Der 20. Juli 1944 in amerikanischer Sicht

Karl Brandt

Der 20. Juli 1944 in amerikanischer Sicht

Gedenkrede von Prof. Dr. Dr. Karl Brandt am 20. Juli 1965 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Stauffenbergstraße, Berlin

Sehr geehrte Damen, meine Herren,

am heutigen Tag ist es 21 Jahre her, seit an dieser Stätte der letzte verzweifelte Versuch deutscher Männer fehlschlug, den Tyrannen und sein Gewaltsystem zu beseitigen. Damit schlug auch der letzte Versuch fehl, den von ihm frivol vom Zaun gebrochenen, bereits fünf Jahre dauernden Zweiten Weltkrieg zu beenden.

Diese Stätte ist durch das Blut von Männern geweiht, die nach schwersten Gewissensqualen ihr Leben einsetzten, um ihrem Vaterlande und ihren Mitmenschen die Rückkehr zu einem Staat zu ermöglichen, in dem Recht und Freiheit und Respekt vor der Menschenwürde wiederhergestellt werden konnten. Anstatt die Erlösung von der Tyrannis und die schnelle Beendigung des Krieges zu gewinnen, löste jenes tragische Versagen eine sich noch zehn Monate lang fortsetzende Kette von Morden aus, mit denen der magisch bewahrte Fanatiker auf dem Thron versuchte, eine Elite verantwortungsbewusster deutscher Staatsbürger auszurotten.

In der heutigen Feierstunde, in der wir an der Stätte der letzten spontanen Phase der Auflehnung einer Gruppe des Widerstandes in Ergriffenheit der ungeheuren Tragödie und der unsagbaren Leiden jener Märtyrer gedenken, lastet auf uns zugleich das Wissen um das Meer von Tränen, das die Opfer jenes Krieges in ihrer ungeheuren Zahl und in ihrem abgrundtiefen Leiden in so vielen Ländern, einschließlich Deutschlands, vergossen haben. Während die Zeit Wunden heilen lässt, so ist es doch Pflicht verantwortlich lebender Menschen, besonders die schlimmen, demütigenden Erfahrungen der Geschichte geistig zu verdauen und seelisch zu sublimieren. Dies ist umso mehr notwendig, als seit dem Ende des teuflischen Gewaltstaates in allen von seiner Pervertierung des Rechts betroffenen Ländern einschließlich Deutschlands eine neue, nunmehr bereits 20-jährige Generation herangewachsen ist, die, ohne eigene Kenntnis und ohne ein Werturteil über die umnachtete Periode des Terrors zu haben, völlig außerstande ist, sich in der Gegenwart oder der nahen Zukunft zu orientieren und zurechtzufinden.

Mir ist die schwierige Aufgabe zugefallen zu sagen, was der deutsche Widerstand und der Opfergang der Männer des 20. Juli in amerikanischer Sicht heute bedeuten. Während ich bereits zum zehnten Jahrestag des 20. Juli im Jahre 1954 über die Ermordung der deutschen Elite in San Francisco referierte und mein Referat durch den Repräsentanten im Congress T. Arthur Younger zu Gehör gebracht wurde (siehe: Congressional Record, 83d Congress, 2. Session, July 20, 1954), werde ich mich heute bemühen, aus der Perspektive von der anderen Seite des Atlantiks einige Gedanken zu äußern, die den etwas größeren zeitlichen Abstand und die heutige alles andere als befriedigende Situation der Welt, die Problematik der brüchigen Solidarität der freien Welt und die Position der Vereinigten Staaten widerspiegeln.

An dieser Stätte, an der ich oft ein- und ausgegangen bin, bevor der viertelgebildete Magier des Rassenwahns sein unheilvolles Werk begann, bewegen mich Erinnerungen an die grauenhafte Not im Winter 1945/46. Aber ich stehe gleichzeitig noch unter der andersgearteten Erschütterung durch meine Eindrücke bitterster Enttäuschung auf der Erinnerungstagung der 20-jährigen Wiederkehr der Gründung der Vereinten Nationen in San Francisco, bei der ich damals auch zugegen war. Leider bestehen allzu viele aufrüttelnde und ernstlich mahnende Beziehungen zwischen dem, was sich dort an Feindseligkeit, Uneinigkeit und babylonischer Sprachverwirrung manifestierte, und den Ereignissen, die uns heute zu ehrendem Gedenken der lebenden Toten des 20. Juli zusammenführen.

