Der deutsche Widerstand gegen den Russlandfeldzug

Ingeborg Fleischhauer

Der deutsche Widerstand gegen den Russlandfeldzug

Festvortrag von Dr. Ingeborg Fleischhauer am 19. Juli 1987 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin

Es gehört zu den scheinbaren Paradoxien der deutschen Nachkriegs-Forschung über den Widerstand und besonders seine Genese, dass die Rolle, die der Komplex Russland beziehungsweise Sowjetunion im Bewusstsein der oppositionellen Eliten spielte, so gut wie unberücksichtigt geblieben ist. Der europäische Osten wird im überwiegenden Teil der Darstellungen als ein bedrohlicher und unter dem Ringen um die Zeit immer näher rückender Kontrasthintergrund transparent, gegen den die Hand voll beherzter Männer ihre Aktion zur Rettung von Volk und Staat in die Wege zu leiten suchten. Auch die bis vor kurzem vorliegenden Analysen der außenpolitischen Bestrebungen der Verschwörer gingen fast ausschließlich auf die Kontakte zu den Westmächten ein und thematisierten die Versuche der Anbahnung von Gesprächen mit dem Osten bestenfalls als Forschungsdesiderat. Die deutsche Widerstandsforschung hat es aus Gründen, die selbst einer Untersuchung wert wären, weniger vermocht, sich diesem aus deutscher Nachkriegsperspektive so schwierigen Fragenkomplex zu stellen, – sie neigte vielmehr zu seiner Negierung. Erst in neuester Zeit wird man sich dieses Mangels bewusst, steht heute allerdings einem vertieften Quellenproblem gegenüber.

Dieses Defizit überrascht umso mehr, wenn man bedenkt, dass: – die aktiven Militärs unter den Verschwörern gerade während der tiefen individuellen und kollektiven Miseren des Russlandfeldzugs zu ihrer klaren inneren Überzeugung von der Notwendigkeit und Unaufschiebbarkeit des Staatsstreichs heranreiften; – die an der Verschwörung beteiligten Zivilisten aus Gründen ihrer unaussprechlichen Scham über die im weiten europäischen Osten begangenen Untaten, die Millionen deutscher Männer mit in den Sog der Gewalt zogen, gegen die Urheber dieses vielfachen Opfergangs ausstanden und – die weltpolitisch denkenden und gesamteuropäisch orientierten Diplomaten unter ihnen aus dem Bewusstsein ihrer besonderen Verpflichtung gegenüber West und Ost handelten.

Die Gründe für die nachhaltige Verdrängung dieses so nahe liegenden Problemkreises sind vor allem in jenem Übermaß an Schuld zu suchen, das die deutsche Nation in diesem Jahrhundert in einer bestürzenden Kontinuität von außenpolitischen Irrwegen gegenüber dem russischen Volk und den Völkern der russisch-sowjetischen Randgebiete aufgehäuft hat: Diese Irrwege setzten – sieht man selbst von dem durch allseitigen Stammeshass begünstigten Beginn des Ersten Weltkriegs einmal ab – mit jener „destruktiven Russlandpolitik“ ein, für die der Name Ludendorff negativen Symbolwert besitzt; sie setzten sich im Bündnis Hitlers mit Stalin, seinem Kalkül von Zynismus gegenüber den betroffenen Völkern und Täuschung des Vertragspartners, fort; und sie führten mit dem mot d'ordre eines Vernichtungs- und Unterwerfungskrieges in die tiefsten Agonien, die Krieg führende Nationen wohl bis dahin durchlebt haben.

Dieser Berg von Schuld – eine Metapher, in der der Begriff Schuld die psychoanalytische Dimension von Furcht und Bestrafung und Wille zur Selbstbestrafung umfasst – erreichte so gigantische Ausmaße, dass er bis jetzt den Blick auf das Naheliegende verstellt.

So kann es nicht überraschen, dass die Einstellung der außenpolitischen Planer der Verschwörung des 20. Juli 1944 zur Ost-West-Frage schon in den ersten Nachkriegsjahren umstritten war und dieser Sachverhalt trotz mancher ernsthaften Versuche, besonders ostdeutscher Historiker, nach wie vor nahezu unverändert fortbesteht. So haben noch heute die Ansichten Geltung, der suchende und prüfende Blick der Verschwörer nach Osten habe sich in einem taktischem Manöver, in Erpressung und „Mühlespielen“ mit den Alliierten, wenn nicht einfach in Restbeständen revolutionärer Romantik oder schlicht Illusionen erschöpft. Vor einer Gestalt allerdings bleibt die Forschung in einer gewissen Ratlosigkeit stehen: der des Botschafters Friedrich Werner Graf von der Schulenburg. Sein Mut zur Verständigung mit dem Osten selbst in den düstersten Monaten nach Stalingrad und Kursk wurde allerdings schon damals von seinen Kollegen auf realitätsfernen Optimismus oder blinden Glauben des alternden Diplomaten zurückgeführt; umso leichter konnte er später als Ausdruck unverbesserlichen wilhelminischen Konservatismus abgetan werden.

Was wirklich die Männer um Henning von Tresckow, Graf Stauffenberg und Trott zu Solz bewog, den um eine Generation älteren Schulenburg im Herbst 1943 an exponierter Stelle in ihre Pläne einzubeziehen, was Beck veranlasste, ihn und Hassell wenige Tage vor dem Attentat zu sich zu bitten, um nun endgültig dem früheren Botschafter in Moskau das Ressort des Auswärtigen und damit die Last der Friedensangebote nach allen Seiten anzutragen, ist bisherigen Überlegungen auf symptomatische Weise entgangen, – der Ausgang des Krieges und die Nachkriegsentwicklung hatten uns den Blick für jene Möglichkeit getrübt, die Patrioten wie Schulenburg im Angesicht des Verfalls von Volk und Vaterland unter Einsatz ihres Lebens zu realisieren hofften: eine glaubwürdige Wendung auch nach Osten mit dem Ziele der sittlichen Vereinigung der deutschen Schuld und Schaffung einer wohlfundierten, beständigen Nachkriegsordnung.

Sie werden es dem Ost-Historiker, der nicht in erster Linie ein Widerstandsforscher ist, nachsehen, wenn er nach mehr als vierzigjähriger Geschichtsforschung des deutschen Widerstandes nicht mit einer spektakulären Entdeckung vor Sie hintritt. Erlauben Sie mir deshalb, heute aus der Sicht des Ostwissenschaftlers ein vernachlässigtes Kapitel deutscher Widerstandsforschung nachzutragen, das von einem Seitenwege, der deutschen Russland-Diplomatie kommend, in die Bewegung des 20. Juli einmündete und mit dieser hier, am 10. November 1944 in Plötzensee, seinen – aus einer höheren Warte – ehrenvollen, verdienten Abschluss fand: Es ist das Kapitel der Kriegsverhinderungsstrategie der deutschen Botschaft Moskau. Diese wurde zu einem Zeitpunkt zu einer Bastion des Widerstandes gegen Hitlers Entschluss zur Ausmerzung der Lebenskräfte des russischen Volks und Staats, zu dem andere potentielle Gegenkräfte bereits ausgeschaltet waren: Von den russophilen Teilen des deutschen Militärs bis zur Kommunistischen Partei, von Russland- oder sowjetfreundlichen Gruppierungen der bürgerlich-demokratischen Mitte bis zum Arbeiterwiderstand war keine organisierte Kraft erhalten und in Freiheit, die dem Entschluss zum Russlandfeldzug ein wirksames Gegengewicht hätte entgegensetzen können. Allerdings fiel auch der Botschaft Moskau und den mit ihr verbundenen Kräften zu einem Zeitpunkt das Hauptgewicht des Widerstandes gegen Hitlers Russlandpolitik zu, in dem sie kaum noch Handlungsfreiheit, geschweige denn Einfluss besaß: In einer Zeit, zu der – nach Ulrich von Hassell – „die Zertrümmerung des Auswärtigen Amts ... in der Richtung an die Parteilandsknechte, sei es SS, sei es SA“, voranschritt, der Staatssekretär des Auswärtigen Amts als auslandswirksame Attrappe für aristokratisch-beamtenhafte Verlässlichkeit und württembergische Gediegenheit bürgen sollte und der Außenminister zur Marionette eines unsteten und unberechenbaren Kanzlers geworden war, besaß die Botschaft Moskau per se weder Ansehen noch Gewicht.

Aus Berliner Sicht als totes Gleis zur Abschiebung diplomatischer und militärischer Querulanten betrachtet, hatte sie allerdings gegen Ende der dreißiger Jahre eine Konstellation von Persönlichkeiten aufzuweisen, die auch in den nervlichen Zerreißproben der abrupten Wechselbäder nationalsozialistischer Außenpolitik festen Zusammenhalt bewies: Botschafter Friedrich Werner Graf von der Schulenburg hatte im wilhelminischen Deutschland über acht Jahre die deutschen Konsulate Warschau und Tiflis im kaiserlichen Russland geleitet, bevor die schülersche Reform des Auswärtigen Amts nach Kriegsende die demütigende Beschränkung des vermögenslosen Amtsangehörigen auf die konsularische Laufbahn aufhob. Mit der Weimarer Republik in den diplomatischen Dienst übergegangen, versäumte er es während seiner Berlin-Aufenthalte nie, dem Vertreter des Sowjetstaates einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Mit Graf Brockdorff-Rantzau war er gut bekannt und besuchte ihn, dessen Amtszeit im Sowjetstaat mit der NEP-Periode zusammenfiel, häufig in seiner Moskauer Residenz. Zu Rudolf Nadolny, einem Crew-Kameraden, bestand ein freundschaftliches Verhältnis, das auch anhielt, als Schulenburg den aus Protest gegen Hitlers Ostpolitik zurückgetretenen Botschafter am 1. Oktober 1934 in Moskau ablöste. Hier standen Schulenburg als persönliche Referenten in den ersten sechs Jahren der Stresemann-Schüler Hans Herwarth von Bittenfeld und in der Zeit des Molotow-Ribbentrop-Paktes Gebhardt von Walther zur Verfügung. Die beiden neben dem Botschafter wichtigsten Persönlichkeiten waren Dr. Gustav Hilger als Beauftragter für Handelsfragen und Generalleutnant Ernst Köstring als Militärattaché, beide in Russland geborene und aufgewachsene Deutsche mit einem profunden Wissen der örtlichen Verhältnisse und einem großen Bekanntenkreis, zu dem im Falle Köstrings – aus der Zeit der gemeinsamen Zusammenarbeit in Reichswehr und Roter Armee – auch Militärs, wie Semen Michajlovic Budennyj, gehörten. Das Dreigestirn Schulenburg-Hilger-Köstring umfasste einige der besten Russland-Kenner des Deutschland jener Jahre.

