Der deutsche Widerstand und die Österreich-Frage

Bruno Kreisky

Der deutsche Widerstand und die Österreich-Frage

Gedenkrede des Bundeskanzlers der Republik Österreich Dr. Bruno Kreisky am 20. Juli 1981 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Ich weiß nicht, ob damals, als die Einladung an mich erging, aus Anlass der Wiederkehr des 20. Juli die Rede, die dieses Ereignis würdigen soll, mir zu übertragen, ob damals auch alles, was mit dieser Einladung verbunden ist, bedacht wurde.

Die Einladung erging an einen Österreicher und an einen Sozialdemokraten, an einen, der damals am 20. Juli 1944 aus der Emigration in Skandinavien die Ereignisse verfolgte.

Und sie erging an einen, und das erlaube ich mir hier zu sagen, der durch das unfassbare Wüten des Nazismus mehr als 20 seiner nächsten Verwandten verloren hat, von denen einer, der sich zum Deutschtum bekannte und dennoch in der tschechoslowakischen Widerstandsbewegung wirkte, hier in Plötzensee hingerichtet und verscharrt worden ist.

Die Aufgabe, die mir gestellt ist, ist unendlich schwer und das nicht zuletzt deshalb, weil ich mir nicht zumute, die Voraussetzung zu haben, die Tat derer, die am 20. Juli 1944 den letzten großen Versuch unternommen haben, durch Einsatz ihres Lebens Deutschland vor dem, wie sie annahmen, Untergang zu bewahren und zudem jene Schande zu tilgen, die mir die größte in der Geschichte der Deutschen zu sein scheint, zu würdigen.

Was zu diesem Ereignis vom Standpunkt der Deutschen zu sagen ist, ist seit dem profunden Beitrag Marion Dönhoffs, geschrieben 1945, veröffentlicht 1946, jedes Jahr aufs Neue gewürdigt worden.

Erwarten Sie daher von mir nicht, dass ich mir anmaße, es besser zu können als alle, die vor mir gesprochen haben. Unter ihnen Gustav Heinemann, Ernst Reuter, Carlo Schmid, Carl Zuckmayer und Willy Brandt.

Ich will auch nicht den Versuch unternehmen, zu würdigen, was um diesen Tag herum von Österreichern vollbracht wurde. Unter ihnen sind einige auch auf der Ehrentafel dieses Widerstandes verzeichnet, so Robert Bernardis.

Ich fühle mich auch verpflichtet, hier aufs Neue zu sagen und damit zu bezeugen, dass der deutsche Widerstand, so großartig er sich in den Menschen um den 20. Juli herum manifestiert, nicht nur von ihnen geleistet wurde.

Die vielen, die durch das Fallbeil gerichtet wurden und die Zehntausende, die in den Konzentrationslagern untergingen, auch sie gehören zu jenem anderen Deutschland, an das zu glauben wir nie aufgehört haben, auch ihr Einsatz muss unvergessen bleiben.

Und wenn es für die Deutschen möglich war, so rasch wieder in die Familie der Völker zurückzukehren, um dort jenen Platz einzunehmen, der dem deutschen Volk gebührt, war es nicht nur politischer Opportunismus des Westens oder der Respekt vor der sprichwörtlichen Tüchtigkeit des deutschen Volkes.

Bei den Menschen in den Demokratien, bei den Wissenden unter ihnen, war es auch die Erkenntnis vom Widerstand, den es in diesem Volk, bis hin zu seinen konservativsten Repräsentanten gab.

Immer haftet dem Tod junger Menschen vor der Zeit etwas zutiefst Tragisches – fast wäre ich versucht zu sagen, etwas Sinnloses – an, das das Pathos ihres Sterbens nicht zu mildern vermag: von historischer Bedeutung für Deutschland aber war es dennoch.

Ich habe mir vorgenommen, heute und im Zusammenhang mit diesem Tag zu einer Frage Stellung zu nehmen, die Sie, die Deutschen, und uns, die Österreicher, immer wieder bewegt hat.

Der österreichische Bundespräsident Adolf Schärf schreibt in seinen „Erinnerungen“ über den 20. Juli 1944:

„Im Frühsommer des Jahres 1943 kam ein mir unbekannter Mann in die Kanzlei. Er stellte sich als Wilhelm Leuschner vor, der bis zur Machtergreifung Hitlers sozialdemokratischer Innenminister in Hessen gewesen war.

Nach der – in der Zeit der Illegalität selbstverständlichen Überprüfung der Angaben über seine Person eröffnete er mir, daß für den Herbst des Jahres 1943 mit dem Ende des Hitler-Regimes zu rechnen sei. Vertreter verschiedener Parteien seien sich schon über die Bildung einer neuen Reichsregierung einig, in ihr werde Goerdeler Kanzler und er, Leuschner, Vizekanzler sein ...