Für alle Bewohner dieser Erde, die nicht nur vegetieren, sondern aus dem ihnen von ihrem Schöpfer gegebenen freien Willen die Pflicht zu verantwortlicher Existenz erfüllen, kann es nie so entscheidend gewesen sein wie heute, ein klares Bild davon zu haben, wie es möglich war, dass ein Volk mit so hervorragenden Beiträgen zur wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Leistung der Welt aus der Verfassung eines Rechtsstaates in den Abgrund und Morast von Terror, Unmenschlichkeit und Selbstvernichtung der nationalsozialistischen Revolution stürzen konnte. Noch wichtiger ist es aber für alle verantwortlichen Bürger und Staatsmänner der in größter Gefährdung existierenden führenden Industrieländer der freien Welt, zu erkennen, wie es diesem in seiner Geschichte vielmals von seinem Schöpfer nahezu unbarmherzig gestraften deutschen Volk gelingen konnte, die größte Katastrophe der Geschichte zu überleben. Im Dreißigjährigen Kriege blieben von 20 Millionen Menschen weniger als vier Millionen übrig! Im Ersten Weltkrieg, für den abwägende Historiker keineswegs Deutschland die Alleinschuld oder die Hauptschuld zumessen, verlor ein Volk von 63 Millionen zwei Millionen Männer, unter ihnen die Mehrzahl meiner Klassenkameraden im Gymnasium. Für uns in den Vereinigten Staaten ist die wichtigste Frage nicht nur die, wie sich die Menschen aus der Bundesrepublik aus Schutt und Asche der totalen Niederlage physisch herausarbeiten konnten, sondern worin das Geheimnis besteht, dass dieses Volk sich seelisch an den ewigen Werten und den Fundamenten der jüdisch-christlichen Kultur des Abendlandes wiederaufrichten, den die Menschenwürde respektierenden und sichernden Rechtsstaat wiederherstellen und als geachteter Partner seinen Platz am Tisch der Freiheit und Recht respektierenden Nationen sichern konnte. Ja, es ist ein noch bedeutenderes Phänomen, dass diese so tragisch gestürzte und wiederauferstandene Nation auf dem Tiefpunkt ihrer Niederlage und Not in moralischer Hinsicht und in ihrem sozialen Gewissen in besserer Verfassung war als seit Generationen.

Der geweihte Ort, der lebendige Geist der Märtyrer und die Anwesenheit ihrer Hinterbliebenen und derer, die durch gnädige Fügung die Folter überlebten und dem Henker entgingen, verbieten emphorische, fortschrittsgläubige Deklamationen. Dies wird mit Nachdruck durch die heutige apokalyptische Konstellation deutlich, bei der die säkularen Mächte buchstäblich nach den Sternen greifen und mit totalen, von Astronauten gesteuerten Vernichtungswaffen ausgerüstet sind, während sie gleichzeitig dennoch die Ausdehnung von Partisanenkriegen nicht zu verhindern vermögen. Dass in diesem Augenblick amerikanische Soldaten in Vietnam im Kampf gegen eine der Varianten des Terrorstaates ihr Leben hergeben, macht für mich, wie für jeden amerikanischen Bürger, die Verstrickung eines jeden von uns in das Verhängnis dieser Welt nur noch unmittelbarer. Ich spreche deshalb ohne jede diplomatische Verbrämung oder den Versuch zu verfeinerter Nuancierung. Meine Worte sind ebenso sehr von der rückhaltlosen Identifizierung mit der Sicherheit und dem Wohlergehen meines Vaterlandes, der Vereinigten Staaten von Amerika, bestimmt, wie von der Sorge um das weitere Schicksal des Volkes, dem ich meine Herkunft, Jugend, Ausbildung und den Beginn meiner beruflichen Laufbahn verdanke. Da zwischen den wahren, wohlverstandenen Interessen beider zum selben Kulturkreis gehörenden und heute de facto, de lege und de jure miteinander eng liierten Nationen – USA und Deutschland – keine ernsten Gegensätze bestehen, so habe ich mich nie in einem Gewissenskonflikt befunden. Deshalb bin ich auch überzeugt, dass meine sehr offenen Worte heute – ebenso wie es in der Vergangenheit der Fall war – auf beiden Seiten des Atlantik wohlwollendes Gehör finden werden.

