"Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es eine Gotteskraft."

Hans Storck

„Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es eine Gotteskraft.“

Predigt von Superintendent Dr. Hans Storck am 20. Juli 1987 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Verehrte Anwesende!

Plötzensee, dieser Raum, das, was diese Wände wiedergeben an Schrecklichem, das, woran sie erinnern, den Vater, die Mutter, den Großvater, den Mann, den Freund.

„Hier in dieser Zelle war es,“ – so bezeugt Eberhard Bethge – „wo unser Herr von der Erfahrung der Nähe und der Ferne Gottes getroffen war und ist“ ... Unser Herz getroffen ...

Sie und ich, jeder hier hat seine Geschichte mit diesem Raum, mit Plötzensee: Trauer, unbeschreibliche Traurigkeit. – Scham, dass dies geschehen konnte...Über mich. –

Achtung vor denen, deren Gewissen aufstand gegen den Diktator, gegen die Maschinerie des Schrecklichen. – Verpflichtung. –

Das, was uns hier zusammenführt, wie ist es zu deuten? Welche Kräfte, welche Wirkungen, welche Maßstäbe gehen davon aus? So wurde, so wird gefragt.

Die biblische Lesung gestern im Gottesdienst antwortet: „Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es eine Gotteskraft.“ (1. Korintherbrief 1,18)

I.

Damals vor 2000 Jahren am Karfreitag in Jerusalem, als Jesus sein Kreuz trug, stand Maria, seine Mutter, am Wege. Sie schaute ihn an. Er schaute sie an. Dann war er vorüber.

Maria lässt ihn gehen. Sie ruft ihn nicht. Sie bittet nicht. Sie schaut ihn an. Sie lässt ihn frei. Sie lässt ihn ungehindert seinen Weg gehen, den Weg, auf dem er gekreuzigt wurde.

Dieser Weg geht mitten durch sie hindurch. Indem Maria es geschehen lässt, ebnet sie den Weg des Sohnes zu Gott, dem Vater. Und sie ebnet auch Gott den Weg zu uns. Viele Frauen und Männer haben seitdem bezeugt, dass dort, wo sie ihr Kreuz trugen, Gottes Kraft ihnen nahe war, ihnen und den Menschen, mit denen sie verbunden sind. Verbunden, wie das? Am Morgen nach einer grauenvollen Bombennacht schrieb Dietrich Bonhoeffer aus dem Gefängnis: „Es ist merkwürdig, wie einem in solchen Nachtstunden ganz ausschließlich der Gedanke an diejenigen Menschen bewegt, ohne die man nicht leben möchte. Das Eigene tritt zurück. Man spürt dann erst, wie verwoben das eigene Leben mit dem Leben anderer ist ... Als wär's ein Stück von mir ... Am stärksten empfindet es wahrscheinlich die Mutter“.

II.

In der geschichtlichen Wirklichkeit, in der die Menschen damals lebten, genügte es nicht, Gutes zu wollen und Böses zu lassen. Im Kern ist dies heute nicht anders. Ich muss Gutes nicht nur wollen, ich muss es hervorbringen. Gegen die Mächte, die das Leben verderben, und das ist das Kreuz, das einer auf sich nahm, der Vorgang, der tiefer wirkte, höher trug, weiter griff. Hier in dieser Zelle sagen zu können: „Hier war es, wo unser Herz getroffen war und ist von der Erfahrung der Nähe und der Ferne Gottes“, das kann glaubwürdig nur einer, der dabei war, innerlich und äußerlich, d.h. einer, der erlebt hatte, wozu Menschen fähig waren und sind, zu peinigen, zu schinden, zu töten. Einer, der wusste was Angst ist; einer, der Augenblicke und Stunden höchster Intensität erfahren hat, in denen in, mit und unter dem Gekreuzigtwerden die Nähe und die Kraft Gottes aufbrach.

Das Kreuz, das sie trugen, das Kreuz, das Sie und ich auf uns nehmen – keine Torheit? ... Eine Gotteskraft? Welches Kreuz?

