Der Geist des Widerstandes

Theodor Steltzer

Der Geist des Widerstandes

Gedenkrede von Ministerpräsident a.D. Theodor Steltzer am 20. Juli 1960 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Stauffenbergstraße, Berlin

Liebe Freunde,

ich betrachte es als eine große Ehre, die heutige Gedenkrede halten zu dürfen. Wir wollen uns gemeinsam der aus allen Schichten unseres Vaterlandes stammenden Toten erinnern, für die der 20. Juli und der vor 16 Jahren gescheiterte Aufstand zum Symbol ihrer geschichtlichen Bedeutung geworden ist.

Wenn wir ihrer heute gedenken, handelt es sich um mehr als eine pietätvolle Erinnerung an ihren Opfertod. Sicherlich gebührt auch diesem unsere bleibende Dankbarkeit und unsere Bewunderung. Aber unsere Toten haben das Recht, mehr von uns zu verlangen. Und ich weiß aus vielen Gesprächen mit manchen von denen, deren wir uns heute erinnern, dass es in ihrem Sinne wäre, wenn wir uns immer wieder die Motive vergegenwärtigen, aus denen sie gehandelt haben und derentwegen sie ihr Leben lassen mussten.

In einer Besprechung des Goerdeler-Buches von Gerhard Ritter, die vor einiger Zeit im Manchester Guardian erschienen ist, hat der britische Historiker Taylor erklärt, es sei zwar Deutschland anzurechnen, dass es einigen Deutschen missfallen habe, was Hitler tat, aber es wäre Deutschland viel höher anzurechnen, wenn diese Deutschen selbst etwas dagegen getan hätten. Der deutsche Widerstand, fuhr Taylor fort, habe zwei große Schwächen gehabt: Seine Führer konnten sich nicht darüber schlüssig werden, ob sie aus moralischen oder aus praktischen Gründen gegen Hitler waren, und außerdem wussten sie nicht, wie sie Hitler loswerden sollten. Dieses Urteil in einem liberalen Blatt mag uns schockieren. Aber wir sollten uns nüchtern darüber Rechenschaft geben, dass es einer in der Welt verbreiteten Meinung entspricht.

Und wie steht es mit dem deutschen Urteil über den 20. Juli 1944 und über die Kräfte, die sich darin manifestierten? Noch vor wenigen Wochen sagte ein Mann, der einen hohen Rang in einem Bundesministerium bekleidete, im Privatgespräch, dass er den 20. Juli ablehne, weil seine militärischen Führer eine militärische Sabotage betrieben hätten, die Hunderttausende deutscher Soldaten das Leben gekostet habe. Liebe Freunde, was soll man dazu sagen? Ganz abgesehen davon, dass dieser Mann die Informationsmöglichkeiten hatte, sich über die Unrichtigkeit seiner Behauptung zu orientieren, werden hier doch die Tatsachen geradezu umgedreht. Nicht die Führer des Widerstandes haben um politischer oder persönlicher Ziele willen das Leben deutscher Soldaten gefährdet, sondern sie waren es, die ihren Kopf um unseres Volkes willen hingehalten haben. Aber ich glaube, es entspricht am ehesten dem Geist der Toten, derer wir heute gedenken, wenn wir uns illusionslos der Tatsache stellen, dass das, was sie wollten, heute noch in Deutschland wie im Ausland missverstanden und missdeutet wird. Lassen sie mich daher auf die beiden von Taylor so scharf formulierten Behauptungen eingehen und zunächst über die moralischen und die politischen Motive des deutschen Widerstandes sprechen. Ich möchte mich aber nicht mit der Rückschau begnügen, sondern auch die Frage aufwerfen, welche Konsequenzen sich daraus für das Heute und das Morgen ergeben. Denn nicht mit dem Blick in die Vergangenheit, sondern mit dem leidenschaftlichen Willen, etwas für eine bessere Zukunft zu tun, haben diese Männer und Frauen ihr Leben geopfert.