Die amerikanische, an Außenpolitik interessierte Öffentlichkeit hat nicht nur einen unersättlichen zeitgeschichtlichen Bildungshunger, sondern erfreut sich eines außerordentlichen Reichtums an Mitteln der Information und interpretierenden Kenntnisvermittlung. Aber sie ist – vielleicht sogar infolge dieses Überflusses – keineswegs mit der wahren Natur, den Ausmaßen und der wahren Bedeutung des Widerstandes gegen die deutsche nationalsozialistische Variation der diesem Jahrhundert eigenen Spezies des totalen Gewaltstaates vertraut. Noch viel weniger sieht man klar, welche zu erheblichen Teilen exogenen Ursachen für das militärische und politische Scheitern des Widerstandes verantwortlich waren. Ich gehe so weit zu sagen, dass vorläufig selbst in den Kreisen, die gewisse kirchliche, juristische oder politische Aspekte des Widerstandes kennen, dennoch das abgewogene Urteil über dieses für die Erhaltung und Verteidigung des Rechts, der Freiheit und der menschlichen Würde so entscheidende historische Phänomen mit den Jahren eher geringer als stärker geworden ist.

Das hat verschiedene Gründe. Einmal haben dazu Historiker wie John Wheeler Bennett und erfolgreiche Journalisten wie William L. Shirer mit dem Leitmotiv unentschlossener, Putsche versuchender Offizierscliquen und ihrer Misserfolge ihr reichliches Maß beigetragen. Gleichzeitig ist die mehr und mehr in die Tiefe gehende deutsche Literatur über den Widerstand und die dokumentarische Belegung der historischen Tatbestände durch Fehlen von Ausgaben in der englischen Sprache in Amerika weitgehend unbekannt geblieben. Zudem hat die sensationelle, einseitig auf die Zeugenaussagen in den zwanzig Jahre nachhinkenden Kriegsverbrecherprozessen vor deutschen Gerichten konzentrierte Berichterstattung mit der täglichen Injektion der Leserschaft mit spaltenlangen Details über die Gräuel in Vernichtungslagern den einen Erfolg, nämlich den Abscheu auf das deutsche Volk auszudehnen und die Annahme einer Kollektivschuld aller Deutschen für die Vernichtung von Millionen unschuldiger Männer, Frauen und Kinder jüdischen Glaubens wieder aufleben zu lassen. Ein solcher Begriff läuft der tief in der amerikanischen Verfassung und Unabhängigkeitserklärung verankerten Überzeugung von individueller Verantwortlichkeit zuwider und bedeutet ein Abgleiten in hitlersche Rassenverfolgungsideologie. Gleichzeitig haben die Beendigung von nahezu zwölf Milliarden Dollar umfassenden Leistungen von Wiedergutmachungszahlungen der Bundesrepublik an den Staat Israel und die erbitterte Polemik zwischen den arabischen Nachbarstaaten und Israel in den Vereinigten Staaten manche wenig gerechte, Deutschland kritisierende Kommentare ausgelöst.