... Seine Ausführungen gingen dahin: Wenn sich Österreich entschlossen auf die Seite der deutschen Revolution stelle, dann sei mit Zuversicht zu erwarten, daß im Friedensvertrag der Anschluß Österreichs an Deutschland erhalten bleibe.

Er wolle mit mir über die Mitwirkung der österreichischen Sozialdemokraten dabei sprechen ...

... Mein Gespräch mit Leuschner dauerte etwa drei Stunden. Ich fühlte mich aus der Gegenwart wegversetzt, so sehr packte mich das, was er erzählte. Plötzlich unterbrach ich ihn. Ich verhehle es auch jetzt nicht: Seitdem ich die Geistesschätze des deutschen Volkes kennen und lieben gelernt habe, hatte ich immer wieder geträumt, meine Heimat wäre nicht Österreich, sondern Weimar.

Aber während des Gesprächs mit Leuschner kam es mir wie eine Erleuchtung. Die Darstellung der Lage durch ihn ließ mich plötzlich erkennen, was sich geändert hatte. Ich unterbrach meinen Besucher unvermittelt und sagte: ‚Der Anschluß ist tot...’.“

Die Idee des Anschlusses ist schon im alten Österreich eine der relevantesten Ideen gewesen.

Robert Musil hat einmal gemeint: „Der gute Österreicher steht zwischen den beiden Heubündeln Buridans, Donauföderation und Großdeutschland.“

Hermann Bahr sollte zum 70. Geburtstag Bismarcks im Namen der deutschen Studentenschaft Österreichs diesem den Text einer Rede überreichen.

Olga Schnitzler schreibt darüber in ihrem Buch: „Spiegelbilder der Freundschaft“:

Hermann Bahr „wird zunächst gar nicht vorgelassen, man nimmt ihm die Adresse nur höflich dankend ab... Aber er dringt darauf, vom Kanzler selbst empfangen zu werden. Einige Tage später wird er ins Palais beschieden... Und was muss er da hören? Bismarck freue sich, die Wiener Studenten so gut deutschgesinnt zu wissen, sie könnten es aber nicht besser beweisen, als wenn sie ihre ganze Kraft einsetzten, um Österreich stark zu machen“.

Dennoch, die Idee des Anschlusses lebte weiter in Österreich, und das nicht nur unter Deutschnationalen.

Im Jahre 1918 gewinnt sie politische Realität, als Victor Adler, der Führer der österreichischen Sozialdemokraten, den Versuch unternimmt, die Nachbarvölker mit der österreichischen Republik zu einem freien Völkerbund zu vereinen.

Wünschten die Völker dies aber nicht, erklärte Victor Adler, dann werde es für die Republik Österreich, auf sich selbst gestellt und kein wirtschaftlich entwicklungsfähiges Gebilde, keine andere Möglichkeit geben als die, sich dem Deutschen Reich als ein Sonderbundesstaat einzugliedern.

Die Folge war, dass die provisorische Nationalversammlung am 12. Nov. 1918 das Gesetz über die Staats- und Regierungsform beschloss, in dem es wörtlich heißt:

„§1: Deutsch-Österreich ist eine demokratische Republik, alle öffentlichen Gewalten werden vom Volk eingesetzt.

§2: Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.“

Nach der Machtergreifung Hitlers erklärte Otto Bauer, der geistige Führer der österreichischen Sozialdemokratie, in einer Rede vor dem außerordentlichen Parteitag der Sozialdemokraten im Oktober 1933:

„Wir haben im Jahre 1918, in der Zeit, als die alte Habsburgermonarchie zusammengebrochen ist, zu einem unserer nächsten Ziele den Anschluss an Deutschland gesetzt... Zerstückelt blieb Österreich nach vierjährigem Krieg, aus tausend Wunden blutend, allein zurück.

... In jenen Tagen hat das Österreichische Volk als neues Ziel den Anschluss an Deutschland aufgestellt. Wir lehrten das österreichische Volk damals – und insbesondere wir Sozialdemokraten lehrten es -, dass wir uns, da die alten Verbände zerrissen seien, nur in dem neuen, im großdeutschen Verband eine neue Zukunft zimmern können ...

... So blieb die Partei dem Gedanken des Anschlusses mit friedlichen Mitteln an die Deutsche Republik treu, so lange, bis in Deutschland die Katastrophe kam, die die Republik vernichtete und an ihre Stelle den Despotismus Hitlers gesetzt hatte ...