Lassen sie mich an einen Gedanken anknüpfen, mit dem Friedrich Wilhelm Förster die erste Auflage seiner politischen Ethik im Jahre 1918 abgeschlossen hat und den er in der in Deutschland bisher kaum beachteten vierten Auflage 1956 in eindrucksvoller Weise erneuert hat. Dort spricht Förster davon, dass es in dem weltgeschichtlichen Prozess Zeiten der Verhüllung und Zeiten der Enthüllung gibt, Zeiten, in denen die großen weltgeschichtlichen Gegensätze gleichsam schlafen und wo der ewige Kampf zwischen den oberen und den unteren Mächten sich nur auf der Oberfläche abspielt. Dann wieder kommen Zeiten, in denen Rechnungen von Jahrhunderten präsentiert werden, in denen die mühsam gebändigten Höllenmächte aufs Neue Luft bekommen und die höheren Gewalten zur letzten Kraftmessung und zur stärksten Logik ihrer Geistigkeit herausfordern. Das Apokalyptische ist also immer das Kennzeichen einer Zeit, in der das oberflächliche, aber sehr konkrete Spiel menschlicher Gegensätze plötzlich durchbrochen wird, um unseren Blick nach oben und nach unten hin zu erweitern, uns von den Nebensachen zur Hauptsache zu lenken und uns den wesentlichen Faktoren unseres Daseins unausweichlich gegenüberzustellen. Die Apokalypse ist, wie Förster sagt, zunächst nicht eine Theologie, sondern eine Anthropologie, eine Beleuchtung der Natur des Menschen und ihrer tieferen Abgründe, ihres Abfalls von ihrem Schöpfer, ihres Missbrauches seiner Gaben und aller Konsequenzen, die notwendigerweise daraus folgen. Sie gibt ein Maß für die innere Gefährdung des Menschen, dessen Wahrheit wir nach den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart wieder zu ahnen beginnen, nachdem sie jahrhundertelang durch einen zukunftsgläubigen Fortschrittsoptimismus verschleiert war.

Liebe Freunde, wir wussten, dass die Jahre des „Tausendjährigen Reiches“ eine Zeit der Enthüllungen waren, in der Höllenmächte entfesselt worden sind. Manche haben dies instinktiv beim ersten Auftreten des Rattenfängers aus Braunau erfasst. Anderen haben die Morde des 30. Juni 1934 die Augen geöffnet, wieder anderen die Kristallnacht im November 1938, als der Antisemitismus sich zur Besessenheit steigerte, anderen schließlich die tollkühnen politischen und militärischen Abenteuer, die zum Krieg und zum Untergang führen mussten. Der Prüfstein aber war die Haltung zu dem sogenannten „Führer”, zu Hitler. Ich erinnere Sie an ein Wort von Generaloberst Beck: „Zuletzt hängt alles davon ab, dass der Leiter der Politik ein moralischer Mensch ist, der in letzter Instanz dem eigenen inneren Moralgesetz, seinem Gewissen unterworfen bleibt.” Die erschütternde Enthüllung, dass der Leiter der deutschen Politik ein amoralischer, gewissenloser Mensch war, der den Staat mit seiner Amoralität erfüllte, war die grundlegende Erfahrung, die dem, der sich ihr stellte, nur die Wahl ließ zwischen Widerstand und Verlust der Selbstachtung. Die Blindheit, mit der so viele diesem „Führer” folgten, war, davon bin ich überzeugt, vor allem ein Zurückschrecken vor dieser Alternative. Denn Widerstand bedeutete ja nicht nur die radikale Ablehnung des Staates, in dem ein amoralischer Mensch zur obersten, unumschränkten Macht gelangen konnte, und die bewusste Abkehr von einer geschichtlichen Entwicklung, durch die so etwas möglich geworden war. Wohin sollte sich aber ein Mensch wenden, der an seiner Staatsführung irre geworden war, an seinem Staat und an seiner bisherigen Geschichte? Wie sollte er sich verhalten, wenn ihm die Fehlrechnung von Jahrhunderten präsentiert wurde? Was sollte er tun, wenn er dem Führer durch den Fahneneid verpflichtet war, wenn sein Volk im Kriege stand und die Niederlage in diesem Kriege das Ende der staatlichen Existenz bedeutete?

Liebe Freunde, wer kann sagen, dass er diesen Prozess der inneren Loslösung von dem Dritten Reich bis zu der Konsequenz des geistigen und politischen Widerstandes allein aus eigener Kraft durchgehalten hätte? Theodor Hecker hat im Sommer 1942 in seinen Tag- und Nachtbüchern notiert: „Viele Menschen brauchen sehr lange, bis sie das Unwiderrufliche erkennen, dass sie danach handeln müssen, und brauchen zum dritten Mal sehr lange, bis sie danach handeln. Und auch dieses ginge niemals ohne die Hilfe der Gnade.” Wenn wir das im Auge behalten, so werden wir uns davor hüten, den deutschen Widerstand etwa als eine Trennung der Böcke von den Schafen, der Bösen von den Guten zu betrachten und einer falschen Heroisierung der Männer des 20. Juli ein ebenso falsches, generalisierendes Verdammungsurteil aller jener gegenüber Staat und Volk, sei es aus Unkenntnis, aus Opportunismus, Egoismus, Feigheit oder Gleichgültigkeit, die diesen Weg nicht gegangen sind. Das sollten wir schon deshalb nicht tun, weil dieser Weg noch nicht zu Ende ist.

