Der Blick ins Morgen

Bringfried Naumann

Der Blick ins Morgen

Predigt von Pfarrer Bringfried Naumann am 20. Juli 1983 in der Kirche Maria Regina Martyrum, Berlin

Liebe katholische und evangelische Freunde,

liebe Schwestern und Brüder in unserem Herrn Jesus Christus,

Es ist gut, am Abend dieses Tages mit all seinen Eindrücken und Erfahrungen noch einmal zusammen zu sein, in der Stille, im Singen und Beten, im Hören auf das Wort Gottes. Ich bin dankbar dafür, dass dies hier geschieht und dass ich zu dieser Predigt eingeladen worden bin. Es ist seit zwanzig Jahren zum ersten Mal, dass ich hier predige.

Wir haben aus dem Johannes-Evangelium gehört, was der Preis der Nachfolge sein kann. Auch das steht in der Bibel, in Matthäus im 16. Kapitel, dass ein Jünger mit Jesus grob und anmaßend umgeht. Petrus, dem zuvor das Amt der Schlüssel anvertraut worden ist, dem also Autorität und Vollmacht zugetraut werden, ihm, dem Sprecher der Jünger und verlässlichen Fels, – dieser so geehrte und gebrauchte und auserwählte Mann nimmt Jesus beiseite und fährt ihn an: „Herr, das verhüte Gott! Das widerfahre dir nur nicht!“ Und Jesus Antwort: „Hebe dich, Satan, von mir! Du bist ein Ärgernis, denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist!“ Und dann folgt die erste Leidensankündigung, eine Predigt an die Jünger vom Kreuz und von der Nachfolge, vom Leben und von der Erlösung, von des Menschen Seele und Gottes Reich. Und in dieser Leidensankündigung der bekannte Satz: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Eine Frage, der wir nun nachdenken wollen mit aller Offenheit und Betroffenheit dieses heutigen Tages.

Wir denken zurück an jenen Tag vor 31 Jahren. Wie viel Not und Enttäuschung, wie viel Angst und Bitterkeit, wie viel Schmerzen und Tränen am Abend dieses Tages, der mit soviel Hoffnung und Mut und Opferbereitschaft begann. Da wurde gehandelt in der Erkenntnis dieses Wortes Jesu. Gegen alle Arroganz, gegen jeden Zynismus, gegen das Böse schlechthin – personifiziert in dieser verkrümmten Gestalt Adolf Hitlers – galt es zu widerstehen, galt es anzugehen, galt es Zeuge zu sein. Denn hier wurde die Welt beansprucht in maßlosem Egoismus und gleichzeitig die Seele negiert in maßloser Verachtung. Keine Fragen waren mehr erlaubt, nur Kadavergehorsam befohlen. Aber das Gewissen entschied, das Gewissen stand auf, bei wenigen und doch so vielen, das Gewissen als Widerschein und gehorsame Antwort auf diese lebendige und lebendigmachende Frage.

So überdenken wir auch diesen Tag, an den so viel erinnert wurde. Und die Frage Jesu bleibt als Frage unüberholbar stehen: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Es ist gut, dem Vergangenen ein Gedächtnis zu bewahren, nachzudenken und in Ehren zu halten, was da geschehen ist. Aber die Frage bleibt eben eine lebendige Frage, geht uns also heute an. Oder wollen wir behaupten, dass Anmaßung, Hybris, Bosheit keine Zeitgenossen wären? Oder noch deutlicher: dass dieses nicht ein Teil von uns selbst geblieben ist in unseren staatlichen, gesellschaftlichen, kirchlichen und persönlichen Versuchen, die Verantwortung zum Leben wahrzunehmen? Wer sich hier ärgert und Skandal ruft, der prüfe zuerst den Zusammenhang. Wehren wir nur ab, was weh tut, gewiss in guter Absicht, aber eben doch wie ein Petrus, ehe er die Frage an sich herankommen lässt im Kreis der anderen Jünger? Oder lassen wir uns zurechtweisen, sind wir noch offen für den größeren Lebenshorizont, nämlich, dass es nicht um unsere Macht, sondern um unser Heil geht? Und zwar ganz konkret um je mein eigenes Dasein und Sosein, wie wir denn beim Namen gerufen sind seit unserer Taufe, auf dass sich Gottes Güte und Barmherzigkeit verwirkliche in dem, was an uns menschlich ist.