All dies hat das an sich schwache Interesse am Widerstand und seiner Bedeutung nur weiter vermindern können. Es ist umso dankbarer zu begrüßen, dass eine so weit verbreitete Zeitschrift wie „Life“ im Mai dieses Jahres eine einzigartige Würdigung Dietrich Bonhoeffers und seines Opferganges gebracht hat. Zudem ist in Laienkreisen aller Konfessionen, ohne dass dies einen Niederschlag in der Presse findet, das Interesse am Verständnis für den Widerstand und an dem edlen und ergreifenden Vermächtnis an Bekenntnissen und letzten Briefen der Märtyrer lebendig. Das Fernsehen hat kürzlich auch Überlebende interviewt. Ebenso beachtlich ist es, dass in Frankreich und Belgien in patriotischen, auf europäische Zusammenarbeit ausgerichteten Kreisen von Staatsmännern, Gelehrten und Industriellen größte Hochachtung vor dem Widerstand besteht. Ja, ich bin überzeugt, dass hier eine der stärksten außenpolitischen Wirkungen des Widerstands liegt, die man in Deutschland vielleicht nicht sieht: Hätten nicht deutsche Generäle des Widerstands es auf sich genommen, den Befehl des zunehmend Geisteskranken im Berliner Bunker zu verweigern, nämlich Paris im Straßenkampf in Schutt und Asche niedergehen zu lassen, so wäre eine Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen beiden Ländern nie, nicht in Generationen möglich gewesen, und dies hätte in den USA schlimme Wirkungen gehabt. Auf dieser Zusammenarbeit beruht aber die Sicherheit Europas und der Vereinigten Staaten. Dies als ein Seitenblick auf reale Wirkungen des Widerstands, die das große Glück der Führung durch den großen Konrad Adenauer möglich gemacht haben. Für die dennoch bestehende Verdrängung des Interesses an dem Widerstand und das Fehlen des Verständnisses für seine wahre, ethische und ideelle Bedeutung in weiten Kreisen der amerikanischen Öffentlichkeit sind mehrere Tatbestände und deren pragmatische, wenn nicht realpolitische Bewertung maßgebend.

Zu diesen gehören die folgenden: Die sichtbarste Aktion des Attentates und der Militärrevolte war ein Versagen. Die führenden Köpfe waren prominente, hohe Berufsoffiziere. Die beteiligte Gruppe war klein und umfasste außer militärischen Persönlichkeiten vorwiegend Vertreter des preußischen Landadels. Die Gruppe wartete so lange, dass der Endkampf des entfesselten Weltkrieges nicht mehr verhindert werden konnte. Zu diesem Bilde eines verspäteten Militärputsches preußischer Militaristen, die um das Ende ihrer geschichtlichen Rolle besorgt waren, kommt eine noch schlimmere inkriminierende Feststellung. Während offensichtlich eine der furchtbarsten Folgen des Hitlerterrors nächst Kommissar- und Geiselerschießungen die Vernichtung von Juden in Ausrottungslagern war, haben die Männer des 20. Juli die Abstellung dieser Verbrechen nicht zum obersten Ziel ihres von vielen von ihnen mit dem Leben gebüßten Aufstandes gemacht...

So weit die Quintessenz der Argumente, mit denen der Widerstand innerhalb des mit unheimlicher wissenschaftlicher Perfektion und alles durchdringender Gründlichkeit arbeitenden Gewaltstaates in breiten Kreisen der amerikanischen Öffentlichkeit einklassifiziert und ad acta gelegt wird. Leider ist ja diese Auffassung auch in vielen anderen Ländern und selbst in manchen deutschen Kreisen verbreitet.Ich werde versuchen, die völlige Unhaltbarkeit nahezu aller Thesen, mit Ausnahme derjenigen des Misserfolges der Revolte, darzulegen und nach der Berechtigung der Ablehnung jeglicher Mitverantwortung für diesen Misserfolg, ja für die Tragödie selbst, zu fragen.