Lassen Sie uns zunächst nach den geistigen Gehalten forschen, die unter dem schwersten äußeren und inneren Druck aus den Leiden dieser Jahre gekeltert worden sind. So fasse ich die Aufforderung auf, „mit dem 20. Juli zu leben“, die Günter Gillesen in einem bemerkenswerten Aufsatz ausgesprochen hat, in dem er uns ermahnt, immer wieder mit den Abschiedsbriefen und den nachgelassenen Aufzeichnungen der Toten des deutschen Widerstandes Zwiesprache zu halten. Ich möchte heute nur eine solche Äußerung hier anführen, die für viele andere spricht; jene Notiz Kurt Hubers für sein Schlusswort vor dem Volksgerichtshof. „Was ich bezweckte“, steht dort (einen Tag vor seiner Hinrichtung geschrieben), „was ich bezweckte, war die Weckung der studentischen Kreise, nicht durch eine Organisation, sondern durch das schlichte Wort, nicht zu irgendeinem Akt der Gewalt, sondern zur sittlichen Einsicht in bestehende schwere Schäden des politischen Lebens, Rückkehr zu klaren sittlichen Grundsätzen, zum Rechtsstaat, zu gegenseitigem Vertrauen von Mensch zu Mensch. Das ist nicht illegal, sondern umgekehrt die Wiederherstellung der Legalität.”

Ich habe mit Absicht diese Worte eines im Grunde unpolitischen Menschen gewählt, der im April 1943 hingerichtet worden ist. Denn gerade aus ihnen wird das Ringen aller derer begreiflich, die auf dem Wege zur Wiederherstellung der Legalität in Deutschland aus eigener Verantwortung politisch aktiv geworden sind. In der Gemeinsamkeit der sittlichen Motive der Männer und Frauen des Widerstandes, in ihrer Forderung nach der absoluten Gültigkeit sittlicher Grundlagen für das persönliche wie das staatliche Leben liegt der Schlüssel zu ihrem Verständnis und zu einer gerechten Würdigung des 20. Juli 1944 als eines großen geschichtlichen Ereignisses. Aus ihnen entstand der Mut zum Widerstand, die Fähigkeit, uns sozusagen wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf einer falschen Relativierung der Dinge herauszuziehen, und die Erkenntnis, dass nichts den Menschen von seiner Verantwortung für die Schaffung besserer Ordnungen entbinden kann.

Aber diese Grundhaltung war kein unfehlbares politisches Rezept. Wer sich im Dritten Reich zum politischen Widerstand entschloss, konnte weder einen Sieg Hitlers noch den Zusammenbruch Deutschlands wünschen, sondern nur den Frieden, der unserem Volk eine Chance gab, zum rechtsstaatlichen Leben zurückzukehren und eine neue Ära der Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn einzuleiten. Wir waren uns bewusst, dass unsere Arbeit der Front nicht in den Rücken fallen durfte. Ich kann es aus meiner militärischen Stellung während des Krieges bezeugen, dass es keinen Truppenführer bis zum Oberbefehlshaber hin gab, der eine Sabotage auf Kosten seiner Männer zugelassen oder jemals geduldet hätte. Aber wie war es möglich, im Kriege dem kommenden Frieden vorzuarbeiten? Das war eine Frage, die je nach der Situation des Einzelnen sehr verschiedenartige Antworten zuließ und die jeder für sich allein mit seinem Gewissen ausmachen musste.