... Deshalb schlägt ihnen die Parteivertretung vor, auf diesem Parteitag auch formell den Punkt des Parteiprogramms, der den Anschluss fordert, zu streichen und damit in diesem Punkt volle Klarheit zu schaffen.“

1938 kapitulierte die damalige autoritäre Regierung Schuschnigg vor der Drohung Hitlers.

Der Anschluss Österreichs an Deutschland wurde aufgrund und in Abwandlung eines kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes aus dem Ersten Weltkrieg, das übrigens die Grundlage für das autoritäre Regime nach 1933 war, vollzogen. Unter dem Eindruck dieser Tatsache war es abermals Otto Bauer, der im Juli 1938 meinte:

„Aus allen diesen Erwägungen müssen wir uns, um mit Engels zu reden, der vollzogenen Tatsachen der Annexion gegenüber kritisch verhalten, aber nicht reaktionär. Wir haben in unversöhnlicher Kritik an der despotischen Herrschaft des deutschen Faschismus das österreichische Volk zu überzeugen, dass seine gewaltsame Unterwerfung unter die Tyrannen des Dritten Reiches nicht der Anschluss, nicht die nationale Einheit in Freiheit ist, die wir in den Tagen des Zusammenbruchs der Habsburger Monarchie gewollt haben. Aber die Parole, die wir in der Fremdherrschaft der faschistischen Satrapen aus dem Reiche über Österreich entgegensetzen, kann nicht die reaktionäre Parole der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs sein, sondern nur die revolutionäre Parole der gesamtdeutschen Revolution, die allein mit den anderen deutschen Stämmen auch den österreichischen Stamm der Nation von der Gewaltherrschaft der faschistischen Zwingherren befreien kann.“

So weltfremd und so großdeutsch-imperialistisch waren also die Männer, die den 20. Juli politisch vorbereiteten, gar nicht, als sie meinten, dass nach der Befreiung Deutschlands vom Nazismus Österreich im Verband des Deutschen Reiches als Sonderbundesstaat weiterbestehen sollte.

Der historische Führer des Austromarxismus und seine überragende politische Erscheinung hat sich das jedenfalls nicht anders vorgestellt.

Am 1. November 1943 verkündeten die Alliierten in der Moskauer Deklaration, dass die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs zu einem ihrer Kriegsziele gehöre. Diesmal befanden sie sich in Übereinstimmung mit den Gefühlen der überwältigenden Mehrheit der Österreicher.

Denn anders als 1918, wo ein Teil des österreichischen Volkes um ein versunkenes Reich trauerte und ein anderer vom Anschluss an ein neues träumte, war es 1945 der Wille des österreichischen Volkes, sich in seiner kleinen Republik als unabhängiger und freier Staat einzurichten.

Der 20. Juli ist gewiss ein historisches Datum, und das stellt uns die Frage, welche Verpflichtung dem Politiker auferlegt ist, wenn er an einem solchen Tag das Wort ergreift. Gewiss nicht die, es dem Historiker gleichzutun. Die Art, sich dem Thema zu nähern, muss eine andere sein, von Bestreben geleitet, ein Wort Burckhardts variierend, „klüger zu sein für ein andermal“.

Und wenn dazu noch ein Mann meines Alters und meiner Vergangenheit die Möglichkeit hat, über „die eigene Person im Fluss durch die Zeit“ zu berichten, dann kann der Politiker doch nicht darauf verzichten, Reflexionen anzustellen. Er muss es tun ohne Rücksicht darauf, ob man ihn hören will.

Als wir jung waren – es war zur gleichen Zeit, als es die jungen Offiziere des 20. Juli waren -, haben uns ganz andere Vorstellungen geleitet als sie.

Da trugen wir ein geknicktes Gewehr als Abzeichen am Kragen und sangen ein rührend simples Lied, in dem wir schworen, nie wieder Waffen zu tragen und nie wieder Krieg führen zu wollen. Beides blieb den Jungen meiner Generation nicht erspart.

Und dort, wo der Pazifismus dieser Zeit seinen politischen Niederschlag gefunden hatte, wo er zur politischen Realität wurde, wie offenbar in den nordischen Staaten Dänemark und Norwegen, dort hat er jedenfalls dazu geführt, dass die Menschen zu wehrlosen Opfern der hitlerschen Aggression wurden.

Man komme nicht und sage, dass es eben Hitler und sein aggressiver Nazismus gewesen seien. Ich weiß allzu gut um das Schicksal der kleinen baltischen Republiken, und ich weiß um den verzweifelten Kampf Finnlands im sogenannten Winterkrieg, den ich selber wochenlang miterleben konnte.