In politischer Hinsicht operierte die Botschaft bis zu einem gewissen Grade im Niemandsland zwischen Hitler und Stalin. In ihrer ideologischen Ferne zu beiden besaß sie einen archimedischen Punkt der Beobachtung und des Vergleichs. Weil sie nach der Beobachtung der Diplomaten dritter Länder – „gleichermaßen weit vom Geist der bolschewistischen und der nationalsozialistischen Doktrin entfernt war“, erkannte sie auch die Möglichkeiten, ja Notwendigkeit einer Politik des Ausgleichs und des Einvernehmens zwischen den beiden in mancher Hinsicht artgleichen Systemen sehr viel klarer als befangene Beobachter. Die Auffassung Bismarcks, dass die Interessen Russlands und Deutschlands zusammenfielen, war für sie auch unter den gegebenen Zeitumständen nachgerade Gesetz. Die Zuspitzung des ideologischen Gegensatzes führte sie überwiegend auf das zunehmend aggressive Hasspotential des Nationalsozialismus zurück. Die Analogien und gewisse Formen zunehmender Konvergenz zwischen den beiden „Führer“-Staaten erkannte sie klar, – außenpolitisch war für sie Hitler der weit gefährlichere, da unberechenbare Teil, der Stalin – bei ähnlicher Unmenschlichkeit in der Innenpolitik – an staatsmännischem Format weit nachstand. Die Frage der Parteizugehörigkeit wurde an der Botschaft offen -, Partei und SD weitestgehend „vor der Tür“ gelassen. Schulenburg hat sich niemals um Parteibeitritt bemüht, – offenbar ohne sein Zutun wurde statt dessen für ihn als den Leiter einer der großen Auslandvertretungen des „Dritten Reichs“ am Tage seines Amtseintritts in Moskau in der NSDAP-Zentrale Berlin eine Ersatz-Mitgliedskarte hinterlegt. Hilger ist der Partei niemals beigetreten. Köstring stand ihr innerlich unverändert fern.

Im Hinblick auf die Deutschland-Politik der UdSSR herrschte an der Botschaft die Überzeugung, dass Stalin im Grunde eine Fortsetzung der Allianz mit Deutschland wünschte: Trotz Fehlschlagens seiner Angebote an den neuen Kanzler Hitler, die im Frühjahr 1934 von Litvinov über Nadolny nach Berlin gelangten, hatte er noch bis ins Jahr 1937 hinein versucht, die deutsche Seite für ein tragfähiges Paktsystem zu interessieren; dieses sollte den beiden durch Versailles gedemütigten und – nach seinem Verständnis – erneut der „imperialistischen Einkreisung“ ausgesetzten Mächten größere Handlungsfreiheit geben. Die Botschaft hob diese sowjetische Interessenlage in ihrer Berichterstattung hervor; ihr Bemühen richtete sich dabei darauf, Hitler durch festere vertragliche Bindungen außenpolitisch zu zähmen. Stalins Einstellung kam ihr dabei entgegen. Denn das System der kollektiven Sicherheit mit den Westmächten, das Außenminister Litvinov nach Zurückweisung seiner Angebote durch die deutsche Regierung aufgebaut hatte, befriedigte seine Bedürfnisse letztlich nicht.

Den eklatanten Beweis dafür lieferte die Sudetenkrise vom Spätsommer 1938,- die erste Konfrontation, mit der sich die Botschaft zu manifestem Widerstand gegen Hitlers Kriegspolitik herausgefordert sah.

Anders als seine Kollegen in den westlichen Hauptstädten wusste der deutsche Botschafter in Moskau, dass die Regierung, bei der er akkreditiert war, vom deutschen Vorgehen gegen die Tschechoslowakei nicht nur aufgrund ihrer vertraglichen Pflichten, sondern auch in ihren Sicherheitsinteressen tangiert war. Die Botschaft wusste auch, dass die noch von den Schlägen der Säuberung betäubte Rote Armee schwer am russisch-japanischen Grenzkonflikt trug. Für eine Zwei-Fronten-Konfrontation schien sie nicht reif. Dem cauchemar des coalitions, in dem Stalin mit Beginn der Krise lebte, wäre er – so konnte es der Botschaft scheinen – gern durch eine Lösung entgangen, in der Deutschland Japan Zurückhaltung auferlegen und dafür freie Hand im Sudetenland erhalten würde. Doch eine solche Lösung hätte nach Ansicht des Volkskommissars für Äußeres, Maxime M. Litvinov, und nach Kenntnis der Botschaft für Hitler einen Freibrief zur ungezügelten Expansion bedeutet.

Die Botschaft setzte daher ihre Hoffnungen auf eine klare Haltung der Sowjetregierung, die geeignet war, Hitlers militärischem Drängen Einhalt zu gebieten. Sie erfüllten sich – trotz der zündenden Worte Litvinovs vor dem Genfer Völkerbund – nicht: Weder traf der sowjetische Generalstab die geringsten Vorkehrungen, noch sicherte das Außenkommissariat der Regierung Benesch wirksame Hilfe zu.

Um der schwelenden Krise entgegenzuarbeiten, begab sich der Botschafter – und parallel zu ihm sein Referent – Anfang August 1938 nach Berlin. Während Herwarth hier durch Dr. Eduard Brücklmeier, einen vertrauten Mitarbeiter Schulenburgs aus seiner Teheraner Zeit, in die Staatsstreichpläne der Opposition eingeweiht wurde, suchte der Botschafter auf die Berliner Entscheidungsträger einzuwirken. Die Ergebnisse waren negativ, und die herrschende Stimmung überzeugte Schulenburg, dass Hitler zu allem – auch der Provozierung eines bewaffneten Grenzkonflikts unter Inkaufnahme eines Zwei-Fronten-Krieges – fähig war. Dies veranlasste den Botschafter, noch in Berlin – möglicherweise in Absprache mit dem ihm nahe stehenden Canaris – den sowjetischen Geschäftsträger, Georgij Astachov, aufzusuchen, um über ihn die Sowjetregierung über die bedrohliche Situation aufzuklären. Seine Offenheit wurde auf sowjetischer Seite nicht korrekt gedeutet. Wie Astachov Außenkommissar Litvinov in seinem Bericht mitteilte, deckte sich die Lagebeschreibung Schulenburgs zwar mit der des französischen Botschafters in Berlin, Francois Poncet, und sogar der des tschechoslowakischen Botschafters, Mastny; „Selbst Schulenburg“ – so schrieb Astachov – „hat nicht verheimlicht, dass die Lage äußerst gespannt ist und man, wenn keine Entladung erfolge, für nichts garantieren könne, besonders wenn in der Tschechoslowakei ein paar Deutsche umgebracht würden ...“ Doch die logische Schlussfolgerung aus dieser Mitteilung – den Schluss, dass die Sowjetregierung dem zu allem entschlossenen Hitler jetzt mit Festigkeit entgegentreten müsse – wagte Astachov nicht zu ziehen.

An dem Tage, an dem General Ludwig Beck aus Protest gegen Hitlers Kriegspläne seinen Rücktritt erklärte (18.8.1938), reiste der deutsche Botschafter unverrichteter Dinge nach Moskau zurück. Hier meldete er sich umgehend im Außenkommissariat an. Nach zwei Tagen wurde er vom Stellvertretenden Außenkommissar Potemkin empfangen. Nach dem Protokoll Potemkins „verheimlichte Schulenburg nicht, dass die Lage in Mitteleuropa erneut einen äußerst gespannten Charakter angenommen habe“ und sich Hitler zu einer bewaffneten Aktion entschließen könnte. Statt auf die tiefe Besorgnis des Botschafters einzugehen, leitete Potemkin das Gespräch auf den russisch-japanischen Grenzkonflikt über, – mit einer „merkwürdigen Geste“ besorgter Hilflosigkeit nahm Schulenburg diese implizite Antwort auf seine Fragen – die mangelnde sowjetische Bereitschaft, notfalls in eine Zwei-Fronten-Konfrontation einzutreten zur Kenntnis.

Zwei Tage später sprach er bei Litvinov vor: Nach dem Protokoll Litvinovs versuchte Schulenburg „angestrengt, das Gespräch auf das tschechoslowakische Problem zu lenken, indem er versuchte, die Stimmung in der Tschechoslowakei, in England, Frankreich und in der UdSSR zu klären“. Litvinov hatte zunächst „den Eindruck, dass er einen speziellen Auftrag seiner Regierung hatte“, einen Eindruck, den er im Nachhinein in Zweifel zog, ohne indes das von ihm als „vieldeutig“ betrachtete Verhalten Schulenburgs rechtzeitig zu verstehen. Tatsächlich hatte Schulenburg mit seinen bohrenden Fragen Anhaltspunkte für eine feste Haltung der sowjetischen und mit ihr verbündeten Regierungen zu gewinnen versucht, um diese zu Zwecken der Abschreckung nach Berlin weiterzugeben.