Wann begann der Widerstand? Vor der Machtergreifung. Er begann im Sommer 1933 und 1934. Am 30. Januar 1933 hielt Pastor Bonhoeffer eine Predigt im Rundfunk, in der er die Glorifizierung eines Einzelmenschen über den Rang seines Amtes als Götzendienst brandmarkte. Diese Sendung wurde von den Schergen des Tyrannen abgeschnitten, bevor sie endete. In der protestantischen Kirche spaltete der Flügel des militanten Widerstandes und seine „Bekennende Kirche“ den Klerus und die Laienschaft von den ersten Tagen an. Wie zahllose Partei- und Gestapoberichte bezeugen, haben die Machthaber des Dritten Reiches in der katholischen Kirche mit ihrem nicht zu brechenden Widerstand den wahrscheinlich gefährlichsten Gegner gesehen. Die Zehn Gebote, auf denen die Verfassung fast aller Rechtsstaaten beruht, sind von der Kirche nicht etwa aufgehoben, sondern in jeder Kirche ständig unverkürzt und laut verkündet worden. Der Widerstand der politischen Parteien begann, als sich am 23. März 1933 die sozialdemokratischen Abgeordneten des Reichstages weigerten, für das Gesetz zu stimmen, das dem Kanzler diktatorische Machtbefugnisse gab, nachdem die deutschen Wähler der nationalsozialistischen Partei auch bei der Wahl vom März 1933 nicht mehr als 43 Prozent der Stimmen gegeben hatten.

Die nächste Frage betrifft die Zusammensetzung der Gruppe innerhalb des weit verstreuten Widerstandes, die an der Verschwörung des 20. Juli beteiligt war. Wer waren sie? Im Gegensatz zu den erwähnten einseitigen und völlig irrigen Annahmen steht fest, dass die ermordeten Opfer und die Überlebenden aus fast allen Berufen, allen Gesellschaftsschichten, allen politischen und allen religiösen Kreisen kamen. Zu ihnen gehörten Männer und Frauen, junge Studenten, bejahrte Staatssekretäre, katholische Priester und Laien, Agnostiker und protestantische Laien und Pfarrer, Bürgerliche und Adlige, Zivilisten und Militärs.

Eine weitere Frage betrifft die Zahl derer, die Widerstand leisteten, und den Grund, warum sich der Widerstand nicht zu einer mächtigen Massenbewegung auswuchs. Was die numerische Stärke angeht, so war sie unvergleichlich viel größer, als zumeist in Amerika angenommen wird. In den Jahren seit 1933, als die ersten Konzentrationslager errichtet wurden, bis 1941, hatten wahrscheinlich 1,5 Millionen Menschen, möglicherweise aber bis zu 2,5 Millionen darin ihre Bekanntschaft mit dem Terror-System und seiner Willkür gemacht. Der Grund, weshalb auch diese sehr eindrucksvollen Zahlen dennoch keine organisierte Massenbewegung hervorriefen, sondern eine amorphe, aus Individuen bestehende Struktur des Widerstandes, lag sehr logischerweise darin, dass, nachdem 1933 die Riesenfalle, in die der Gefreite das deutsche Volk in der Wirtschaftsnot der Depression gelockt hatte, geschlossen war, und alle Waffen sich in der Hand des Staates befanden, nur noch die Armee oder Teile von ihr organisierten Widerstand leisten konnten. Für amerikanische Bürger ist es nahezu unvorstellbar, wie wirksam und stark die moderne Maschine des Strafvollzuges des illegitimen Machtstaates in der Niederhaltung irgendwelcher Opposition gegen die Staatsführung zu sein pflegt. In der ersten Phase des Dritten Reiches von 1933 bis 1936 lenkte zudem die energische Politik der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit von dem bereits in Gang befindlichen Prozess der Perversion des Rechts und der Prämierung des Spitzel- und Denunziantentums ab.