Wenn auch über die Berechtigung einer Gewaltanwendung gegen das System Hitlers keine prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten bestanden, so gab es doch verschiedene Meinungen über die einzuschlagenden Wege, über die politische Zweckmäßigkeit und praktische Durchführbarkeit eines militärischen Staatsstreiches und über die Tragfähigkeit mancher politischen Konzeptionen, die unsere Freunde für die Zukunft entwickelten. Manche sahen den künftigen Staat zu sehr aus der Perspektive des alten National- und Rechtsstaates und übersahen die Probleme, die sich aus der Umwälzung der internationalen Verhältnisse und einer Umwandlung der gesellschaftlichen Ordnungen ergeben mussten. Auf der anderen Seite stand uns auch immer wieder die Sinnlosigkeit der Fortführung des Krieges mit seinen Menschenopfern vor Augen. Konnte es überhaupt ein wichtigeres Ziel geben, als sofort und um jeden Preis Schluss zu machen? – Für diese bohrenden Fragen gab es keine Patentlösung. Wer damals an Besprechungen mit Mitgliedern der verschiedenen Widerstandsgruppen teilgenommen hat, weiß, wie ernst um die Probleme gerungen und wie schwer an dem Konflikt der Pflichten getragen wurde. Der 20. Juli war ein elementarer Durchbruchsversuch in die Freiheit, ein Angriff des Menschlichen gegen das Unmenschliche aus sittlicher Verantwortung und in persönlicher Entscheidung des Gewissens. Wie wenig man dieses Ereignis aus rationalen Gesichtspunkten der politischen Zweckmäßigkeit, des Erfolges oder Misserfolges und der technischen Durchführung kritisieren kann, möchte ich aus persönlicher Erfahrung zu zeigen versuchen.

Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des deutschen Widerstandes lagen nicht in der moralischen Grundhaltung, sondern im Bereich der politischen und praktischen Fragen. Das gilt auch für die Gründe, die manche, darunter auch mich, zu Gegnern eines Staatsstreiches machten und uns veranlassten, bei jeder Gelegenheit davor zu warnen. Ich würde auch den Geschwistern Scholl und den Mitgliedern der Weißen Rose von ihrem Aufruf abgeraten haben, falls sie mich gefragt hätten. Und doch muss ich rückschauend der Tat der Geschwister Scholl und den Aktivisten des 20. Juli Recht geben. In einer Welt, die nicht an einen echten Widerstand in Deutschland glaubte, haben sie durch ihr Handeln bewiesen, dass es diesen Widerstand gab. Ihre Tat war eine Rehabilitierung des deutschen Namens in der Welt und dadurch eine Voraussetzung für eine spätere Zusammenarbeit mit den früheren Gegnern. Rothfels sagt mit Recht, dass in den Motiven ihres Handelns wie in der Art ihres Sterbens ein innerlich wesentlicherer Aktivposten besteht, als es sich die gewiss auch wichtige äußere Wiedergutmachung oder politische Stabilisierung und wirtschaftliche Prosperität je zu sein vermögen. Und wenn wir auch viele so negative Urteile wie das von Professor Taylor hören, so hat doch kein geringerer als Churchill seinen früheren Unglauben an den deutschen Widerstand revidiert und erklärt, dass die deutsche Opposition zu dem Edelsten und Größten gehöre, was in der Geschichte aller Völker je hervorgebracht wurde.

Doch die Würdigung durch das Ausland kann für unsere Wertung des 20. Juli nicht maßgebend sein. Entscheidend ist, wie sich unser Volk zu ihm stellt.

Liebe Freunde, es war für uns alle ein beglückendes Erlebnis, dass sich Menschen der verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Herkunft auf einer gemeinsamen Grundlage zusammenfanden, die sich als stärker erwies als alles Trennende. In den Gefängnissen wiederholte sich dieses Erlebnis. Deshalb hatte für mich unser Auszug aus dem Gefängnis Lehrter Straße Ende April 1945 einen geradezu symbolhaften Charakter. Wir waren die letzten Überlebenden, nachdem in den beiden vorangegangenen Tagen noch eine große Zahl von Kameraden ermordet worden war. Einige gewandte jüngere Leute hatten zwei Wagen für unser Gepäck aufgetrieben, die so groß waren, dass sie von mehreren gezogen und geschoben werden mussten. Auf dem einen Wagen saß der frühere Reichswehrminister Gustav Noske, auf dem anderen Wagen der pommersche Gutsbesitzer von Zitzewitz-Muttrin, die beide nicht in der Lage waren, weite Strecken zu gehen. Und so ergab sich ein langer Marsch, auf dem wir anderen diesen Wagen einträchtig zogen und schoben. Ich sehe noch unseren heute hier anwesenden Freund, den früheren Reichsernährungsminister Andreas Hermes, wie er energisch in die Speichen des Wagens griff, auf dem sein früherer politischer Gegner Zitzewitz saß. So wurde mir dieser Auszug das Bild eines zukünftigen Miteinanders. Aber leider ist es keine Wirklichkeit geworden. Unsere Toten würden nicht über alles froh sein, wenn sie die gegenwärtige Wirklichkeit erblicken könnten.