Ein klassisches Beispiel für seine Berichterstattung, die zu diesem Zwecke die vorsichtigen sowjetischen Aussagen in überspitzter Form nach Berlin weitergab, enthält der Satz: „Wenn Litvinov auch nur davon sprach, Frankreich werde ‚mobil machen’, es für mich unzweifelhaft ist, dass er mit diesem Ausdruck gemeint hat, Frankreich werde Deutschland angreifen. In ähnlicher Form berichtete er auch die Meinung Litvinovs nach Berlin, Hitler nehme die Sudetendeutschen nur zum Vorwand, er erstrebe die Vernichtung der gesamten Tschechoslowakei und „wolle das Land erobern“. Deutschland werde – was auch immer geschehen werde – der unprovozierte Eroberer sein. Doch die Wirkung dieser massiven Warnungen der Botschaft scheiterte an der sowjetischen Passivität.

Während Schulenburg vergeblich auf Litvinov einzuwirken suchte, nahm sein persönlicher Referent – in Absprache mit Brücklmeier und den mit ihm verbundenen Kräften der deutschen Opposition – Verbindung zur britischen Botschaft in Moskau auf, um diese von nun an genauestens über die Entwicklung in Deutschland zu unterrichten. Eine der ersten Nachrichten, die dem Foreign Office auf diesem Wege zuging, besagte, dass es für Berufsdiplomaten wie Graf Schulenburg äußerst beunruhigend (very disturbing) sei, mit ansehen zu müssen, wie Deutschland ungestraft in die Tschechoslowakei einfallen werde ...

Nach der Münchner Konferenz und dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei (1.10.1938) suchte die Botschaft – trotz großer Enttäuschung über die sowjetische Passivität – in ihrer offiziellen Berichterstattung die in Berlin entstandene Euphorie zu dämpfen; warnend gab sie die Aussage Stalins wieder, dass nun „der zweite imperialistische Krieg tatsächlich schon begonnen“ habe und „Oberster Grundsatz der sowjetischen Politik... die Bekämpfung des Faschismus und die Stärkung der Machtmittel des Sowjetstaates“ sei. „Jeden Ausfall der Aggressoren, sei es im Westen oder im Osten“ wolle Stalin „mit einem dreifachen Gegenschlag beantworten“.

Es war eine tragische Koinzidenz der Ereignisse, dass sich der politische Handlungsspielraum der deutschen Botschaft Moskau zu dem Zeitpunkt zu weiten begann, als Hitler nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei den polnischen Staat ins Visier nahm und zur ungestraften Durchführung seiner Polen-Pläne die Passivität der UdSSR benötigte, wenn er zur Unterstützung seiner Kriegswirtschaft das sowjetische Rohstoffreservoir ausbeuten wollte. Als der Botschafter Mitte Mai 1939 in Berlin erfuhr, dass Hitler nun zu einer Annäherung an die Sowjetunion bereit sei, eröffnete sich der Botschaft doch eine Möglichkeit: Sie suchte aus einem taktischen Zweckbündnis auf Zeit, wie es Hitler vorschwebte, eine feste vertragliche Bindung auf Dauer zu machen. Ihr Ziel war es dabei, den deutschen Diktator zumindest in seiner Ost-Politik auf ein unverrückbares Prokrustesbett zu schlagen. Die Botschaft, die sich zu diesem Zwecke nach Kräften für die Erneuerung und Erweiterung des Berliner Vertrags von 1926 einsetzte, konnte nicht verhindern, dass ihre Bemühungen zur Entstehung des Molotow-Ribbentrop-Paktes beitrugen, einem der folgenschwersten Kapitel der deutschen Kriegsvorbereitung. Ihr zähes Ringen um eine dauerhafte vertragliche Bindung, das in den offiziellen Dokumenten nur begrenzt Niederschlag finden konnte, war indes in jeder wichtigen Verhandlungsphase wirksam; sie trug damit entscheidend dazu bei, dass die Sowjetregierung ihr Misstrauen überwand und schließlich in den Pakt einwilligte.

Lassen Sie mich dies kurz an zwei wichtigen Phasen der Vorbereitung dieses Paktes dokumentieren:

1. Mitte Mai 1939 war der Botschafter in Berlin angewiesen worden, in Moskau den Gedanken eines politischen Vertrags anzusprechen. Da er – wie auch seine sowjetischen Gesprächspartner – an der Echtheit dieses Angebots zweifelte, stellte er fortan die beträchtliche sowjetische Kühle in den Mittelpunkt seiner Berichterstattung. Gleichzeitig gab er Molotow zu verstehen, die Sowjetregierung möge sich mit Bedacht und ohne Eile auf dieses nicht ungefährliche politische Gleis begeben. Sein Verhalten trug wahrscheinlich dazu bei, dass die Sowjetregierung zur politischen Frage schwieg, aber die Wiederaufnahme von Wirtschaftsverhandlungen anbot. Der Botschafter nutzte das Schweigen der Sowjetregierung, um nach einem Monat erneut nach Berlin zu reisen und die auf deutscher Seite bestehende Bereitschaft in die Richtung dauerhafter Vereinbarungen zu lenken: Die Regierung, dies war seine Argumentation, sollte endlich eine überzeugende Erklärung darüber abgeben, dass sie keine Angriffsabsichten gegen die Sowjetunion hege, und die Gültigkeit und den freundschaftlichen Geist des Berliner Vertrags bestätigen.

Unter dem Zeitdruck der Polenpläne stehend, gaben Hitler und Ribbentrop dem Drängen des Botschafters nach. Dieser suchte umgehend den sowjetischen Geschäftsträger in Berlin, Astechov, auf, um ihm mitzuteilen, die deutsche Seite meine es nun endlich ernst. Diese Mitteilung Schulenburgs entsprach – nach Darstellung Ivan Majskijs – „den sowjetischen Wünschen und bedeutete einen für uns günstigen Umschwung in der deutschen Politik“.

2. Als Ende Juli 1939 auf Drängen Hitlers in Berlin und Moskau Vorverhandlungen aufgenommen wurden, verwendeten die deutschen Unterhändler – Schulenburg in Moskau in Absprache mit Dr. Karl Schnurre, dem Leiter der Ostgruppe der handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amts in Berlin – eine Taktik des Zeitgewinns; sie setzten an die Stelle des von Hitler gewünschten sofortigen Abschlusses ein Drei-Etappen-Schema, das der Sowjetregierung größere Flexibilität im Ausbau ihrer Verhandlungspositionen einräumen sollte und deshalb von ihr mit Erleichterung aufgegriffen wurde. Gleichzeitig spielte die Botschaft in ihrer Berichterstattung die Bedeutung der sowjetischen Verhandlungen mit England und Frankreich herunter, die Hitler und Ribbentrop rechtzeitig zu torpedieren suchten; daneben aber gab sie gezielte Warnungen an die Westmächte ab, sie sollten ihren Einsatz wenn möglich erhöhen. Schließlich gab der Botschafter in unmissverständlicher und wahrscheinlich wiederum überspitzter Klarheit die Ansicht Molotows nach Berlin weiter, Deutschland allein trage die Verantwortung für seine Polen-Politik, so dass „was auch immer geschehen möge – die Schuld auf uns fallen würde.“

Seine dilatorische Gesprächsführung begründete der Botschafter noch am 15. August 1939, zwei Wochen vor dem geplanten Angriff auf Polen und angesichts des immer unwilliger drängenden Hitler, mit seiner ruhig vorgetragenen „Meinung, dass jedes stürmische Vorgehen in dieser Angelegenheit unserer Beziehungen zur Sowjetunion vermieden werden sollte; es wird fast immer schädlich wirken.“ Mit kühlem Mut konterte er die hektischen, sich überschlagenden Weisungen aus Berlin mit den Worten Molotows: „Was man angefangen habe, müsse man auch zu Ende führen.“ Diese Taktik des Zeitgewinns war so evident, dass Hitler und Ribbentrop erwogen, den Botschafter seines Amtes zu entheben, die Verhandlungen nach Berlin zu verlegen und Schulenburg in den Verhandlungen durch einen Parteigetreuen und Mann dritter Wahl zu ersetzen. Das Veto der Sowjetregierung, die die Fortsetzung in Moskau wünschte, sowie das Zusammenspiel zwischen Köstring, Weizsäcker und Schulenburg machten diese Pläne zunichte. Schulenburg selbst reagierte auf diese Versuche mit dem gemessen, aber bestimmt vorgetragenen Hinweis: „Gespräche mit Herrn Molotow führe ich wohl sicher am besten und am leichtesten. Der merkwürdige Mann und schwierige Charakter hat sich jetzt an mich gewöhnt und hat in Gesprächen mit mir einen großen Teil seiner stets gezeigten Zurückhaltung fallen lassen. Jeder neue Mann würde von vorn anzufangen haben.“

Dass er mit dieser Einschätzung nicht fehlging, bestätigte Molotow umgehend: Er teilte dem Botschafter mit, die Unterredungen der letzten Wochen hätten die Sowjetregierung endgültig davon überzeugt, dass es die deutsche Regierung nunmehr wirklich ernst meine; sie zweifle nicht länger an ihrer Aufrichtigkeit.

Dies schien der Moment, um das Vertragswerk zustande zu bringen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Sowjetregierung gegenüber Deutschland im Wesentlichen folgende Wünsche geltend gemacht: Abschluss eines deutsch-sowjetischen Nichtangriffs-Pakts, der die Sowjetunion unter anderem vor einer Verwicklung in den deutsch-polnischen Konflikt schützen sollte; gemeinsame Garantieerklärung in Bezug auf die baltischen Staaten; Einflussnahme Deutschlands auf Japan mit dem Ziel der Einstellung der japanischen Aggression.

Weit umfangreicher waren die sowjetischen Forderungen an die Westmächte: Sie umfassten das „Durchmarschrecht“ durch Polen in Richtung Norden (Ostpreußen) und Süden (Galizien), d.h. in der Praxis Stationierung sowjetischer Truppen und damit faktisch Besetzung großer Teile Polens; „Durchmarschrecht“ durch Litauen, d.h. Besetzung des südlichen Litauens; „Durchmarschrecht“ durch Rumänien; in der Ostsee die Besetzung der Alands-Inseln vor der finnischen, der Insel Ösel, Dagö, Worms vor der estländischen Küste und der Häfen Hangö, Pernau, Hapsal und Libau durch die Sowjetflotte; die (militärische) Neutralisierung Finnlands sowie sowjetische Stützpunkte in den Meerengen des Schwarzen Meeres und in der Donaumündung.

