Der Glaube an das Recht

Horst Korber

Der Glaube an das Recht

Ansprache von Senator Horst Korber am 20. Juli 1973 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Wir haben uns hier an dieser Stätte versammelt, um derer zu gedenken, die in den Jahren 1933 bis 1945 Widerstand gegen die Hitler-Diktatur geleistet haben. Wir gedenken vor allem der Männer des 20. Juli, die in der finstersten Zeit der deutschen Geschichte den Aufstand gewagt und dafür mit dem Leben bezahlt haben. Wir schließen aber auch die Frauen und Männer in unser ehrendes Gedenken ein, die in den Jahren der Terrorherrschaft den stillen Widerstand verkörpert haben.

Für diejenigen unter Ihnen, deren Männer, Söhne, Väter und Brüder hingerichtet wurden, ist die Vergangenheit heute wieder erschütternde Gegenwart. Für Millionen aber, die nach 1945 aufgewachsen sind, wird der Zugang zu den Ereignissen des 20. Juli immer schwerer. Die jüngere Generation lebt wie jede Generation in ihrer Zeit. Wie, so ist zu fragen, können wir in dieser Zeit das Vermächtnis der Frauen und Männer des Widerstandes der jüngeren Generation so begreiflich machen, dass sie es auch als ihr Vermächtnis aufnimmt? Nicht nur, um den Frauen und Männern des Widerstandes gerecht zu werden, sondern vor allem im wohlverstandenen Interesse unserer Jugend selbst.

Wir sollten, so meine ich, uns den Menschen unmittelbar zuwenden, die den Widerstand verkörpert haben. Die Tat des 20. Juli 1944 ist ein historischer Vorgang in einer einmaligen Situation, und sie ist deshalb ein Stück Geschichte. Diese Tat hat den Widerstandskämpfern den Stempel des Heldischen aufgedrückt. Und doch wollten diese Deutschen keine Helden sein. Sie wollten keinen Lorbeer, sie strebten nicht ehrgeizig nach Ruhm und Ehre. Sie taten nur das, was ihnen ihre zutiefst sittliche Überzeugung, ihr Gewissen befahl, und sie waren bereit, dafür ihr Leben einzusetzen. Sie verkörperten menschliche und moralische Grundwerte, die wir auch heute und morgen brauchen, Werte, auf die kein freiheitliches Staatswesen und kein Volk verzichten kann, schon gar nicht das deutsche Volk, von dem man – wohl nicht ganz unbegründet – sagt, es habe noch nicht das richtige Verhältnis zu seiner Geschichte gefunden.

Lassen Sie mich drei Elemente des Widerstandes beispielhaft herausgreifen: menschliche Solidarität, Glauben an das Recht und Mut, seinem Gewissen zu folgen.

Wenn ich die menschliche Solidarität an erster Stelle nenne, so denke ich vor allem an die Frauen und Männer des stillen Widerstandes. Diese Deutschen haben in einer Zeit, in der Millionen dem Diktator frenetisch zujubelten, die Fähigkeit besessen, den anderen zu sehen. Sie haben sich auf die Seite der Verfolgten gestellt, auf die Seite derer, die recht- und hilflos waren.

Wer kennt die Namen all der Namenlosen, die in einer heute unvorstellbaren Situation der täglichen Bedrohung ihren verfolgten Freunden und Bekannten geholfen und vielfach das Schlimmste abgewendet haben? Dieser Widerstand war oft nur die bittere Konsequenz einer Machtlosigkeit, der es darauf ankam, das Unrecht zu mildern. Wie stark aber war die menschliche Solidarität dieses Widerstandes! Diese Solidarität mit den Verfolgten schloss die Bereitschaft ein, ihr Schicksal ganz zu teilen bis zum Tod im Konzentrationslager. Lassen Sie mich zu dem stillen Widerstand aber auch die Angehörigen der Widerstandskämpfer rechnen, die ihr Liebstes, Männer, Söhne, Väter und Brüder, verloren haben.

Ich habe an zweiter Stelle den Glauben an das Recht genannt. Die Widerstandskämpfer hatten erkannt, dass diejenigen, die politische Macht mit Schlägerbanden oder mit politischem Mord eroberten, weder vor den Grundrechten des Einzelnen noch vor der Friedensordnung des Völkerrechts Halt machen würden. Sie haben gesehen, wie sich Unrecht immer mehr in Ruchlosigkeit verwandelte. So sind uns die Widerstandskämpfer bleibendes Vorbild, dem Unrecht zu widerstehen.

Wenn ich an letzter Stelle den Mut genannt habe, dem Gewissen zu folgen, so kann auch das nur ein Element des Vermächtnisses der Widerstandskämpfer sein. Ich meine damit die innere Kraft, dem für richtig erkannten Weg unbeirrt zu folgen. Die Frauen und Männer des Widerstandes haben das Wagnis des Handelns auf sich genommen. Sie sind aufrecht für ihre Überzeugung in den Tod gegangen. So müssen wir der jüngeren Generation den Widerstand verständlich machen. Er ist nichts anderes als die Bereitschaft, die tiefsten Werte der Menschlichkeit konsequent in die Tat umzusetzen.

Wir sollten unserer Jugend aber auch sagen, dass die Frauen und Männer des Widerstandes keine Attentäter oder Berufsrevolutionäre waren. Sie waren Menschen, die nichts anderes wollten, als ein Leben in Recht und Gerechtigkeit, ein Leben für ihre Familien in Freiheit und in Frieden.

Sie kämpften für Grundwerte, die heute als Grundwerte verwirklicht sind, mag auch im Einzelnen noch vieles in unserer Gesellschaft zu verbessern sein.

Wenn es uns gelingt, diese Grundwerte zu bewahren, zu entwickeln und weiterzugeben, können wir von uns sagen, dass wir das Vermächtnis des Widerstandes erfüllt haben.






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