Was hat die deutsche Politik seit 1945 von dem Geist des Widerstandes übernommen? Ich will nicht von den Wirren der ersten Jahre sprechen, in denen sich die Überlebenden des Widerstandes mehr oder weniger in einer Verteidigungsstellung befanden und den ärgsten Verleumdungen wegen Landesverrats und Sabotage ausgesetzt waren, ohne irgendeinen Rückhalt zu besitzen. Ein deutsches Gericht erklärte damals, dass es zur Meinungsfreiheit gehöre, die Angehörigen des Widerstandes als Landesverräter zu bezeichnen. Erst allmählich hat infolge der internationalen Würdigung des 20. Juli und der positiven Einstellung der deutschen Presse eine Besserung eingesetzt, die zu einer Art Achtungsverhältnis führte. Aber der Kern unseres Anliegens ist in den Hintergrund getreten, den Helmut Moltke folgendermaßen formulierte: „Der Ausgangspunkt für eine Neuordnung liegt in der verpflichtenden Besinnung des Menschen auf die göttliche Ordnung, die sein inneres und äußeres Dasein trägt. Erst wenn es gelingt, diese Ordnung zum Maßstab der Beziehungen zwischen Menschen und Völkern zu machen, kann die Zerrüttung unserer Zeit überwunden und ein echter Friedenszustand geschaffen werden.”

Diese an uns und an die ganze Welt gerichtete Forderung ist verblasst und wird von unlebendigen Traditionen und geschäftlichem Organisieren überwuchert.

Kein Außenstehender kann der politischen Führung die schwere Bürde der täglichen Entscheidungen abnehmen. Auf der anderen Seite erschöpften sich die Regierungen leicht in der Vielfalt der Tagesgeschäfte und verlagern den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit in eine Anpassung an die jeweiligen außenpolitischen Ereignisse und die aktuellen Erfordernisse des Tages. Dabei treten leicht die geistigen Grundlagen der Politik und die notwendige Besinnung auf das Ganze zu sehr in den Hintergrund. Gerade um diese ging es aber am 20. Juli und geht es uns noch heute. Ich will das an zwei Beispielen erläutern, mit denen ich an die Gedankenwelt des „Kreisauer Kreises” anknüpfe. Andere werden vielleicht von ihrem damaligen Standpunkt aus zu etwas anderen Auffassungen kommen. Wesentlich scheint mir vor allem, dass wir die Glaubenssätze jener Jahre, die uns allen gemeinsam waren, nicht gleichsam in eine Vitrine stellen, sondern uns auch heute zu ihnen bekennen.

Unsere erste Forderung war, dass sich das persönliche und öffentliche Leben in Zukunft auf die religiös-sittlichen Grundlagen aufbauen solle. Manche werden dazu sagen: Da sieht man wieder, was für weltfremde Theoretiker diese Leute waren. Was kann man mit einer solchen Forderung praktisch anfangen? Es handelt sich hier aber um eine sehr reale Frage, die für die zukünftige menschliche und politische Entwicklung entscheidend ist. Der Mensch ist ein sehr kompliziertes Gebilde, denn er lebt nicht nur aus seinem Bewusstsein, sondern auch aus unbewussten Antrieben, die nicht genau abgegrenzt werden können und sich doch gegenseitig beeinflussen. In Zeiten, in denen der religiöse Glaube noch stark genug war, um sein persönliches Sein zu beeinflussen, kann der Mensch die unbewussten Einflüsse bewältigen. Durch den Verlust seiner transzendentalen Bindung wird aber das menschliche Bewusstsein zu einem Raum leerer Freiheit, in dem es nicht nur allen Arten von Ersatzreligionen und Aberglauben ausgeliefert ist, sondern auch unbewussten Antriebskräften, die er in seinen Gedanken und Handlungen gar nicht mehr erkennt. Das Beunruhigende ist, dass diese Menschen an sich ganz durchaus normal sind und sich meist in dem guten Glauben befinden, ein anständiges Leben zu führen. Aber emotionell äußern sie dann plötzlich Ansichten und begehen Handlungen, die mit wirklichem Menschentum unvereinbar sind. Es zeigt sich hier, dass der Mensch durch die Vernachlässigung der geistigen Seite seines Wesens einen Substanzverlust erlitten hat, den er nur durch Selbstbesinnung und aus eigener Kraft wieder ausgleichen kann. Wenn dieses nicht geschieht, sind alle Menschen und Völker zunehmend in Gefahr, Antrieben zu verfallen, über die sie keine Kontrolle mehr besitzen. Die Folge würde sein, dass der Mensch zum Opfer technokratischer, bürokratischer und autokratischer Führungen wird und nicht mehr in der Lage ist, eine demokratische Entwicklung mit zu vollziehen, weil er seiner spezifischen Persönlichkeitswerte verlustig ging. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass eine religiöse Erneuerung außerhalb aller praktischen Möglichkeiten liege, denn es geht nicht um konfessionelle oder theologische Fragen, sondern um etwas viel Einfacheres. Der Mensch muss sich auf die Substanz seines Menschentums besinnen und bereit sein, daraus Konsequenzen für die Gestaltung seines Lebens zu ziehen.

