"Der Herr nimmt in seinen Zeugen Gestalt an."

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Karl Meyer

„Der Herr nimmt in seinen Zeugen Gestalt an.“

Predigt von Pater Provinzial Dr. Karl Meyer OP im Rahmen des Ökumenischen Gottesdienstes am 20. Juli 2003 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Lesungen: Jeremia 23, 1-6; Eph 2, 13 - 18.

Evangelium: Mk 6, 30 - 34.

Durch die Jahrhunderte hindurch können wir es beobachten: Menschen, ja ganze Völker werden verführt. Sie haben keine guten Hirten und fallen den Wölfen, die natürlich Kreide fressen, zum Opfer.

Wenn Hitler sagt: „Mit traumwandlerischer Sicherheit gehe ich den Weg, den die Vorsehung mir vorgezeichnet hat“, dann beutet er die religiöse Seele des deutschen Volkes aus, die ihre letzte Gottbezogenheit nicht leugnen mag und die religiösen Versatzstücke liebt. Da es sich aber nicht zu Gott bekehrt hat, versteht es Gottes Vorsehung nicht und rennt mit dem Verführer in den Abgrund.

Ein Augenzeuge berichtete über Goebbels berüchtigte Sportpalastrede mit dem Aufruf zum totalen Krieg: „Wenn Goebbels weitergefragt hätte: ‚Wollt ihr alle in den Tod gehen?’ So hätten sie genauso ‚ja’ gebrüllt.“

Und das Volk bezahlt den Fanatismus mit dem Verlust von Hab und Gut und Leben und Ehre. Als Freisler beim Luftangriff am 3. Februar 1945 den Tod findet, da trifft es nicht nur diesen Blutschergen, da sterben in dieser Stadt weitere 22.000 Menschen. Und damit hat das Morden und Sterben noch lange nicht den Abschluss gefunden.

Gott hat Erbarmen mit den Menschen, die nicht rechts von links unterscheiden können. Er möchte ihnen Orientierung und Heilung zukommen lassen. Orientierung und Heilung fallen aber nicht einfach vom Himmel. Gott beginnt vielmehr mit einzelnen Menschen, ergreift ihr Herz, so dass sie auf ihn hören, gewinnt sie als seine Boten.

Ezechiel ist einer von ihnen. Er sieht während der Verbannung Judas in Babylon in einem Wachtraum eine endlose Ebene voll von Totengebeinen. Er hört Gott zu sich reden: „Menschensohn, sprich zu den Gebeinen. Steht auf.“ Und er gehorcht. Als er selbst spricht, da kommt Leben in die Totengebeine. Er selbst muss es tun. Er selbst muss zu den Verbannten sagen: „Ihr habt eine Zukunft. Und Zukunft geschieht.“

Der Mensch als Ort der Wahrheit spürt zutiefst: So wird richtig vom Menschen geredet. Deshalb bewahrt die Menschheit in der Bibel diese Geschichten auf, erzieht nachfolgende Generationen daran zum menschlichen Leben nach Gottes Weise. Verheißungen begleiten sie in die Zukunft.

Menschliches Leben gelingt dann eines Tages in unvergleichlich dichter Weise in Jesus von Nazareth. Er sagt: „Das Reich Gottes ist da.“ Überraschende Dinge passieren: Blinde sehen, Lahme gehen, Tote stehen auf. – Er ist der gute Hirt, der sich um die verlorenen Schafe kümmert. Er ist der Hirt, weil er ohne Vorbehalt auf Gottes gutes Wort setzt. Geht man der Gewissheit nach, aus der heraus Jesus redet und handelt, Menschen konkrete Zusagen macht, dann muss man sagen: „Dieser Mann ist der Sohn Gottes. „

Mit Jesus hat Gott der Vater einen Platz in der Welt, der ihm durch niemanden und nichts streitig gemacht werden kann. Das zu verhindern, wird zwar mit aller Macht versucht: Aber unter der Gewalt gegen Jesus kommen nur neue Weisen von Leben, die Gott zu bieten hat, zum Vorschein. Vor allem schließlich die Auferstehung.

Auferstehung, das heißt:

Der Sohn Gottes Jesus von Nazareth war nicht einfach eine Episode in der Menschheit. Geschichten von ihm zu erzählen, ist nicht Denkmalpflege. ER ist damit auch nicht nur der Menschheit als ein Großer der Vergangenheit bleibend eingeschrieben, sondern er lebt in der Menschheit.

Jesus Christus ist es, der von Gott dem Vater her den Geist ausgießt, der die Menschen durch seinen Geist führt und sie zum Guten ermächtigt. Er reißt die Mauern nieder, indem er von innen die Menschen zueinander bewegt.

Wie macht Jesus das? Er bleibt auf unterschiedliche Weise bei den Menschen.

Jesus bleibt mit seiner Lehre. Er gibt nicht nur Zeugnis für die Wahrheit vor Pilatus. Er ist es, der in Menschen für die Wahrheit Zeugnis gibt. Sein Geist, der Anwalt, redet durch sie.