Dieser Abend hier in Maria Regina Martyrum, an dem wir uns auch wieder in ökumenischem Geist begegnen, als Christen zuerst und Menschen, gewiss dann auch katholisch und evangelisch – dieser Abend lässt uns, bei aller Dankbarkeit des Erlebten und Erfahrenen, auch ins Morgen blicken. Wie werden wir in unsere Dinge und Verhältnisse, in unsere Verantwortung und in unseren Auftrag, in unser je eigenes Leben zurückkehren? Ich wünschte, dass uns die Frage Jesu weiter begleitete, nunmehr gefüllter, widerständiger, lockender, provozierender, befreiender, klärender, ermutigender und tröstender als bisher. Diese Frage: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Ohne diese Frage sind wir nicht lebensfähig. Und es mag uns auch schmerzen, dass Jesu in der ersten Leidensankündigung den Seinen diese Frage aufgebürdet und nicht sofort unsere Pläne und Positionen und Institutionen bestätigt: bei Licht besehen und hineingefordert in das umfassende „Tut Buße! Kehrt um! Metanoite!“

Können wir nur sagen: „Gott lob:“ Wir werden noch gefragt, wie wir es halten wollen mit der Welt und mit der Macht und mit dem Gewinnstreben, mehr noch, was uns denn bedeuten Sünde, Seele, Vergebung. Wenn wir in uns hineinhorchen und wenn wir uns umsehen, welch verheerendes Ausmaß seelischer Verödung und Verkümmerung müssen wir da entdecken!? Ist nicht all die Brutalität und Gedankenlosigkeit, mit der wir die Welt ausbeuten und vermarkten, eine Folge beschädigter Seelen? Und was da umtreibt im Blick auf den so furchtbar bedrohten Frieden – Massenvernichtungsmittel und Massenverachtungsmaßnahmen in Ost und West, in Nord und Süd. Ist nicht auch das die Folge seelenloser oder seelenkranker Menschlichkeit, so dass es zur Unmenschlichkeit immer nur noch ein kleiner Schritt ist?

Liebe Schwestern und Brüder: diese Frage ist heute der Lehrtext im Losungsheft der Herrenhuter Brüdergemeinde für den 20. Juli. Wer Ohren hat zu hören, der höre! Lassen wir die Frage Jesu an uns heran, in uns hinein, dann auch wieder als glaubwürdiges Zeugnis aus uns heraus, zu mahnen und zu trösten den Menschen, die Menschen. „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Zeugen solcher Mahnung, frühe Zeugen angesichts perfider Menschenverführung und gemeiner Missachtung jeglicher Menschlichkeit und Humanität sind zwei Menschen: Edith Stein, Paul Schneider.

Edith Stein, Karmelitin im Kölner Karmel – Schwester Theresa Benedicta war ihr Ordensname – starb 1943 in Auschwitz. Sie schrieb einmal: „Gott verlangt nichts vom Menschen, ohne ihm zugleich die Kraft dafür zu geben. Der Glaube lehrt es, und die Erfahrung aus dem Glauben bestätigt es. Das Innerste der Seele ist ein Gefäß, in das der Geist Gottes einströmt, wenn sie sich ihm Kraft ihrer Freiheit öffnet. Und Gottes Geist ist Sinn und Kraft. Er gibt der Seele neues Leben und befähigt sie zu Leistungen, denen sie ihrer Natur nach nicht gewachsen wäre und er weist zugleich ihrem Tun die Richtung.

Paul Schneider, zuletzt Pfarrer in Dickenschied auf dem Hunsrück bis zu seiner Verhaftung – vor ein paar Tagen noch stand ich an seinem schlichten Grab dort auf dem Friedhof außerhalb des Ortes – er starb am 18. Juli 1939 nach vielen Folterungen an einer Strophantinspritze im KZ Buchenwald. Noch in der äußersten Qual des Lagerdaseins war er seinen Mitgefangenen ein Tröster, noch im Lager hat er nicht aufgehört, mit der ihm eigenen Unerschrockenheit die Wahrheit zu sagen, wann immer ein Bekenntnis am Platze war. In seinem letzten Brief schreibt er: „Wie wir es bisher getan haben, so wollen wir weiter Gott allein vertrauen, in Demut und Geduld, von ihm allein alles Gute erwarten und Ihn von ganzem Herzen lieben, fürchten und ehren. So wird Gott mit uns sein und wir werden nicht zuschanden in unserer Hoffnung. Seid getrost und treu und fürchtet euch nicht. Ich behalte euch fest in meinem Herzen. In Gott sind wir ungeschieden ... Neue Leiden sollen uns neue Erfahrungen unseres Gottes und neue Herrlichkeit bringen.“

Zwei Stimmen, stellvertretend für viele, die diese Frage Jesu in ihrem Leben aufgenommen und mit letzter Konsequenz beantwortet haben. Zwei Stimmen auch, die einander geschwisterlich entsprechen und im ökumenischen Horizont dasselbe bezeugen, nicht um die Macht geht es, sondern um das Heil. Darum, dass wir – mit Martin Luthers Erklärung zum ersten Gebot – Gott über alle Dinge zu fürchten, lieben und vertrauen. Und Gott segnet die, die für ihre Seele sorgen und segnet mit ihnen diese Welt.

Amen.