Wenn nun im Laufe der zwölf in der Katastrophe endenden Jahre die möglicherweise rettenden Aktionen seitens der dem Widerstand angehörenden Offiziere der Wehrmacht zwar versucht, aber nicht durchgeführt wurden, so liegen die Beweise für die Wechselwirkungen zwischen Entscheidungen der Staatsmänner und Militärs anderer Länder und dem äußerst engen Handlungsspielraum des Widerstandes offen. Diese Beweise verlagern zwar nicht die volle Verantwortlichkeit des deutschen Tyrannen für seine Taten, aber sie zeigen auch, wie sehr durch das Aufschieben und die bedauerlichen faulen Kompromisse der anderen Mächte mit ihm unvermeidlich die Aktionsmöglichkeiten des Widerstandes mehr und mehr versandeten. Die im ersten Kriege entstandene Einigkeit der Alliierten war zerfallen und im Dilemma der Weltwirtschaftskrise zog sich schließlich jedes Land in autarke Maßnahmen zurück. Was man dem internationales Recht respektierenden Reichskanzler Brüning verweigert hatte, konzedierte man Hitler in überstürzter Hast. Frankreich ließ die Remilitarisierung des Rheinlandes zu, England und Frankreich ließen nicht nur den Anschluss Österreichs zu, sondern schwächten bewusst die Handlungsfreiheit der Männer des Widerstandes im Generalstab, als Daladier und Chamberlain den Weg nach München antraten zu einer Zeit, als die verbrecherischen Methoden, die Kette der Morde an Deutschen und die Anfänge der Juden- und Christenverfolgung dieses Tyrannen diesen Staatsmännern voll bekannt waren.

Zum gerechten Urteil über die Mitglieder des Widerstandes gehört eine Berücksichtigung der fortlaufend höher gegen sie anstürmenden Schwierigkeiten im Innern des Gestapo-Staates und des gleichzeitig draußen rapide wachsenden Ressentiments gegen alle im Dritten Reich verstrickten Deutschen. Als Hitler seinen Pakt mit Stalin machte und beide Tyrannen Polen untereinander aufteilten, schufen die gemeinsamen und doch getrennten Interessen der Gestapo und der GPU zusätzliche Gefahren für jedes Mitglied des Widerstandes. Als später die Sowjetunion ihre Vertreter in London und Washington in der Funktion von Alliierten an der Arbeit hatte, sind dann auch Informationen über den Widerstand auf diesem Wege an die Gestapo gelangt.

Eines der vielen Kapitel des Verhängnisses menschlicher Unzulänglichkeit in dieser großen Tragödie betrifft die von den Verschwörern gepflegten Verhandlungen mit der englischen und später mit der amerikanischen Staatsführung, die durch die juristischen Umstände vollendeten Hochverrat bedeuteten. Nachdem die Verhinderung des Krieges nicht geglückt war und die nachträglich so günstig erscheinende Gelegenheit verpasst war, den nunmehr machttrunkenen Volkstribun auf dem Obersalzberg zu erschießen, als er ankündigte, er werde wie Dschingis Khan im Osten wüten, begann der Widerstand mit intensiver diplomatischer Initiative. Gegen Ende Dezember 1939 verhandelte Adam von Trott zu Solz in Washington mit Präsident Roosevelt für den Widerstand, ohne irgendwelche Ermutigungen zu bekommen. Auf dem Rückweg nach Deutschland besuchte er mich in Palo Alto. Dietrich Bonhoeffer verhandelte im Mai 1942 in Schweden mit Bischof GKB Bell von Chichester in Richtung auf Unterstützung des Widerstandes. Aber am 24. Januar 1943 wurde in Casablanca die bedingungslose Unterwerfung als Kriegsziel deklariert, und als Bonhoeffer erneut, diesmal bis zu Churchill, vorfühlt, unter welchen Bedingungen eine neue Regierung in Berlin den Krieg liquidieren kann, ist die eiserne Antwort: bedingungslose Unterwerfung. Im März 1943 legt Fabian von Schlabrendorff Hitler die Bombe ins Flugzeug, die versagt, und am 5. April verhaftet die Gestapo Dietrich Bonhoeffer, der damit für weitere Aktionen verloren ist.

In all der Zeit bestand zwischen der amerikanischen OSS und dem Widerstand sowie zwischen der amerikanischen Botschaft in Bern und dem Stabe von Allen Dulles und dem Widerstand engster Kontakt. General Donovan brachte im Frühjahr 1944 ein Angebot von Mitgliedern des Widerstandes aus Ankara persönlich nach New York. Ich wurde selbst in geheimster Mission zu Rate gezogen und arbeitete bis in die Nacht meine Stellungnahme aus. Aber am folgenden Tage wurde erneut in Washington gegen den Rat Donovans jede Konzession an den Widerstand eisern abgelehnt.