Mit einem Deutschland, wie es Schulenburg zu vertreten schien, wünschte die Sowjetregierung folglich ein erweitertes Rapallo-artiges Bündnis mit Garantien in Polen und im Baltikum sowie Ruhe im Osten, gegen Deutschland hingegen beträchtlichen territorialen Zugewinn zur Ausweitung und Absicherung dessen, was sie als „Sicherheitszone“ verstand.

Dieses Bild änderte sich drastisch an jenem 18. August 1939, an dem Ribbentrop völlig überstürzt in die sowjetische Hauptstadt fliegen wollte, um nun im Direkthandel mit Moskau den Pakt in Hitlers Sinne zum Abschluss zu bringen. Nachdem Ribbentrop ungebeten „vollständiges Entgegenkommen“ in allen Fragen signalisierte und mit Blanko-“Vollmacht des Führers“ den „Gesamtkomplex der deutsch-russischen Beziehungen zu verhandeln und ... entsprechende Verträge zu unterzeichnen“ anbot, erwähnte Molotow zum ersten Mal ein „Protokoll“, das gewisse auswärtige Fragen regeln sollte, schlug die Geburtsstunde des geheimen Zusatzprotokolls, das rund 50 Millionen Menschen dem Willen der großen Zwei aufopfern sollte.

Ribbentrop griff diese Anfrage umgehend auf und erklärte, er sei durch „Generalvollmacht des Führers“ ermächtigt, „ein spezielles geheimes Protokoll zu unterzeichnen“, um den „Gesamtfragenkomplex“ der Interessensphären „abschließend zu regeln“. Hitler untermauerte diese in der jüngeren Geschichte präzedenzlose Erklärung, als er Stalin am 20. August 1939 in einem persönlichen Telegramm seine Entschlossenheit ausdrückte, aus dieser „historischen Wende“ „alle Konsequenzen“ zu ziehen. Erst dann legte die Sowjetregierung Ribbentrop jenen Wunschkatalog vor, der die Verluste restituieren sollte, welche Russland am Ende des Ersten Weltkrieges hatte hinnehmen müssen, – aus sowjetischer Sicht die vollendete Revision der durch den Versailler Vertrag geschaffenen Situation.

Das prompte deutsche Entgegenkommen hätte Stalin nachdenklich machen müssen. Er war es nicht. Unbekümmert und in einer nachgerade verantwortungslosen Vertrauensseligkeit offenbarte er sich bei den an den Paktabschluss anschließenden Feierlichkeiten seinen deutschen Gästen als ein Freund Deutschlands, der seine westlichen Partner immer nur mit abschätzigem Misstrauen in Kauf genommen hatte. Die deutsche Botschaft war seit dem persönlichen Eingreifen Ribbentrops und Hitlers praktisch aus den deutsch-sowjetischen Beziehungen ausgeschlossen. Aus seiner Perspektive eines Beobachters erkannte der Botschafter, dass Hitler teure Positionen am Verhandlungstisch preisgegeben hatte, um sie auf dem Schlachtfeld wiederzuerringen. Mit diesem Pakt, so teilte er seinen Mitarbeitern mit, seien nun doch die Bremsen gelockert worden, die Deutschland vor der Fahrt in den Abgrund hätten bewahren können.

In der Periode des Molotow-Ribbentrop-Paktes leistete die Botschaft – nach der Beobachtung der Diplomaten dritter Länder – diplomatischen Widerstand gegen den Bruch dieses Vertrages. Denn dieser Vertrag stellte – so zweifelhaft auch der geheime Anhang zu dem an sich durchaus erstrebenswerten Nicht-Angriffs-Pakt war – eine Bindung dar, die Hitlers Unberechenbarkeit zügeln, weiteren Expansionsplänen, zumindest im Osten, Einhalt gebieten könnte.

Das Bestreben der Botschaft in der ersten Phase des Pakts, die bis zum Molotow-Besuch in Berlin im November 1940 anhielt, war darauf gerichtet, Berlin die großen wirtschaftlichen und politischen Vorzüge vor Augen zu führen, die das feste Bündnis im Osten brachte. Die Haltung der Sowjetregierung, die peinlichst bemüht war, ihrem deutschen Partner entgegenzukommen, erleichterte der Botschaft ihr Geschäft. In der zweiten Phase des Pakts, in der die weiter reichenden militärischen Pläne Hitlers nicht mehr zu sehen waren, entwickelte sie einen zunehmend verzweifelten Kampf um Verhinderung dieses Krieges. Das Scheitern ihrer Versuche, allen Beteiligten die Augen zu öffnen, entbehrt – so fragmentarisch es die Dokumente auch erkennen lassen – nicht einer tiefen menschlichen und weltpolitischen Tragik.

Das Verhalten Stalins und der Sowjetregierung während der Paktzeit hat die Position, die die Botschaftsangehörigen später in den Reihen der deutschen Opposition einnahmen, stark mitgeprägt.

Während des Polenfeldzugs wurde die Botschaft Zeuge des militärisch noch unvorbereiteten und politisch zögernden Handelns der Sowjetführung. Die Berichte des Botschafters, nach denen Moskau durch den erfolgreichen deutschen Blitzkrieg in Polen „völlig überrumpelt worden“ sei, gaben die Stimmung korrekt wieder. Es bedurfte eines fast dreiwöchigen deutschen Drängens, um Stalin zum parallelen militärischen Eingreifen in Polen zu bewegen. Erst die Genugtuung über das in Polen erreichte Einvernehmen, über das im Grenz- und Freundschaftsvertrag von 27. September 1939 bezeugte deutsche Entgegenkommen in Hinblick auf Litauen und über die Zurückhaltung der Westmächte veranlassten die Sowjetregierung, nun unter wachsendem Expansionsdrang und im Gleichschritt mit den deutschen Eroberungszügen in Nord- und Westeuropa militärisch voranzuschreiten. Der finnische Winterkrieg bewies allerdings, bis zu welchem Grade unvorbereitet sich die Rote Armee an der Seite ihres hochgerüsteten deutschen Partners auf die durch den Pakt vorgezeichneten militärischen Abenteuer einließ. Der misslungenen Einverleibung Finnlands folgten im Sommer 1940 die Besetzung der baltischen Länder und Bessarabiens, – der anderen Teile der der UdSSR zugesprochenen „Interessensphäre“. Sie nahm diese – nach offizieller sowjetischer Sprachweise – „wieder in Besitz“. Hinter diesem Euphorismus stand die Tatsache, dass die von ihr beanspruchten Gebiete, selbst die von ihr beanspruchten Gebiete, selbst die gegen deutschen Protest besetzte Nordbukovina, früher längere oder kürzere Zeit zum Russischen Reich gehört hatten. Den „Dank“ dafür, dass ihm diese „Heimholung genuin russischer Gebiete“ mit deutscher Hilfe gewährt wurde, stattete Stalin den deutschen Vertretern in beeindruckenden Gesten von Freundschaft und Gastlichkeit ab.

Seine wiederholten Beteuerungen, er wünsche ein starkes Deutschland im Herzen Europas als Partner auf Dauer, er wünsche den deutschen Sieg über die Westmächte und sei bereit, Deutschland zu diesem Zwecke in jeder Weise zu unterstützen, wurde als Ausdruck seiner wahren Interessen verstanden. Seine Berufung auf Bismarcks Leitsatz, dass es beiden Völkern stets gut ginge, wenn sie zusammenhielten, aber schlecht, wenn sie gegeneinander ständen, entsprach – nach Moskauer Beobachtung seinem tatsächlichen Standpunkt. Die Tatsache, dass Stalin und Molotow ein starkes und siegreiches Deutschland als „unbedingte Voraussetzung für den Frieden in Europa“ betrachteten und nicht tolerieren wollten, dass „die Westmächte Bedingungen schaffen, die Deutschland schwächen“, wurde bereits im Bericht des Botschafters vom 19. Oktober 1939 betont, – sie galt auch nach dem eklatanten deutschen Sieg über Frankreich als unwiderrufen. Selbst als sich nach der verfehlten deutschen Invasion in England in den Berliner Ämtern Missmut sowie Misstrauen gegenüber den sowjetischen Absichten regte, erbrachte Stalin durch immer größere Lieferfreudigkeit, ja schließlich die Zusage nahezu unbegrenzter Lieferungen aus der Sicht der Botschaft den Beweis, dass er den deutschen Sieg im Westen wünsche. Die These vom Abnützungs- oder Zermürbungskrieg, in den Stalin seinen deutschen Partner angeblich treiben wollte, – eine These, die nach der gescheiterten England-Invasion aufkam und noch heute in der Geschichtsforschung wiederkehrt -, schien der Botschaft sinnentfremdet. So notierte Freiherr von Weizsäcker noch am 17. Januar 1941, zu einem Zeitpunkt, in dem sich Schnurre, vom Abschluss des Handelsvertrags und ausführlichen Gesprächen mit Schulenburg und Hilger aus Moskau kommend, in Berlin aufhielt, die Worte: „Kenner Russlands behaupten sogar, Russland strebe gar nicht nach einer deutschen Niederlage. Seine Zukunft sei gesicherter, wenn Deutschland als kräftiger ... Faktor in Europa dominiere“.

Der Molotow-Besuch in Berlin sowie die ihm folgende Note Stalins vom 25. November 1940 bewiesen noch einmal, dass die Sowjetregierung in erster Linie ein festes, tragfähiges Bündnissystem mit Deutschland wünschte. Sie war zu diesem Zwecke sogar bereit, dem sogenannten Antikominternpakt beizutreten und ihre Interessen auf deutschen Wunsch nach Süden, in Richtung auf die Meerengen und die Gebiete des Commonwealth, zu verlagern. Die nicht unbeträchtlichen sowjetischen Gegenforderungen erklärte die Botschaft durch das wachsende sowjetische Sicherheitsbedürfnis angesichts der deutschen Expansion, etwa im Balkan. Die außenpolitisch gut orientierten Kreise der deutschen Opposition, wie etwa Ulrich von Hassell, teilten diese Meinung.