Unsere zweite Forderung war die Schaffung neuer Ordnungen, in deren Mittelpunkt der Mensch als Person steht. Die alten Ordnungen sind fragwürdig geworden, weil sich neue Entwicklungen nicht mehr in sie einordnen lassen. Aber auch die Demokratie bedarf der Ordnungen. Zur Zeit befinden sich die alten Auffassungen vom Staat in Zersetzung, ohne dass etwas Neues im Wachsen ist. Wo aber der Staatsgedanke seinen inneren Gehalt verliert, droht Gefahr. Über die Schwierigkeit der Erfüllung unserer Forderung wird sich niemand einer Illusion hingeben. Sie verlangt eine ungeheure geistige Arbeit, um zunächst nur ein vorgeformtes Bild von dem zu erhalten, was wir in Zukunft ansteuern müssen. Auch hierüber haben wir uns schon während des Krieges Gedanken gemacht.

Den meisten von uns schwebte ein deutscher Föderativstaat im Rahmen einer europäischen und einer Weltföderation vor. Aber unsere föderativen Vorstellungen hatten wenig mit dem jetzigen bürokratisierten Föderalismus zu tun. Wir gingen von der Tatsache aus, dass der Mensch in verschiedenen Stufen gesellschaftlicher Ebenen lebt, von denen jede einzelne eine wichtige spezifische Bedeutung hat. Diese Stufenfolge beginnt bei der Familie und geht über Landschaft, Staat, Religion bis zur Welt. Ähnlich liegen die Dinge in den gesellschaftlichen Bereichen. Keine dieser Stufen darf vernachlässigt werden. Aber jede Stufe hat nur relative Gültigkeit und erfährt eine Begrenzung durch die nächsthöhere Stufe. Es ist die große staatsmännische Aufgabe, mit dem Blick auf die kommenden Jahrzehnte diese Stufen aufeinander abzustimmen und ein Gleichgewicht herbeizuführen. Ohne ein solches an der Zukunft orientiertes Gesamtbild werden wir auch die Fragen der politischen Bildung nicht lösen und die Jugend nicht für eine Staatsauffassung gewinnen können, die sie bejaht.

Es wäre ein gröbliches Missverständnis, wenn man aus unseren Gedanken über eine zukünftige Weltföderation eine Relativierung des Nationalen zu Gunsten des Internationalen ableiten würde. Nationalstaaten mit eigener nationaler Politik bleiben die unentbehrlichen Voraussetzungen und Bausteine übernationaler Föderationen. Sie müssen nur lernen, ihrer Politik im Rahmen der internationalen Aufgaben die richtige Proportion zu geben. Ohne in die Tagespolitik abzuschweifen, möchte ich doch sagen, dass ich eine grundlegende Schwäche unserer Pläne nach der Wiedervereinigung darin sähe, dass wir sie als mehr oder weniger mechanische Restauration eines früheren deutschen Staatswesens betrachten. Das deutsche Staatsproblem ist im Dritten Reich gegen Europa in einer gewissenlosen Schaukelpolitik zwischen West und Ost gelöst worden. Wir sollten uns viel intensiver mit der Frage befassen, wie ein deutscher Staat aussehen muss, der mit Europa in einer immer kleiner werdenden Welt auf die Dauer in Frieden existieren kann.