John Wheeler Bennett sagt hierzu: „Die zwingendsten Argumente für die Möglichkeit, dass die Alliierten mit einem ‚neuen Deutschland’ hätten Frieden schließen können, besagen, dass die Beendigung der Kampfhandlungen im Sommer 1944 die Wirkung gehabt haben würden, dass viele Tausend Menschenleben an allen Fronten gerettet worden wären und dass Deutschland selbst nicht den Verlust vieler seiner führenden politischen Köpfe erlitten haben würde, von Männern von Format und Tradition, mit Fähigkeiten und Charakterstärke, die in der Säuberungsaktion umkamen, die den Fehlschlag des Putsches folgte.“ Aber er kommt zu dem Schluss, dass man solchen hochherzigen Erwägungen dennoch nicht stattgeben dürfe, „da Präsident Roosevelt, Mr. Churchill und Marschall Stalin wiederholt nachdrücklich betont hätten, es sei eines der entscheidendsten Kriegsziele, dass der preußische Militarismus zugleich mit dem Unrecht des Nationalsozialismus zerstört werden müsste und dass sie nunmehr in der Lage seien, diese Ziele zu verwirklichen.“ Diese Stellungnahme aus dem Anfang der 50er Jahre hat heute bereits einen unbeabsichtigten ironischen Beigeschmack.

Was das Klischee des „preußischen Militarismus“ angeht, so erwähne ich lediglich, was der Congress der Vereinigten Staaten 1913 als Inschrift auf das Denkmal setzte, das er auf dem Platz vor dem Weißen Haus aufstellen ließ, eine der schönsten Bronzestatuen in ganz USA:

„Errichtet von den Vereinigten Staaten für Friedrich, August, Wilhelm, Heinrich, Ferdinand Baron von Steuben in dankbarer Anerkennung seiner dem amerikanischen Volk in seinem Freiheitskrieg geleisteten Dienste.

Geboren in Preußen 17.September 1730

Gestorben New York 28.November 1794

Nachdem er als Flügeladjutant Friedrich dem Großen von Preußen gedient hatte, bot er seinen Degen dem amerikanischen Kolonien an und wurde zum Generalmajor und Generalinspektor der Kontinental-Armee ernannt. Er gab den Bürger-Soldaten, die die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten gewannen, die militärische Ausbildung und Disziplin.“

Seither hat General Eisenhower die Politik der bedingungslosen Kapitulation als einen Fehler bezeichnet. Der britische Militärhistoriker Generalmajor P.C. Fuller hat noch härter geurteilt, dass diese Politik den Krieg unnötig verlängerte, Italien zerstörte und Tausende amerikanische und britische Leben vergeudete.

Hinsichtlich des zeitweiligen Zögerns, das den Märtyrern des Widerstandes vorgeworfen wird, seien noch andere Beobachtungen erwähnt, die zeigen, dass andere verantwortliche Männer unter wesentlich weniger erschwerenden Umständen auch nicht in allen Fällen die notwendigen Entscheidungen zur rechten Zeit gefällt haben. Professor Stefan Posseny, der während des Zweiten Weltkrieges im amerikanischen Marineministerium an psychologischer Kriegsführung arbeitete, berichtete kürzlich (Sonntagsblatt, Staats-Zeitung und Harald 30.5.1965 S. C 1-2. Stefan T. Posseny „Wachsam sein ist unser aller Pflicht“) dass er und andere Sachverständige immer erneut – aber ohne jeden Erfolg – vorschlugen, man solle mit allen Mitteln die deutsche Öffentlichkeit über all die Verbrechen des Hitlerregimes einschließlich der Tätigkeit in den Vernichtungslagern informieren. Der amerikanische Nachrichtendienst verfügte über ausreichende Informationen, um die Vernichtungspolitik Hitlers mit harten Tatsachen zu belegen. Man wusste bei uns während des Krieges unvergleichlich viel mehr als die deutsche Öffentlichkeit bis zum Kriegsende.