Das Scheitern des Versuchs Molotows, eine Erweiterung des bestehenden Vertragswerks zustande zu bringen – ein Versuch, den die Botschaft nach Kräften unterstützt hatte -, sowie die Tatsache, dass die Stalin-Note trotz mehrmaliger Nachfragen in Berlin unbeantwortet blieb, belehrte die Botschaft darüber, dass Hitlers Kriegspläne feststanden. Offiziell wurde ihr jede Information vorenthalten. Die Botschaft wusste seit August 1940 von Hitlers Entschluss zum Russlandfeldzug. Sie hielt ihn für Wahnsinn und war überzeugt, dass er den Untergang Deutschlands nach sich ziehen würde. Nacheinander hatten General Köstring (gegenüber Generalstabschef Halder), Herwarth (gegenüber Generalmajor von Lossbern im Wehrmachtsführungsstab) und der Referent des Botschafters Walther durch eine kollektive Denkschrift der Botschaft, die er über Hasso von Etzdorf an Halder leitete, die Unhaltbarkeit dieses Entschlusses unter Beweis gestellt. Als diese Initiativen ergebnislos blieben und um die Jahreswende 1940/41 die ersten Gerüchte über die Planung des „Unternehmens Barbarossa“ durchsickerten, ging die Botschaft zu einer konzertierten Form des Kampfes gegen die Verwirklichung dieser sog. Führerweisung über: Mit Schnurre, der sich Mitte Januar 1941, nach Abschluss des bisher umfassendsten Handelsvertrags, nach Berlin begab, wurde verabredet, dass er eine Einladung Schulenburgs nach Berlin in die Wege leiten und das Terrain durch entsprechende Gespräche bereiten sollte. Während Schnurre dann in persönlichen Vorstellungen bei Ribbentrop, Hitler, Göring und dem Oberkommando der Wehrmacht jedem wirtschaftlichen Argument für diesen Feldzug den Boden entzog, verfasste der Botschafter zusammen mit Hilger und Köstring eine Denkschrift gegen diesen Krieg, die auch auf Hitlers Tisch gelangte. Sie führte die Idee eines Blitzkrieges ad absurdum und wies nach, dass selbst ein langer Krieg unter höchstem Einsatz von einer deutschen Angriffsarmee nicht zu gewinnen war.

Während der Botschafter über drei Monate um eine Reise nach Berlin rang, lösten seine kompromisslose Offenheit sowie die intensiven Kontakte, die er und seine Mitarbeiter zu Vertretern der Westmächte unterhielten, die ersten SD-Nachforschungen und Anschuldigungen gegen ihn aus. Er entkräftete sie mit Nachdruck, stellte sich schützend vor seine Mitarbeiter und setzte seine Aktivitäten äußerlich völlig unberührt fort.

Vor seiner Abreise nach Berlin, am Ostersonntag, dem 13. April 1941, kam es auf dem Moskauer Bahnhof zu jener merkwürdigen improviso, in welchem Stalin Schulenburg in freundschaftlicher Vertrautheit die Worte mit auf den Weg gab: „Wir müssen Freunde bleiben, und dafür müssen Sie jetzt alles tun!“ Diese „Bahnhofsszene“ – in den Augen westlicher Beobachter der „absonderlichste Akt, der je von einem Oberhaupt eines großen Staates vollzogen wurde“ – wurde von der Botschaft als höchstes Bekenntnis Stalins zur Allianz mit Deutschland verstanden.

Nach ausführlichen Erörterungen der Lage in Berlin, wo nun auch Staatssekretär von Weizsäcker auf seine Weise in die Bemühungen um Verhinderung dieses Krieges einstimmte, wurde der Botschafter nach zweiwöchigem, beharrlichen Warten in den Vorzimmern der Reichskanzlei am Nachmittag des 28. April 1941, zum letztmöglichen Termin, von Hitler empfangen; Hitler tat dies mit sichtlichem Widerstreben und erst, nachdem sich der Botschafter geweigert hatte, unverrichteter Dinge nach Moskau zurückzufahren, sein verlängerter Aufenthalt in Berlin aber in Moskau bereits Gerüchte auslöste und seine Abwesenheit bei der Maiparade auf dem Roten Platz auf deutsche Angriffsabsichten hätte schließen lassen können.

Das halbstündige Gespräch mit Hitler begann der Botschafter mit der Bemerkung, die Sowjetregierung sei „sehr unruhig über die Gerüchte, die einen deutschen Angriff auf Russland voraussagen“. Er wies auf das bekannte sowjetische Bedürfnis „nach 300%iger Sicherheit“ und die Tatsache hin, dass der russische Truppenaufmarsch ausschließlich als Antwort auf die gewaltigen deutschen Truppenkonzentrationen an der sowjetischen Westgrenze erfolgte. Er betonte, dass das sowjetische Verhalten gegenüber Deutschland – anders als das deutsche Vorgehen in Rumänien und auf dem Balkan – korrekt sei und kein Zweifel an der Aufrichtigkeit der sowjetischen Haltung bestehe. Er erinnerte an die Bahnhofsszene und die wiederholt beteuerte Bereitschaft Stalins, Deutschland noch weitergehende Konzessionen zu machen. Die düstere Anspielung Hitlers, England wolle Russland zum Angriff auf Deutschland kaufen, wies er zurück: Der Realpolitiker Stalin hätte im August 1939 die werbende Hand eines starken England und Frankreich zurückgewiesen, um ihnen Deutschland vorzuziehen, – noch weniger würde er jetzt mit einem geschwächten England paktieren wollen.

Im Verlauf des Gesprächs musste der Botschafter erkennen, dass er mit seinen Argumenten offene Türen einlief: Hitler wusste, dass Stalin keine Angriffsabsichten hegte. Als er Schulenburg deshalb brüsk mit den Worten entließ: „Und noch eins, Graf Schulenburg, einen Krieg gegen Russland beabsichtige ich nicht!“, stand für diesen fest, dass Hitler ihn vorsätzlich mit der Unwahrheit abgespeist hatte.

Mit der Erkenntnis: „Der Krieg ist beschlossene Sache!“ kehrte er nach Moskau zurück. Die bis zum Angriff verbleibenden Wochen nutzte die Botschaft, um in kompromissloser Klarheit und mit dem Mut der Verzweiflung letzte, höchste Warnungen in deutsche und – nachdem diese unbeantwortet blieben – auch in sowjetische Richtung zu geben. Auf militärischem Gebiete unterstrich Köstring die rein defensive, auf einen Angriff unvorbereitete Stellung der Roten Armee; auf handelspolitischem Gebiete wies Hilger – unterstützt von Schnurre in Berlin – immer wieder auf die Promptheit der Lieferungen und das unbegrenzte Entgegenkommen der sowjetischen Partner hin und auf übergreifend politischem Gebiet unterstrich der Botschafter die übergroße Konzilianz Stalins, seine die Grenzen der Selbstgefährdung berührende, ausweichende Zurückhaltung gegenüber dem deutschen Vorgehen. Gleichzeitig sprach er vor Diplomaten dritter Länder sehr offen seine Befürchtungen aus, was neue SD-Nachforschungen gegen ihn zur Folge hatte. Ende Mai 1941 war die Botschaft virtuell aus dem diplomatischen Verkehr mit Berlin ausgeschlossen.

In diesem Moment entschloss sich der Botschafter zu einem Schritt des Widerstandes, der durchaus in die Nähe des sogenannten Landesverrats reichte: Schulenburg und Hilger luden den zu Konsultationen in Moskau weilenden sowjetischen Botschafter in Berlin, Vladimir Dekanozov, zusammen mit dem Leiter der Deutschland-Abteilung des Außenkommissariats, Pavlov – beide enge Mitarbeiter Stalins – zu einem Arbeitsfrühstück in die Residenz ein, um ihnen im vertrauten Gespräch ohne Zeugen den Ernst der Lage vor Augen zu führen. Sie empfahlen der Sowjetregierung dringend, sofortige Gegenmaßnahmen – etwa zunächst in Form einer diplomatischen Offensive – zu ergreifen, um Hitlers Pläne schnellstens zu durchkreuzen. Doch die sowjetische Reaktion war ungläubige Ratlosigkeit. Die Gäste wollten wissen, ob dieses Gespräch im offiziellen Auftrag erfolgte und worin die Legitimation der Gastgeber zu dieser Art der Gesprächsführung bestand. Nach Stunden vergeblicher Bemühungen stellten Schulenburg und Hilger ihre Versuche resignierend ein.

Die Gründe für diese Haltung der Sowjetregierung – ein Gegenstand der Forschung, der bisher in Ost und West noch nicht zufriedenstellend geklärt wurde und in Zukunft wohl entscheidender Korrekturen bedarf – sah die Botschaft im unverrückbaren Vertrauen Stalins in die deutschen ‚Tugenden’: Rationalität, Verlässlichkeit und unverbrüchliche Partnerschaft. Als der Botschafter daher in den Morgenstunden des 22. Juni 1941 in Begleitung Hilgers zum letzten Mal den Kreml betrat, um sich des schwersten Auftrags seines Lebens zu entledigen, und Molotow ihm im Anschluss an seine Erklärung die Worte entgegenhielt: „My ètogo ne zasluzivali!“(Das haben wir nicht verdient!) pflichtete er ihm im Wissen um die Berechtigung dieser Aussage bei.

Die Umschreibungen dieses Angriffskrieges als eines „Präventivkrieges“, die Hitler in seinem Memorandum an die Sowjetregierung sowie seiner Erklärung an das deutsche Volk entwickelte und neuere deutsche Geschichtsforschung neu zu beleben sucht, war aus Sicht der Botschaft ein Ausdruck leugnerischer Entstellung oder krankhafter Phantasmagorien.