Wenn ich hier von Europa spreche, so meine ich nicht nur den Westen, sondern auch Mittel- und Osteuropa. Es ist nach dem Kriege zur Spaltung Deutschlands und Europas gekommen, weil auch der Zweite Weltkrieg zwar militärisch von den Alliierten gewonnen, politisch aber von uns allen verloren ist. Hat also Hitler Recht behalten, als er voraussagte, dass die militärische Niederlage das Ende Deutschlands bedeuten würde und deshalb das Durchhalten ohne alle Rücksicht auf diese Opfer aufforderte? Dieser Frage sollten wir nicht aus dem Wege gehen. Denn wenn sie auch heute noch nicht offen gestellt wird, so wird sie doch die jetzige Generation eines Tages stellen. Ich möchte hierauf eine zweite Antwort geben: Hätte der Akt des 20. Juli 1944 militärisch und politisch Erfolg gehabt, so wären die Voraussetzungen zur Rettung der Einheit Deutschlands jedenfalls günstiger gewesen als im Mai 1945. Denn es hätte dann in der Reichshauptstadt eine handlungsbevollmächtigte Regierung gegeben, und die Truppen der Alliierten wären als Besatzung und nicht mit der blanken Waffe in der Hand nach Deutschland gekommen. Wahrscheinlich wäre dadurch auch Hunderttausenden von Soldaten und Flüchtlingen das Leben gerettet worden.

Zum andern: Selbst wenn die Spaltung Deutschlands als Folge der Katastrophenpolitik Hitlers nicht mehr aufzuhalten war, so ist doch Hitlers Absicht misslungen, den Deutschen, weil sie nicht mit ihm siegten, jede Möglichkeit zu nehmen, ohne ihn noch eine Zukunft zu haben. Der 20. Juli 1944 hat der Welt bewiesen, dass es ein anderes Deutschland gab. Und die Jahre nach dem Krieg und die Hilfe, die wir vom Westen erhielten, haben uns bewiesen, was wir in unseren Widerstandskreisen auch in den dunkelsten Tagen des Krieges nicht vergessen hatten, dass es ein anderes Europa gab als Hitlers neue Ordnung.

Wenn wir heute die vielen Bände durchblättern, die uns über die Widerstandsbewegungen in den anderen europäischen Nationen Aufschluss geben, so finden wir trotz aller Verschiedenheiten der Charaktere und der Nationalitäten eine ergreifende Gleichartigkeit gerade auch der prinzipiellen Forderungen, die an die Politik gestellt werden. Wenn Sie Moltkes Briefe an einen Freund in England aus dem Jahr 1942 nachlesen, in dem er schrieb: „For us Europe after the war is less a problem of frontiers and soldiers, of top-heavy organizations or grand plans but Europe after the war is a question of how the picture of man can be reestablished in the breasts of our fellow citizens“, oder wenn Sie Simone Weils Gedanken über die „Einwurzelung“ zur Hand nehmen, die im Auftrage der französischen Widerstandsbewegung im gleichen Jahr 1942 niedergeschrieben wurden, oder wenn Sie die verzweifelnden Tagebuchaufzeichnungen lesen, die uns der Norweger Peter Moens in seiner Zelle hinterlassen hat, werden Sie diesen gemeinsamen Grundzug des europäischen Widerstandes spüren: sein Ringen um eine menschenwürdige Politik. Solange dieses Ziel nicht verwirklicht ist, hat auch der Weg, den der deutsche Widerstand anstrebte, sein Ziel noch nicht erreicht.

Und nun noch ein besonderes Wort an die jungen Menschen. Ich bin wiederholt auch von meinen eigenen Kindern in folgender Weise angeredet und befragt worden: „Eigentlich beneide ich die Juden oder auch die jungen Völker der freigewordenen oder freiwerdenden Länder, manchmal auch die Jugend in Amerika, England und Skandinavien. Sie alle haben etwas, auf das sie als Angehörige dieses Volkes stolz sein können. Oder aber sie haben ein Ziel, für das sie sich mit allen Kräften verwenden wollen und können. Wie stehe ich aber als Deutscher da? Ich gehöre einem Volke an, in dessen Namen Geist geleugnet, der Mensch geknechtet, die Welt mit Krieg überzogen und der ungeheuerlichste Massenmord aller Zeiten begangen worden ist. Worauf soll ich stolz sein? Wie komme ich als Angehöriger meines Volkes, nicht nur als einzelner Mensch, auf eine gemeinsame Ebene mit meinesgleichen aus anderen Ländern?” Diese jungen Menschen sagten ganz offen, dass ihnen die Beziehungen zwischen dem 20. Juli und der heutigen politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit noch nicht erkennbar seien. Gerade beim Nachdenken über diesen Einwand ist mir klar geworden, wie sehr der 20. Juli und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine Brücke und ein geistiges Bindeglied von der großen Tradition der deutschen Geschichte zu einer noch zu gestaltenden Zukunft bildet. Die Weigerung junger Menschen, sich dem Bösen zu unterwerfen, ihr Glaube an die Möglichkeit gesellschaftlicher und politischer Ordnungen, die dem Einzelnen erlauben, es in einem neuen Miteinander auch wirklich zu sein, gibt uns ein Bild, das nicht nur politische Gegensätze überklammern, sondern auch jungen Menschen ein geistiges Heimatgefühl verschaffen kann, das sich sehr wohl zu einem neuen deutschen Volks- und Staatsbewusstsein, ja zu einem von allem emotionalen Nationalismus geläuterten bewussten Nationalgefühl erweitern lässt.