Niemand brauche sich sein Kreuz selbst zu suchen. Er brauche nur offen sein und verantwortlich handeln gegenüber den Menschen, mit denen sein Beruf ihn zusammenführt. Für Martin Luther und die Reformatoren war diese Erkenntnis so wichtig und so zentral, dass sie die Erfahrungen, wie christlicher Glauben wirkt, als „Theologie des Kreuzes“ beschrieben.

Mir unvergesslich der Meister in der Betonfabrik. Er sagte zu uns:

„Ich bin wie ein Bambusstab. Die Unternehmensleitung dreht nach rechts. Die Kollegen drehen nach links. Ich bin dort, wo's splittert!“

III.

Dort, wo es splittert, nicht flüchten. Dort, wo unterschiedliche, ja bisweilen auch gegensätzliche Interessen und unvereinbare Anforderungen sich kreuzen, standhalten. Wer in der freien Wirtschaft tätig ist, weiß, wie breit die Spannweite dessen ist, was es da gelegentlich auszuhalten gibt. In der Familie sich auseinander laufenden Auffassungen der unterschiedlich geprägten Generationen stellen, nicht die Augen zumachen. Jede der vier Ecken des Kreuzes einbeziehen. Das Ganze der Spannweite und Spannungen aushalten. Nicht ausweichen nur auf eine Hälfte, ein Viertel. Nach Brücken suchen.

Die Männer des 20. Juli 1944, deren Biographie ich kenne, verdrängten nicht. Sie wichen der Spannbreite nicht aus. Sie sprachen darüber. „Hitler den Gehorsam aufsagen und im Eid gebunden sein“. „Dem besseren Deutschland dienen und den Feinden des Vaterlandes nicht in die Hände arbeiten“. Das wollte ausgehalten sein.

Dort, wo das Ganze der Spannbreite der sich kreuzenden Interessen ausgehalten wird, dort soll Gottes Kraft aufbrechen? ... Soll Heil sein? Die ausgestreckten Arme Jesu am Kreuz, bedeuten sie dies? Überbrücken sie? Was verdirbt? Ist das Maßstab und Ursache dafür, dass die Märtyrer des 20. Juli 1944 – obwohl ihr Attentat scheiterte – die Samen wurden, die bewirkten, dass in der Bundesrepublik und damit auch in West-Berlin unsere freiheitlich-demokratische Verfassung nicht nur durchgesetzt, sondern bis jetzt auch verteidigt werden konnte? Ich bin überzeugt: So ist es.

Mich schmerzt zu erleben, wie in meinem Umfeld kirchliche Gruppen die ganze Spannweite des Kreuzes nicht zulassen, aber unter Berufung auf den 20. Juli zum Widerstand und Blockieren aufrufen. Widerstand wird dadurch mit Erfolg entwertet, zur Meinung ohne Saft und Kraft, verkommt zur Masche.

IV.

Harald Poelchau, mit dem ich in der Industrie und Sozialarbeit nach dem Krieg verbunden war, begleitete die, die hier starben. Die Predigt, die er am 20. Juli 1954 hielt, bezeugte, wie stark im Angesicht des Abschieds die Frage zurücktrat, ob dieses oder jenes besser oder anders hätte gemacht werden können. Wichtiger als Diskussionen wurde angesichts des Abschieds die Tatsache, dass Jesus Christus „für mich“ starb. „Christi Leib für euch gegeben“. „Christi Blut für euch vergossen“. Das trug. Wer die Abschiedsbriefe liest, spürt es. Das Blut der Märtyrer wurde der Same für Kräfte, an denen der schier allmächtige Diktator schließlich scheiterte. Das Kreuz, das sie trugen, wurde – wie Johannes wusste – zum Sieg, der die Welt überwindet, die Welt des Ausgeliefertseins, der Unfreiheiten, Ungerechtigkeiten, des Unfriedens. So wird uns als Vermächtnis der Toten das Segenswort mitgegeben: Das Wort vom Kreuz, das Aushalten der Spannweite des Kreuzes, war und ist die Gotteskraft, sie trägt, nährt, heilt.







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