Mit Beginn des sogenannten Russlandfeldzugs vollzog sich in den Kreisen der deutschen Opposition einerseits und des Auswärtigen Amts andererseits eine charakteristische Scheidung der Geister: Die außenpolitisch gut informierten Personen, wie etwa Ulrich von Hassell, erblickten in ihm den Beginn der endgültigen Katastrophe Deutschlands, und die Russland-Kenner im Auswärtigen Amt und Dienst hielten den Krieg für ein Unglück (Herwarth), die Ziele Hitlers und Ribbentrops für phantastisch (Herwarth); demgegenüber neigten andere der oppositionellen Kräfte im Auswärtigen Amt – nach Hans-Bernd von Haeften umfasste die Opposition nicht weniger als 60% der Amtsangehörigen – nun zu der Ansicht, der Krieg, so unnötig und gefährlich seine Entfesselung auch gewesen sei, müsse nun, da er einmal vom Zaune gebrochen sei, im Interesse Deutschlands gewonnen werden. Die ehemaligen Mitglieder der deutschen Botschaft Moskau aber hoben weiter hervor, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen sei. Wo immer sie sinnvollerweise zu argumentieren glaubten – vor Hitler, Ribbentrop und im geheimen Gespräch unter Kollegen – sagten sie die weitere militärische und politische Entwicklung in exemplarischer Klarheit voraus. Bei Hitler trafen die Vorhaltungen Schulenburgs, Hilgers und Köstrings, dieser Krieg sei ein unverzeihlicher Fehler, der sofort korrigiert werden müsse, nur auf kalte Verachtung. Er wies ihre wiederholten, verzweifelten Nachstellungen mit der Entgegnung zurück, der Krieg werde in sechs Wochen enden. Als aber die Idee des Blitzkriegs und mit ihr die ursprüngliche militärische Planung Ende August 1941 gescheitert war, ließ er sie gar nicht mehr vor. Als zu diesem Zeitpunkt die offizielle „Sprachregelung“ in Umlauf gebracht wurde: Nun erst werde die wahre Stärke und militärische Bereitschaft der Roten Armee sichtbar, der Hitler mit seinem Überraschungsangriff im Sommer 1941 noch rechtzeitig zuvorgekommen sei, betonten sie weiter, dass sowjetische Angriffsabsichten nicht existiert, ein Zweifel an der Stärke der Roten Armee aber auch niemals bestanden hätten.

Während sie einerseits weiter auf eine Gelegenheit warteten, der bis dahin unbelehrbaren deutschen Führung die Augen zu öffnen, richteten sie andererseits ihre Bemühungen darauf, den kleineren ostmitteleuropäischen Völkern sowie Randgruppen der UdSSR, die unverschuldet zwischen die Reibungsflächen der großen Zwei geraten waren, ihr Schicksal zu erleichtern. Im Dickicht der Kompetenzüberschneidungen der nationalsozialistischen Ämter suchten sie Bedingungen zu schaffen, unter denen diese Völker – die Kaukasier vor allem, aber auch die Balten, Polen und Ukrainer – die Unabhängigkeit von Deutschland und Russland erringen könnten. Die Unnachgiebigkeit ihrer Anti-Kriegs-Haltung und das Bemühen, in Absprache mit Canaris und den Reformkräften im OKH Bedingungen für einen nationalen Befreiungskampf der zweifach unterworfenen kleineren Völker zu schaffen, lösten ab Sommer 1942 massierte Nachstellungen des Reichssicherheitshauptamtes aus. Sie nahmen in den frühen Sommermonaten 1943 zumindest für Botschafter Schulenburg zunehmend gefährliche Formen an.

Im Sommer 1943 war der Erkenntnisprozess dieser nach langjährigem Auslandsaufenthalt in den Herd des Weltbrandes zurückgekehrten Männer im Wesentlichen abgeschlossen: Die im sogenannten Führerhauptquartier bestehende Situation ließ keine Hoffnung auf einen Sinneswandel der deutschen Führung zu. Versuche, Ribbentrop und über ihn Hitler an den Verhandlungstisch zu bringen, die von Canaris und Weizsäcker unterstützt und mit japanischer und italienischer Hilfe lanciert worden waren, blieben ergebnislos. Eine politische Lösung des Weltkonflikts war mit einer nationalsozialistischen Regierung nicht möglich. Die Niederlage der deutschen Armee und Zerschlagung Deutschlands waren eminent, wenn nicht sofort eine entscheidende Veränderung in Deutschland erfolgte. Als sich im August 1943 durch eine neuartige Konstellation in der deutschen Opposition die Chance eines totalen und auch im Ausland glaubwürdigen Regimewechsels abzeichnete, stellte sich Botschafter Graf von der Schulenburg im Alter von 68 Jahren und im vollen Bewusstsein um die Tragweite dieses Entschlusses der Verschwörer-Gruppe um Beck, Goerdeler und bald auch Stauffenberg zur Verfügung. Er plädierte für die sofortige Aufnahme von Verhandlungen mit Stalin, um diesen Krieg zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu beenden.

Die Idee von Friedensverhandlungen der Opposition mit Stalin schien im Sommer 1943 – trotz der endgültigen militärischen Wende in der Schlacht von Kursk und Orel – für einen diplomatischen Pragmatiker vom Range Schulenburgs aus einer Reihe von Gründen weniger illusorisch, als dies später – vor dem Hintergrund des Kriegsendes und der alliierten Nachkriegspolitik – rückwirkend den Anschein hatte:

1. Während der gesamten Kriegsdauer hatte Stalin eine klare Trennungslinie zwischen dem deutschen Volk und seiner derzeitigen Führung gezogen und betont, dass „die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk und der deutsche Staat aber bestehen bleiben“. Stalin war an der Forderung nach „bedingungsloser Kapitulation“ unbeteiligt. Diese Tatsachen konnten – in Kenntnis seines früher betonten Wunsches nach einem starken Deutschland im Herzen Europas – zu der Annahme führen, er sei auch weiter an der Erhaltung eines stabilen Faktors Deutschland interessiert.

2. Im Sommer 1942 hatte die Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe der sogenannten „Roten Kapelle“ illegale Propaganda für einen Sofort-Frieden mit der UdSSR gemacht. Mit der Zerschlagung dieser Gruppe ab September 1942, dem Prozess und der Hinrichtung ihrer Mitglieder im Dezember 1942 gelangten Nachrichten in Umlauf, die anzudeuten schienen, dass diese Gruppe Anhaltspunkte für eine Friedensbereitschaft Stalins gegenüber einem veränderten Deutschland besaß. Diese Nachrichten gelangten über Verbindungsleute auch zur Kenntnis des Kreisauer Kreises und der Beck-Goerdeler-Gruppe. Freilich konnte eine Verständigungsbereitschaft Stalins mit Teilen der deutschen Opposition im Sommer 1942 – der Zeit des tiefsten deutschen Eindringens in sowjetisches Gebiet – eine andere Bedeutung besitzen, als im Sommer 1943, der Zeit, in der die Rote Armee die irreversible Wende erzwang.

3. Die Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland am 13. Juli 1943, d.h. noch während der Schlacht von Kursk und Orel, schien indes das Interesse Stalins zu bestätigen, mit den geläuterten Teilen des deutschen Militärs und Volks eine Friedensordnung herbeizuführen. Bei sofortigem kampflosen Rückzug der deutschen Wehrmacht schienen auch im Sommer 1943 Waffenstillstandsgespräche und ein für die oppositionellen Kräfte akzeptabler Friedensschluss möglich.

Dabei blieb allerdings aus Sicht der Opposition die Frage offen, ob ein Waffenstillstand und eventueller Friedensschluss im Osten zu einem Separatfrieden mit Stalin oder aber als erster Schritt zu einer allgemeinen Friedenslösung hätte führen können und sollen. Da die deutsche Opposition kaum Einblick in die interalliierte Kommunikation besaß, schien ihr die zweite Möglichkeit zumindest nicht grundsätzlich verschlossen.

4. Die Sowjetregierung war in der Phase zwischen Stalingrad und Kursk, den Monaten Januar bis Juli 1943, nicht abgeneigt gewesen, deutsche Vorstellungen über einen eventuellen Friedensschluss anzuhören. Wie immer man diese „Anhörung“ auch interpretieren konnte – als Instrument zur Ausübung eines Drucks auf die Alliierten oder als Ausdruck eines ernsthaften, wenn auch vorsichtigen Entgegenkommens gegenüber neuen deutschen Kräftekonstellationen – es hatte vermutlich zumindest ein Treffen zwischen sowjetischen und deutschen Unterhändlern stattgefunden (das Treffen Nikitins mit einem Ribbentrop-Boten in Stockholm in der zweiten Juni-Woche 1943), – das offenbar an den illusionären deutschen Vorstellungen, wie dem Besitz der Ukraine, gescheitert war.

Allerdings hatten die beiden Streitkräfte einander zu diesem Zeitraum etwa mit gleicher Stärke gegenüber gestanden und die Krise der Koalition eine zunehmende Verbitterung der Sowjetregierung sowie Misstrauen gegenüber den westlichen Kriegszielen und Absichten ausgelöst. Ferner erfolgten die deutsch-sowjetischen Berührungspunkte auf neutralem Territorium in indirektem zeitlichen Kontert mit Kontaktnahmen deutscher Sendboten zu westlichen Vertretern. Da bekannt war, dass Stalin Absprachen fürchtete, die zu einem Separatfrieden im Westen führen konnten, war es auch denkbar, dass er seinen Koalitionspartnern lediglich nicht nachstehen und für den Ernstfall eine Gegenlösung parat haben wollte.

5. Es war Admiral Canaris gelungen, in einer kühnen Verknüpfung zwischen geheimdienstlicher Manipulation und oppositioneller Friedensbereitschaft im neutralen Schweden eine vermittelnde Instanz zu etablieren, die Zugang zur Sowjetvertretung herzustellen suchte. Von dieser Instanz wurde Schulenburg als der für die Verhandlungen geeignete Mann erwähnt. Dieser plädierte dafür, die in dieser Verbindung enthaltenen Möglichkeiten auszuloten. Er hatte zunächst in diesem Sinne auf Ribbentrop einzuwirken versucht; als Hitler jede Sondierung in dieser Richtung untersagt hatte, stellte er seine Kenntnis und seine Vermittlerrolle Ende Juli/ Anfang August 1943 über seinen früheren Mitarbeiter Brücklmeier der Beck-Goerdeler-Gruppe zur Verfügung.