Hier liegt auch die Verbindung zu unseren deutschen Landsleuten im Osten und zu den Menschen anderer Völker und zu den Völkern anderer Erdteile und Kulturen. Es ist der gleiche Wille zur Freiheit des Einzelnen und zu einem neuen Miteinander, der die dem 20. Juli vergleichbaren Ereignisse der jüngsten Geschichte kennzeichnet. Denn zum 17. Juni 1953 und dem ungarischen Aufstand 1956, aber auch zu den Aufständen der Studenten in Korea und in der Türkei besteht eine direkte Verbindung von den geistigen Grundlagen des 20. Juli aus. Und wenn wir weiter in die Geschichte zurückgreifen, dann finden wir, dass die Geschichte in einem wohlverstandenen Sinn immer wieder dann groß war, wenn Überzeugungen lebendig und wirksam wurden, die auch die eigentlichen Kräfte des 20. Juli waren. So ergibt sich die Nähe des 20. Juli zur amerikanischen Declaration of Independence, zu den afroasiatischen Unabhängigkeitsbewegungen und zu vielen gleichrangigen Vorgängen in der Geschichte.

Der 20. Juli hat uns aus der Isoliertheit befreit, in die wir durch die Hitlerpolitik geraten waren. Er verbindet uns wieder nicht nur mit den großen Zeiten unserer eigenen Geschichte, sondern auch mit dem Edelsten und Größten, das in der Geschichte aller Völker hervorgebracht wurde.

Die Bedrohung der Freiheit als Existenzgrundlage des Menschen ist aber noch nicht beseitigt, sondern viel größer als man gemeinhin denkt. Die Gefahr kommt nicht allein von außen. Sie liegt auch in dem zeitgenössischen Menschen selbst, der seine geistig-moralische Seite so sehr vernachlässigte. Deshalb braucht die Gegenwart den Geist und die Wachsamkeit, die zum 20. Juli führten. Eine heilsame Entwicklung des Staates, der Gesellschaft und der Politik in allen ihren Entscheidungen wird nur dann möglich sein, wenn das zerfallene Gesamtbild des Menschen und seiner Ordnungen wieder neu entsteht, wie es uns allen damals vorschwebte.

Liebe Freunde, ich will die heutige Gedenkrede nicht dadurch belasten, dass ich auf die Frage eingehe, warum in der Gegenwart den Gedanken der Männer und Frauen des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus so wenig Rechnung getragen wird. Es ließe sich viel Kritisches darüber sagen. Man ist manches Mal mit Hermann Proebst versucht, besorgt zu fragen: „Können wir die Prüfung bestehen ohne eine geistige Anstrengung, ohne Glaubensentscheidung, ohne den ernsthaften Versuch heilloser Verwirrung zu entrinnen, ohne Übereinstimmung in den Grundfragen unserer Existenz?”

Wir wollen aber im Gedenken an unsere Toten nicht kleinmütig sein, sondern uns zu ihrem Glauben und zu ihrer Hoffnung bekennen, dass einmal der Tag kommt, an dem ihr Ansatz vollendet wird. Das Unverlierbare unserer Existenz liegt ja gerade in der Freiheit zu immer neuem Anfang. Geschichte ist fortwährende Schöpfung, zu der jeder Einzelne seinen Beitrag zu leisten hat. Das Entscheidende aber ist das gemeinsame Wollen neuer Ordnungen, die der Mensch wieder mittragen und vollziehen kann. Und wenn wir uns heute in Verehrung und Dankbarkeit vor unseren Toten verneigen, wollen wir hiermit das Gelöbnis verbinden, dass wir sie nicht vergessen und ihr Vermächtnis weitertragen wollen.






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20.07.1960
 Johann Adolf Graf von Kielmansegg
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