Der Bedrohung unserer Zeit Herr zu werden

Rolf Schwedler

Der Bedrohung unserer Zeit Herr zu werden

Gedenkworte des Senators für das Bau- und Wohnungswesen Rolf Schwedler am 20. Juli 1972 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Wir gedenken heute der Männer und Frauen, die im Widerstand gegen die Terrorherrschaft des Nationalsozialismus ihr Leben ließen. Wir ehren mit den Opfern alle, die in jenen Jahren deutscher Schande ihrem Gewissen folgten, auch wenn es keine Chance gab. Der 20. Juli 1944 ist der Kulminationspunkt des deutschen Widerstandes gegen den Missbrauch des eigenen Volkes durch seine Machthaber gewesen. An diesem Tag, spätestens an diesem Tag, wurde offenbar, dass es das gab, was man das „andere Deutschland“ nannte. Durch diesen Tag wurde uns allen die Möglichkeit zurückgegeben, in den Kreis der Völker dieser Welt zurückzukehren.

Wenn wir heute, fast drei Jahrzehnte nach diesem Ereignis, mit Stolz und Freude nicht nur auf das äußerlich Sichtbare sehen, sondern auf die neuen Strukturen unseres Staates und unserer Gesellschaft, dann wissen wir auch, dass wir den Frauen und Männern des deutschen Widerstandes tiefen Respekt und Dank schulden.

So reicht die Tat des 20. Juli bis in die Gegenwart hinein. So ist auch das alljährliche Gedenken mehr als eine vom Kalender bestimmte Pflicht. Es ist ein Tag, an dem wir uns der Wurzeln der Freiheit zu erinnern haben, die wir heute genießen, und wir sind entschlossen, sie nicht wieder aus der Hand zu geben.

Geschichte, so wird oft gesagt, wiederhole sich nicht, und deshalb sei es fragwürdig, ob und inwieweit es überhaupt Lehren gebe, die man aus der Geschichte ziehen könnte.

Gewiss, eine Wiederholung in dem Sinne, dass ein Ereignis Abbild eines vorigen ist, gibt es nicht. Wohl aber gibt es Grundsituationen, die wiederkehren, und die man so oder anders nutzen kann.

Sagen wir es offen: Die Demokraten der Weimarer Republik haben ihre Chance nicht voll genutzt. Im Widerstand fanden sich spät, zu spät, jene Kräfte zusammen, denen Freiheit mehr bedeutete als ein Wort. Das Band des Antifaschismus vermochte zu verbinden, was sich vorher unversöhnlich gegenüberstand. Diese Gemeinsamkeit war stark. Sie hat zwar die Herrschaft der Nationalsozialisten nicht abschütteln können, auch am 20. Juli 1944 nicht. Sie hat aber deutlich gemacht, dass zu keiner Stunde das ganze deutsche Volk in Barbarei gefallen war.

Erneut hat unser Volk die Chance erhalten, eine Zukunft in Freiheit aufzubauen. Diesmal nutzen wir sie. Dazu gehört auch, der Demokratie eine Basis zu geben, Obrigkeitsdenken abzubauen, ohne in das andere Extrem der Führungslosigkeit zu verfallen. Mit demokratischen Mitteln wird die Demokratie erhalten und ausgebaut. Darüber gibt es unter Demokraten in unserem Lande keine Meinungsverschiedenheiten.

Lassen Sie mich aus einem Vorwort zitieren, das Wolf Graf von Baudissin dem Buch „Der 20. Juli“ von Fraenkel und Manvell vorangestellt hat: „In Diskussionen wird oft davor gewarnt, den Ausnahmecharakter des Dritten Reiches und damit des Widerstandes zu übersehen. Das ist berechtigt im Blick auf voreilige Schlußfolgerungen, die den Gehorsamsanspruch des Rechtsstaates oder die Spielregeln demokratischer Gesellschaft in Frage stellen. Wird dieses Argument indessen als Kunstgriff benutzt, um die Gewissen und die kritische Wachsamkeit der Staatsbürger einzuschläfern, um die Traditionen und Lehren des Widerstandes beiseite zu schieben, beschritte man einen gefährlichen Weg. Nur wenn möglichst viele Menschen die letzten von den vorletzten Werten zu unterscheiden wissen, werden wir der Bedrohung unserer Zeit Herr werden.“

Der Bedrohung unserer Zeit Herr zu werden – das ist die Verpflichtung, die uns die Widerstandskämpfer gelehrt haben und die wir uns heute und für alle Zukunft auferlegen müssen.







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