Die damit einsetzenden Bemühungen dieser Gruppe, eine Gesprächsbeziehung zur Sowjetregierung herzustellen, müssen vor den Hintergrund der sowjetischen Außen- und Koalitionspolitik nach drei Zeiträumen gesondert betrachtet werden: – dem Zeitraum von Mitte Juli (deutsche Niederlage bei Kursk, Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland) bis Anfang Dezember 1943 (Konferenz von Teheran); – dem Zeitraum der vertieften sowjetisch-westlichen Zusammenarbeit zwischen der Konferenz von Teheran und der Errichtung der zweiten Front, d.h. Dezember 1943 bis Anfang Juni 1944; – und dem kurzen Abschnitt zwischen 6. Juni und 20. Juli 1944.

Im Zeitraum von Mitte Juli bis Dezember 1943 schien die Gesprächsbereitschaft Stalins trotz des nunmehr unaufhaltsamen sowjetischen Vormarsches nicht gänzlich erloschen. Im Kontext der schwersten Koalitionskrise ging ihm die Nachricht zu, dass die westlichen Alliierten die seit langem versprochene zweite Front in Europa auf dem Balkan errichten wollten. Ein solches Vorgehen konnte aus sowjetischer Sicht die Vision eines imperialistischen cordon sanitaire quer durch Ostmitteleuropa, von Jugoslawien bis nach Polen, hervorrufen. Dem hätte die Sowjetregierung durch eine diplomatische Vorwärtsstrategie zuvorkommen können, indem sie etwa durch Verhandlungen mit einer potentiellen deutschen Widerstandsregierung einen Brückenschlag ins Herz Europas vollzogen hätte. Nicht zufällig war die Frage nach den Möglichkeiten eines deutsch-russischen Separatfriedens im Zeitraum August bis Oktober 1943 ein Alptraum Roosevelts und das dominierende Thema der Expertenstäbe der westlichen Geheimdienste. Da durch das Eintreten Stauffenbergs in den engen Kreis der Verschwörer der Entschluss zum Staatsstreich in diesem Zeitraum konkretisiert und eine Konsolidierung von Militärs und Zivilisten erreicht wurde, die eine geeignete Regierung versprach, hätte auch ihr Sendbote vor Stalin mit entsprechender Legitimation auftreten können.

Als Schulenburg im August 1943 durch Vermittlung von Eduard Brücklmeier mit Carl Goerdeler zusammentraf, gab er der Staatsstreichplanung mit dem Ziel der Beseitigung Hitlers und Etablierung einer nationalen Regierung unter Ausschluss der Nationalsozialisten seine Zustimmung und erklärte sich bereit, mit Stalin über die Modalitäten eines Waffenstillstandes, beziehungsweise Friedensschlusses zu verhandeln. Er wollte eine einseitige Wendung nach Osten, mithin die Suche nach einem Separatfriedensschluss mit Stalin vermieden wissen und empfahl, gleichzeitig Verbindung zur britischen Seite zu suchen. Eine taktische Wendung nach Osten mit dem Ziel einer Spaltung der Allianz, wie sie in diesem Zeitraum sowohl von offiziellen Dienststellen als auch in oppositionellen Kreisen erwogen wurde, und jede Art des „Mühlespielens“ mit den Alliierten, lehnte er ab. Seine Hoffnung bestand wohl darin, über das mit der Sowjetregierung geteilte, gemeinsame Interesse an der sofortigen Einstellung der Kämpfe, d.h. über einen zunächst einseitigen Waffenstillstand zu einer allgemeinen Waffenruhe und anschließenden umfassenden Friedenslösung zu gelangen. Er hielt dies nicht für ausgeschlossen, wenn die deutsche Seite dem kühlen Rechner Stalin mit vollständiger Aufrichtigkeit begegnete und befriedigende Angebote unterbreitete: Diese konnten nur im bedingungslosen Rückzug der deutschen Truppen zu den Grenzen von 1939 und einer klaren und endgültigen Verzichtserklärung im Hinblick auf jene Gebiete bestehen, die bis 1914 zum Russischen Reich gehört hatten. Dabei wären im Spätsommer 1943 vielleicht noch gemeinsame Garantieerklärungen im Hinblick auf Polen, Rumänien und die baltischen Länder denkbar gewesen, neben Deutschland also wahrscheinlich einer Reihe von ostmitteleuropäischen Ländern eine Form von Unabhängigkeit erhalten geblieben.

Unter dem Einfluss Schulenburgs stellten Goerdeler und Beck ihre Reserven gegenüber dieser unter dem Stichwort „Ostweg“ erörterten Lösung zurück. Auf dem gemeinsam erzielten Grundakkord aufbauend, beriet Schulenburg – nach vorausgegangenen vorbereitenden Gesprächen zwischen Goerdeler und Henning von Tresckow – bei einem Treffen mit Tresckow, das noch im August auf Vermittlung Brücklmeiers in der Wohnung Schulenburgs stattfand, die technischen Möglichkeiten, um zu Stalin zu gelangen. Tresckow schlug die Durchschleusung Schulenburgs durch die deutschen Linien im Gebiet der Heeresgruppe Mitte vor. Das Planungsschema, das beide Männer entwickelten, sah vor, dass Schulenburg mit Stalin in Verhandlungen eintreten sollte. Kamen sie „zu einem Ergebnis ..., so sollte eine militärische Aktion in Deutschland den Umsturz herbeiführen“, wobei diese Aktion möglicherweise – gewissermaßen mit Deckung Stalins – von den deutschen Osttruppen ausgehen sollte. Dies bedeutete offenbar, dass Schulenburg unter der Voraussetzung geeigneter verbindlicher Versprechen der Opposition die Zusicherung Stalins erwartete, er werde im Moment des geplanten Staatsstreichs und des ihm folgenden Rückzugs des deutschen Ostheeres die Einstellung der Kampfhandlungen verfügen, um so der deutschen Opposition und der aus dem Staatsstreich hervorgehenden Regierung eine Chance zu geben.

In den folgenden Monaten sollten in mehreren Anschlussgesprächen zwischen Tresckow und Schulenburg die technischen Voraussetzungen für diese Aktion geschaffen werden. Zu diesem Zwecke hat Tresckow, möglicherweise auch Schulenburg selbst, Verbindung zu Generalfeldmarschall von Kluge, dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, aufgenommen, um mit seiner Unterstützung einen Flug hinter die sowjetischen Linien zu bewerkstelligen. Diese Planung erwies sich im Herbst 1943, möglicherweise im Zusammenhang mit dem Ausscheiden Kluges nach einem Unfall am 12. Oktober 1943 oder der Versetzung Tresckows an die Front im nämlichen Zeitraum, als undurchführbar. Dessen ungeachtet trat der sogenannte Ostweg in den weiteren außenpolitischen Planungen des Herbstes 1943 weiter in den Vordergrund. Ende Oktober/ Anfang November 1943 suchte Adam von Trott zu Solz im Rahmen einer Schwedenreise vergeblich Zugang zur sowjetischen Gesandtin in Stockholm Aleksandra Kollontaj. Der Zeitpunkt war ungünstig: In Moskau tagte die Außenministerkonferenz, die Sowjetregierung erwartete größeres Entgegenkommen der Westmächte und konnte sich schwerlich die Blöße eines derartigen Treffens, und sei es auf unterster Ebene, geben. Dennoch sprach sich Schulenburg auch in einer Lagebesprechung mit Goerdeler und Hassell, die Ende November 1943 in der Wohnung Brücklmeiers stattfand, mit Zuversicht für die Verständigungsbereitschaft Stalins aus. Eine Änderung trat mit der Kenntnis der Konferenz von Teheran ein.

Der Zeitraum von Dezember 1943 bis 6. Juni 1944 (zwischen der Konferenz von Teheran und der Invasion am Atlantik) war von der bis dahin intensivsten Zusammenarbeit der Alliierten gekennzeichnet. Nachdem Roosevelt und Churchill der Sowjetregierung in Teheran unerwartet große Konzessionen gemacht und die Errichtung der zweiten Front definitiv für Frühjahr 1944 und – wie es Stalin wünschte – am Atlantik zugesagt hatten, trat in der Koalition eine Phase der Entspannung ein; sie fand unter anderem in einem Geheimdienstabkommen zwischen den USA und der UdSSR ihren ungewöhnlichen Ausdruck.

In der Beck-Goerdeler-Stauffenberg-Gruppe verringerte sich die Hoffnung auf eine Verständigung mit Stalin, wurden Schulenburg und Hassell – als Protagonisten des Ost- beziehungsweise Westwegs – vereint als potentielle Außenminister einer Umsturzregierung vorgesehen, – sie sollten je nach Lage der Dinge Gespräche in der einen oder anderen Richtung beginnen. Darüber hinaus nahm unter dem Eindruck des gewaltigen sowjetischen Terraingewinns – am Verhandlungstisch der großen Drei wie auf dem deutsch-sowjetischen Kriegsschauplatz – in den Kreisen der Verschwörer das Interesse an der sogenannten Westlösung zu: Sie sah vor, in Absprache mit den Westmächten die Westfront zum Stehen zu bringen oder zu öffnen, die deutschen Truppen an die Ostfront zu verlegen und den sowjetischen Vormarsch aufzuhalten. Diese Vorstellungen, die den Vertretern der Westmächte nun auch in ausgereiften militärischen Planungen vorgelegt wurden, stießen bei diesen auf Ablehnung. In dieser hohen Zeit der Allianz forderten die Westmächte prinzipiell eine gleiche bedingungslose Kapitulation jeder deutschen Regierung gegenüber der UdSSR, wie sie sie seit der Konferenz von Casablanca für sich in Anspruch nahmen. Auf offiziellem und geheimdienstlichem Wege dürfte die Sowjetregierung in allen Einzelheiten Kenntnis von dieser geheimen Kommunikation zwischen Vertretern der Beck-Goerdeler-Stauffenberg-Gruppe und der Westmächte erhalten haben. Sie war zumindest in diesem Zeitraum detailliert über Meinungsbild und Planungsschemata dieser Gruppe unterrichtet.