Der Schluss, der damals von den dem politischen Pazifismus einst ergebenen Skandinavien gezogen wurde, war der, dass die Verteidigungsbereitschaft eines Volkes eine wichtige Voraussetzung seines Freiheits- und Unabhängigkeitswillens sei und dass in den Demokratien ein neues Verhältnis zwischen Volk und Verteidigung entstehen müsse.

Das ist auch der Grund dafür, dass nach tiefgreifenden Auseinandersetzungen schließlich die überwältigende Mehrheit der friedlichen Völker der kleinen Staaten Europas sich zum nordatlantischen Bündnis bereitgefunden hat.

Ich bin zutiefst beeindruckt von der Welle des Pazifismus, von der Friedensgesinnung, die heute durch Europa geht. Wer sich noch an jene Tage erinnert, wo die Lieder des Krieges und der Eroberung der Welt in Deutschland gesungen wurden – auch in Österreich nach dem Anschluss –, der kann doch für den Unterschied, den es hier gibt, nicht blind und nicht taub sein, kann doch der Friedensgesinnung nicht a priori negativ gegenüberstehen. Er muss diese Gesinnung ernst nehmen und dennoch den Versuch unternehmen, den jungen Menschen begreiflich zu machen, dass diese Gesinnung allein den Frieden nicht zu gewährleisten vermag, sondern dass es der Schaffung sehr viel härterer Tatsachen bedarf, um jenen Zustand der Dinge herbeizuführen, der den Ausbruch von Kriegen oder des Krieges schlechthin, nach menschlicher Voraussicht zu verhindern in der Lage ist.

Europa und die Welt befinden sich heute in einer Situation, deren Ernst nicht unterschätzt werden darf.

Im Mittleren Osten wird der nicht erklärte permanente Krieg geführt, und es ist keine Frage, dass die Demokratien in der Welt für diesen Zustand schwerste Verantwortung tragen.

Sie haben es bis heute nicht vermocht, ihr ganzes Gewicht im Sinne einer friedlichen Lösung des Konflikts im Mittleren Osten einzusetzen. Auch wenn sie langsam beginnen, die Ursachen des Konflikts zu erkennen.

Und so, wie wir an diesem Tag nicht vergessen dürfen, was an Furchtbarem den Menschen jüdischen Glaubens widerfahren ist, so wenig dürfen wir zulassen, dass neues Unrecht dem palästinensischen Volk zugefügt wird.

Es gehört mit zu den erschütternsten Erkenntnissen für einen Menschen meiner Zeit und meiner Gesinnung, dass nur das Gleichgewicht der Rüstung, das Gleichgewicht des Schreckens, die Ruhigstellung Europas gewährleistet.

Jedenfalls können wir hier allen Einwänden zum Trotz eines anführen, dass nämlich die Politik der Entspannung diesem Gleichgewicht zu verdanken ist, und dass immer dann, wenn es irritiert oder gar gestört wurde, die Entspannung in Europa gefährdet war. Und so ist es auch jetzt.

Wer aus Wien kommt und in Berlin das Wort ergreift, der kann doch nicht so leichthin über Entspannungspolitik reden, ist sie doch für uns von geradezu schicksalhafter Bedeutung.

Wir wissen schon, dass derartiges Tausende Meilen von unseren Städten entfernt nicht so gesehen wird. Wie sollte es denn anders sein, da wir Menschen Fragen der Politik danach beurteilen, wie nahe sie uns gehen. Und deshalb treten wir ja so nachdrücklich – und manchem mag es vielleicht sogar beschwörend erscheinen – für Verhandlungen ein.

Und so kann es doch gar nichts anderes geben, als alle Kräfte darauf zu konzentrieren, zu verhandeln über das, was die Nachrüstung genannt wird, wobei allerdings nicht ignoriert werden kann, was die Vorrüstung verursacht hat, wie es unlängst von Willy Brandt formuliert wurde.

Das alles ist in seiner Kompliziertheit gar nicht leicht denen, für die die Dinge so einfach sind, begreiflich zu machen.

Auch wenn ich mir der Vergeblichkeit dieses Tuns manches Mal bewusst werde, so kann ich als einer, der sich seiner eigenen Lebensgeschichte verpflichtet fühlt, gar nicht anders, als in diesem Sinn wirken.

Es bleibt dabei: Der Kampf um die verlorene Freiheit ist um vieles gefahren- und opferreicher als die Entschlossenheit, sie sich nicht nehmen zu lassen. Das jedenfalls lehren uns die Ereignisse des 20. Juli.







Weitere Reden

20.07.1981
P. Odilo Braun OP
P. Odilo Braun OP