Hier in Berlin befinden wir uns in nächster Nähe von Mahnmalen, die daran erinnern, dass verpasste Sternstunden schwer, wenn überhaupt nachzuholen sind. Nächst den 1954er und 1956er Aufständen in Ost-Berlin und in Ungarn, in denen die Nato-Mächte kostbarste Zeit zu positiven Handlungen verpassten, ist noch deprimierender die Schandmauer, deren bevorstehender Baubeginn lange vorher bekannt war und deren Bau nicht erfolgt wäre, hätte man General Clays dringlichen Rat befolgt, die amerikanischen Truppen hier in Alarmbereitschaft zu halten. Was all dies zeigt, ist, wie wenig es sich bei all der Tragik der Jahre, in denen das deutsche Ansehen von Verbrechern geschändet wurde, um typisch deutsche Entartung von Institutionen handelt und dass seit dem Ende der einen Tyrannis längst andere gleich grauenhafte Systeme an vielen Stellen der Erde in Blüte stehen. 17 Millionen Deutsche sind ihrer Mindest-Bürgerrechte beraubt, sind glebae adscripti und können die Ostzone nicht verlassen.

Alle diese ernüchternden Erfahrungen mehr als 20 Jahre nach dem Horror des Zweiten Weltkrieges und solchen menschlichen Katastrophen wie Dresden, Hiroshima und Nagasaki können aber die einzigartige Bedeutung des Widerstandes in keiner Weise schmälern. Was hier geschah, war die Läuterung von Menschen im Feuerofen des Leidens zu so edler reiner Menschlichkeit, Nächstenliebe und wahrer Freiheit des Herzens, dass ihre Seele nicht nur gegen Folter und Demütigung immun, sondern auch über Hass und Rachegefühle erhaben war. Aus allen hinterlassenen Briefen und letzten Nachrichten strahlt das Licht des heiligen Gral. Damit aber ist der einzigartige Platz der Märtyrer des deutschen Widerstandes in der Geschichte nicht nur Deutschlands, sondern der Welt für immer gesichert. Er ist dem Bereich der Taktik, journalistischer oder nationalistischer, parteipolitischer oder konfessioneller Auseinandersetzungen für ewig entrückt, und er untersteht keinem Protokoll. In der ewigen Sehnsucht der Menschheit nach Frieden strahlt das ewige Licht in furchtbarstem Leid geläuterter Menschlichkeit der Märtyrer. Dieses Licht mahnt uns, nie zu vergessen, dass die einzelnen Menschen in nahen wie fernen Ländern der Welt unsere Brüder sind. Dieses Licht, das in der Finsternis gerade unserer heutigen Tage leuchtet, mahnt uns, nie zu vergessen, dass das, was hier von 1933 bis 1944 in Deutschland geschah, jederzeit in jedem Lande der Welt geschehen kann und, Gott sei's geklagt, seit 1945 vor unseren Augen geschieht, von Helmstedt bis West-Berlin und von der Schandmauer bis Wladiwostok. Macht trägt die Versuchung des Teufels in sich, sie zu missbrauchen. Totale Macht steigert die Gefährdung der Machthaber, zu Vernichtern der Menschlichkeit zu werden – in jedem Lande der Welt.

Für die Sicherung der Menschenwürde gegen diese nie endende Gefahr gibt es nur einen Schutz: Die nie unterbrochene ewige Wachsamkeit jener Elite von Bürgern, die das Gewissen und die Tapferkeit, unbeirrbar mit dem Einsatz des eigenen Lebens für jene unabdingbaren, dem Menschen von seinem Herrgott gegebenen Menschenrechte einzutreten, in denen die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert sind.

Abschließend zitiere ich die heilige Johanna, die Bernhard Shaw sagen lässt: Oh Gott, der Du diese wundervolle Erde geschaffen hast, wie lange wird es dauern, bis sie bereit sein wird, Deine Heiligen zu empfangen – wie lange – oh Gott – wie lange???







Weitere Reden