüber Deutschland und den Deutschen offenkundig wurde. Ein Misstrauen, als habe es das Opfer der deutschen Widerstandskämpfer nicht gegeben, als hätte dieses Volk in den vergangenen zwanzig Jahren nicht hart gearbeitet, als bestünde nicht über die Hälfte des Volkes aus Menschen, die damals Kinder waren oder noch gar nicht lebten. Bei diesem Misstrauen, das erneut offenkundig wurde, mag pharisäerhafte Unterstellung im Spiel gewesen sein. Denn moralische Selbstgerechtigkeit (so schrieb die „Zeit“) braucht einen Sündenbock: die Deutschen, die Kommunisten, die Kapitalisten oder wen sonst immer. Aber war bei diesem Misstrauen, das uns entgegenschlug, nur pharisäerhafte Selbstgerechtigkeit im Spiel?

Haben wir nach 1945 die Weichen richtig gestellt? Als 1946 die deutschen Rundfunkanstalten eine Gedenksendung zum 20. Juli veranstalten wollten, da wurde sie von der Besatzungsmacht verboten. Die Männer des 20. Juli hatten ja auch nationale Motive für ihre Tat. Und ein Nationalbewusstsein war damals nicht gefragt, obwohl keine Nation ohne es zu existieren vermag. Dabei müssen gerade wir Deutschen auf das rechte Maß des Nationalbewusstseins achten, damit es nicht zur Überheblichkeit und zum Nationalismus entartet. Es kam die kommunistische Bedrohung; es kam Korea. Und es kam die Versuchung für den westlichen Teil Deutschlands, für sich eine perfekte Wohlstandsgesellschaft zu errichten.

Der Neubeginn, zu dem wir nach 1945 bereit waren, wurde beeinträchtigt. Immer stärker beschritten wir die alten Pfade in der Gesellschaftspolitik, insbesondere auch in der Bildungspolitik, auf denen unser Volk 1933 gescheitert war. Männer, die den Nazis in deren Machtapparat gedient hatten, wurden wieder beschäftigt, weil - so hieß es - ihr fachliches Können unersetzbar sei, - bis hinauf in führende Bonner Positionen.

Ist das Misstrauen wirklich nur das der Pharisäer? Gegen ungerechtfertigtes Misstrauen gegen die Deutschen in der Welt müssen die verantwortlichen Politiker sich vor unser Volk stellen, wie es unser Regierender Bürgermeister besonders in diesem Frühjahr im In- und Ausland getan hat. Aber im Inneren müssen wir alle dafür sorgen, wir müssen wach und wachsam sein, dass nicht durch alte oder durch neue Manager der Macht, für die Mitmenschlichkeit keine politische Kategorie ist, weiterer Schaden auch nach außen entsteht. Manche Nachkriegs-Politiker wären dem deutschen Volke besser erspart geblieben, da sie nicht geeignet waren, das Misstrauen zu überwinden und Deutschlands Ansehen in der Welt zu erneuern.

Weil viele vergessen wollten, dass wir alle die deutsche Geschichte tragen, darum verlängerte sich unser Exil des Misstrauens in der Welt. Denn das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Die jüngere und junge deutsche Generation braucht keine „Vergangenheit zu bewältigen“, denn sie trägt keine Schuld. Wir haben die Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft zu bewältigen. Dazu brauchen wir Klarheit über unseren Ort in der Geschichte des deutschen Volkes und Klarheit über die Stellung unseres Landes in der Welt. Beide Klarheiten aber werden wir nur gewinnen, wenn wir wissen und uns danach richten, dass das Geheimnis der Erlösung Erinnerung heißt.

Die übergroße Mehrheit der jungen Deutschen weiß das. Und weil sie das weiß, begegnet sich die Jugend der Bundesrepublik Deutschland unbefangen mit der Jugend anderer Völker. Aber diese Aussöhnung wird nur dann vollständig und damit erst eigentlich glaubwürdig, wenn sie nicht nur in einer Richtung erfolgen darf. Weil das Geheimnis der Erlösung Erinnerung heißt, deshalb müssen wir gerade auch an die Jugend in der Tschechoslowakei, in Polen und in Russland denken, - an die polnische Jugend, der der Schriftsteller Stefan Kisielewski kürzlich sagte: „An die Arbeit, ihr Faulpelze, ihr Melancholiker und Hamlets, die ihr einen Beruf daraus macht, keine Verantwortung auf euch zu nehmen! In 30 Jahren wird es keinen von uns mehr auf diesem Platz geben und Polen wird dann so werden, wie ihr es wollt. Ihr müßt aber beginnen, schon jetzt zu wollen ... Ich bin sogar bereit, die Verantwortung für all das dumme Zeug, das meine Generation - obwohl ich nicht allein an allem Schuld bin - zu übernehmen, wenn ihr euch dafür bereit erklärt, die Verantwortung für die kommende Welt zu tragen.“

In Richtung auf Osteuropas Jugend gibt es bei uns noch Befangenheit, weil die Begegnung zu lange unterblieb und noch immer äußerst erschwert ist. Die deutsche Jugend hofft - und das sagen wir aus Glaubwürdigkeit unseres Bekenntnisses zu den Männern und Frauen des deutschen Widerstandes gegen Hitler - auf die so lange gestaute Möglichkeit der Begegnung mit der Jugend der osteuropäischen Völker, deren Ländern und Bewohnern durch Deutsche und im Namen Deutschlands so viel Unrecht und Unmenschlichkeit widerfahren ist.

Wir hoffen auf die baldige Möglichkeit gegenseitiger Besuche von Schüler- und Jugendgruppen, von Schüler- und Studentenaustausch. Denn Erinnerung heißt das Geheimnis der Erlösung. Gerade weil wir die deutsche Geschichte tragen, halten wir diesen Weg der Aussöhnung für unaufschiebbar. Mit der Jugend in Westeuropa ist diese Aussöhnung erfolgt. Die deutsche Jugend hat in bezug auf die Jugend der osteuropäischen Völker einen „Nachholbedarf“ an Kennenlernen, an Aussöhnungserlebnis und an Unbefangenheit, der kaum eine weitere Stauung verträgt.

Der Aufruf an das deutsche Volk, den die von der deutschen Freiheitsbewegung vorgesehene Reichsregierung vorbereitet hatte, enthält die Sätze: „Unser Ziel ist die wahre, auf Achtung, Hilfsbereitschaft und soziale Gerechtigkeit gegründete Gemeinschaft des Volkes. Wir wollen Gottesfurcht an Stelle von Selbstvergottung, Recht und Freiheit an Stelle von Gewalt und Terror, Wahrheit und Sauberkeit an Stelle von Lüge und Eigennutz. Die Schuldigen, die den guten Ruf unseres Volkes geschändet und soviel Unglück über uns und andere Völker gebracht haben, werden bestraft werden. Wir wollen unsere Ehre und damit unser Ansehen in der Gemeinschaft der Völker wiederherstellen. Wir wollen mit besten Kräften dazu beitragen, die Wunden zu heilen, die dieser Krieg allen Völkern geschlagen hat, und das Vertrauen zwischen ihnen wieder neu beleben.“

Sind wir bei uns selbst zu Hause oder sind wir im eigenen Lande im Exil? Denn: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Ein anderer jüdischer Mystiker sagte: „Die große Schuld des Menschen sind nicht die Sünden, die er begeht - die Versuchung ist mächtig und seine Kraft gering. Die große Schuld des Menschen ist, daß er in jedem Augenblick die Umkehr tun kann und nicht tut!“