In dieser Zeit fügte sich definitiv ihr Bild von dieser Begegnung des deutschen Widerstandes zusammen: Es unterschied überscharf einen kleinen, durch preußisch-wilhelminische Traditionen geprägten, patriotischen Flügel, der Deutschland durch eine Verständigung mit den Kräften von links zu retten suchte, von der überwiegenden Mehrheit dieser Bewegung; diese sei unter Führung Becks, Goerdelers, Schachts unter anderem für eine Fortsetzung der imperialistisch-antibolschewistischen Kriegspolitik mit westlicher Unterstützung eingetreten. Unter dieser Voraussetzung hätte sich die Sowjetregierung wohl schon deshalb mit Zusagen an eine potentielle Widerstandsregierung extrem zurückgehalten, weil sie vermuten musste, dass nach einem geglückten Umsturz der – nach ihrer Ansicht – dominierende ‚imperialistische’ Flügel die Regierungsgewalt übernehmen und, im Verein mit den Westmächten, zu einer neuen, stärkeren Bedrohung für sie werden könnte. Diese Einschätzung musste sie – unabhängig von den ohnedies profitableren Bedingungen, die ihr das Bündnis mit den Westmächten nun einräumte – beträchtlich gegenüber der Idee eines deutsch-sowjetischen Brückenschlages erkalten lassen, – eine Kühle, die tatsächlich ihren Ausdruck in wachsender Zurückhaltung auch gegenüber dem Nationalkomitee Freies Deutschland fand. Mit der erfolgreichen alliierten Landung in Frankreich änderte sich das Bild schlagartig.

In den Wochen nach der alliierten Invasion vom 6. Juni 1944 war die Sowjetregierung offenbar extrem beunruhigt über das unkontrollierbare Vordringen der westlichen Armeen ins Herz Europas. Ihre Sorge kam im Ton der Proklamationen des Nationalkomitees Freies Deutschland zum Ausdruck, das nun an einer wirkungsvollen Verteidigung der deutschen Westgrenzen interessiert schien, und sie sprach aus den forciert betriebenen Geheimverhandlungen mit Vertretern der ostmitteleuropäischen Länder.

Erneut eröffnete sich für Kenner des sowjetischen Interesses an einem soliden Faktor Deutschland im Herzen Europas die Perspektive der sowjetischen Verständigungsbereitschaft. Sie schien dadurch Bestätigung zu finden, dass Sowjetvertreter im Ausland die deutsche Linke in der Illegalität und im Exil in der zweiten Juni-Hälfte auf die demokratische Aktionseinheit festzulegen suchten und sich die Führung des moskautreuen kommunistischen Untergrundes in Deutschland entsprechend diesen Empfehlungen tatsächlich zu Gesprächen mit den Stauffenberg nahe stehenden Sozialisten bereit fand. Während Stauffenberg bei seinen Sondierungen in westlicher Richtung – diesmal mit dem Ziele von Mann-zu-Mann-Vereinbarungen der militärischen Befehlshaber – auch auf die amerikanische Ablehnung einer militärischen Westlösung unter Ausschluss der Sowjetunion stieß, schien die Sowjetregierung bereit, sich mit den Vorstellungen der deutschen Opposition vertraut zu machen. Adam von Trott zu Solz erhielt während einer Schwedenreise (19. Juni bis 2. Juli 1944) zwar keine Gelegenheit zu Direktgesprächen, konnte aber über Mittelsmänner die Frage an die Sowjetvertretung richten, ob die Regierung Stalin einer deutschen Widerstandsregierung, die auch das linke Parteienspektrum in angemessener Weise beteilige, eine Chance geben würde. Die Antwort schien zumindest zu beinhalten, dass eine solche Möglichkeit nach erfolgtem totalen Regimewechsel nicht ausgeschlossen wurde. Für Trott bedeutete sie eine Zusage.

Ein zweiter deutscher Sendbote, ein Mann von unklarer politischer Affiliation, wurde im gleichen Zeitraum, nämlich am 28. Juni 1944, ebenfalls in Stockholm, sogar von zwei gut placierten sowjetischen Diplomaten zu einem anderthalbstündigen Gespräch empfangen.

Diese deutsch-sowjetischen Kontakte in Schweden sowie das zunehmend verzweifelte Werben der Sendboten des Widerstandes um eine Form der Westlösung veranlassten auch die Regierung Churchill, in der ersten Juli-Woche 1944 einen konzilianteren Ton gegenüber der deutschen Opposition anzuschlagen; auch Roosevelt schien nun zum Einlenken sowie Absehen von der Forderung nach unbedingter Kapitulation bereit.

Als sich der Stauffenberg-Kreis am 16. Juli 1944 im Bewusstsein der katastrophalen militärischen Lage zum letzten großen Planungsgespräch versammelte, konnte Trott berichten, dass die Zusage der östlichen und westlichen Seite vorlägen. Diese Tatsache hatte Beck und Goerdeler bereits veranlasst, endgültig der sogenannten vermittelnden Lösung zuzustimmen, in der unmittelbar nach dem Staatsstreich in beiden Richtungen verhandelt werden sollte; die Verhandlungen mit der sowjetischen Seite sollte Schulenburg, unter Hinzuziehung von General Köstring für den militärischen Teil, führen.

Tatsächlich scheint sich – wohl aus Gründen der Lage an der Ostfront, der großen internationalen Reputation Schulenburgs und vielleicht auch des größeren Gewichts der sowjetischen „Zusage“ – in den letzten Tagen vor dem Attentat im engen Kreis der Verschwörer noch einmal eine gravierende außenpolitische Umorientierung vollzogen zu haben: Am 15. Juli 1944 plädierte Goerdeler gegenüber Beck für die Nominierung Schulenburgs zum Außenminister, stimmte Beck im Gespräch mit Stauffenberg unter ausdrücklicher Ablehnung einer Westlösung zu. Am 17. Juli empfing Beck die Botschafter Graf von der Schulenburg und von Hassell, um sich in diesem Sinne ihrer Bereitschaft zu versichern.

Am 20. Juli 1944, ab zwölf Uhr mittags, also weniger als eine Stunde vor dem Attentat, strahlte die BBC London in deutscher Sprache einen Aufruf des Nationalkomitees Freies Deutschland an die deutsche Wehrmacht aus; Generalleutnant Hoffmeister begann ihn mit den Worten: „Deutschland steht vor der Aufgabe, eine Basis für Friedensverhandlungen zu schaffen.“ Diese Basis müsse durch die sofortige Beseitigung Hitlers und Bildung einer neuen, verhandlungsfähigen Regierung gelegt werden. Als dieser Aufruf erfolgte und sich Graf Stauffenberg auf das Attentat vorbereitete, war Polen bis zur Weichsellinie von der Roten Armee besetzt, – auch das Russische Reich hatte Polen 1914 bis zur Weichsellinie in seine Grenzen eingeschlossen. Die baltischen Länder wurden unter analogen historischen Reminiszenzen von der Sowjetarmee besetzt. Finnland, ebenfalls für mehr als ein Jahrhundert russisches Reichsgebiet, war im Begriff, einen diktierten Frieden zu unterzeichnen, den die Sowjetregierung seit 1940 angestrebt hatte. Demgegenüber waren die Länder, die nie zu Russland gehört hatten, nämlich Rumänien, Jugoslawien, Ungarn und die Tschechoslowakei, noch unbesetzt, deutsches Gebiet nicht betreten.

Wir wissen nicht, meine Damen und Herren, worin die sowjetische „Zusage“ im Einzelnen bestanden hat, die Trott und Stauffenberg am 20. Juli 1944 vorlag. Die sowjetischen Archive enthalten vermutlich die Antwort auf diese für das Verständnis des deutschen Widerstandes nicht unbedeutende Frage.

Ohne das Gebiet des historisch-spekulativen Gedankens zu betreten, entsteht indes der Eindruck, dass für eine geeignete Regierung, die nach einem geglückten Staatsstreich gebildet worden wäre, eine außenpolitische Chance bestanden hätte. Von sowjetischer Seite wäre vermutlich zu diesem Zeltpunkt nur eine solche Regierung toleriert worden, in der eine zentrale Ausgangskonstellation von Stauffenberg, Schulenburg und möglicherweise Trott das Geschehen beherrscht hätte, und die stärker konservativen, nach Westen tendierenden Kräfte zurückgetreten, ihres Einflusses weitgehend beraubt worden wären. Dies hätte wohl eine Koalitionsregierung sein müssen, an der die Kräfte des kommunistischen deutschen Untergrunds einerseits und das Nationalkomitee Freies Deutschland andererseits in verhältnismäßig starkem Maße beteiligt gewesen wären. Ob eine solche Regierung sich auf einen breiteren Konsensus der deutschen Bevölkerung hätte stützen können, sei dahingestellt.

Nicht erkennbar ist ferner, wie eine solche Lösung einen Konsensus zwischen den Alliierten hätte erzielen können. Doch diese Frage lag bereits außerhalb des Verantwortungsbereichs der Verschwörer.

Ein Schluss aber kann mit Sicherheit gezogen werden: Ein auf solche Weise gerettetes und erhaltenes Deutschland wäre nicht jener Katharsis der Sühne ausgesetzt worden, welche das nach dem 20. Juli 1944 seiner besten Söhne beraubte deutsche Volk durchmachen sollte. Und vielleicht war dieses Bewusstsein – das Wissen um die notwendige, letzte Sühne – einer der tiefsten ethisch-psychologischen Beweggründe für das Misslingen des Umsturzversuches.