In manchen erweckt er den Geist absoluter Klarheit. Da ist Franz Jägerstetter, ein einfacher Bergbauer und Mesner aus Oberösterreich. Er stirbt in Brandenburg unter der Guillotine, weil er sich weder durch Zureden des Heimatpfarrers, noch durch hilfsbereite Deutung der Militärrichter dazu bringen lässt, den Fahneneid auf Adolf Hitler abzulegen, weil er weiß: Der ist vom Bösen.

Da ist Paul Schneider, der Prediger von Buchenwald.

Da ist Hellmuth James Graf von Moltke, an dem durch Freisler der abgrundtiefe Gegensatz von Christentum und Nationalsozialismus aufgedeckt wird. „Der entscheidende Satz jener Verhandlung war“ – so schreibt er an seine Frau – „,Herr Graf, eines haben das Christentum und wir Nationalsozialisten gemeinsam, und nur dies eine: Wir verlangen den ganzen Menschen.’ Ob er sich klar war, was er da gesagt hat? Durch alle Umstände steht Dein Mann vor Freisler nicht als Protestant, nicht als Großgrundbesitzer, nicht als Adeliger, nicht als Preuße, nicht als Deutscher, sondern als Christ und als gar nichts anderes.“

Da ist Henning von Tresckow, der in seinem Vermächtnis schreibt: „Ich halte Hitler nicht nur für den Erzfeind Deutschlands, sondern auch für den Erzfeind der Welt.“

Jesus bleibt das Brot des Lebens, der, von dem sie leben.

Ich erinnere an Alfred Delp’s Erfahrung:

Inmitten der „Wunden der Not“ die „Wunder der Not“ zu erfahren, die „heilende Kraft Gottes“, ja die Innigkeit der Gottesbegegnung, „Freundschaft, Liebe, Dialog durch alle Seinsschichten, so daß plötzlich das Herz die Fülle des zuströmenden Lebens und Glückes nicht zu fassen vermag." Freilich, diese Erfahrung: "Gott ist als ein Brunnen in uns" wechselt ab mit den Erfahrungen der "Wüste".

Von dieser inneren Nähe und Führung spricht auch Johannes Groß, und Moltke schreibt an seine Frau: „Nein, ich beschäftige mich gar nicht mit dem lieben Gott oder mit meinem Tod. Er hat die unaussprechliche Gnade, zu mir zu kommen und sich mit mir zu beschäftigen.“

Jesus bleibt im Brot des Lebens, im Sakrament.

Peter Graf Yorck von Wartenburg schreibt an seine Frau: „Als wir vom letzten Abendmahl hinweggingen, da fühlte ich eine fast unheimliche Erhabenheit, ich möchte es eigentlich Christusnähe nennen. Rückblickend scheint sie mir als ein Ruf.“

Wie wichtig ist es den Gefangenen in der Lehrter Straße gewesen, Abendmahl und Eucharistie zu feiern, als Anteil an der Feier den heiligen Leib des Herrn zu empfangen, so dass Eberhard Bethge und Pater Odilo Braun einander unterstützend für alle gesorgt haben. Das ist ja der Ursprung unserer Feier hier in Plötzensee.

Jesus Christus ist es, der unter fremder Gestalt herantritt und die Zukunft in ausweglosen Situationen öffnet. Von wie viel Beispielen solcher Errettung haben unsere verehrte Frau Rahtgens oder Barbara von Haeften in ihren Lebenserinnerungen erzählt.

Und der Herr nimmt in seinen Zeugen Gestalt an, um sein Werk zu tun.

Henning von Tresckow hat gesagt: „Wer in unseren Kreis getreten ist, hat damit das Nessos-Hemd angezogen.“ Meines Erachtens hat die klassische Bildung hier Tresckow unter dem Herakles-Mythos eine zu kurze Deutung der Situation nahe gelegt. Vielmehr haben er und seine Mitstreiter Jesus Christus als Gewand angezogen. Bekleidet mit ihm, leben und sterben sie für die Ehre Gottes und die Würde des Menschen.

Jesu Zeugen sterben nicht an dem Gift, mit dem sie sich unfehlbar gegen andere durchsetzen. Für sie gilt vielmehr: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Stirbt es aber, so bringt es viele Frucht.“ So gehört zum Tod auch die Auferstehung von den Toten dazu.

Hellmuth von Moltke noch einmal: „Ich .... rühme den köstlichen Schatz, der sich dieses irdischen Gefäßes, dieser ganz unwürdigen Behausung bedient hat.“ Da wird das Wort des Paulus neu: „Ich lebe, nein nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“

Da ist auch Edith Stein, die ganz von Jesus Christus durchdrungen ist. Ihre heitere Haltung im KZ Westerbork hat die Lage verwandelt, viele Menschen in ihrem Leid getröstet. Mit dieser christlichen Stärke geht sie in Auschwitz mit den Brüdern und Schwestern ihres Volkes in den Tod.

Was bleibt für uns?

Wir stehen vor großen Herausforderungen und Aufgaben. Unser Umfeld bietet uns alles an. Vor diesem Angebot stehen viele Menschen ratlos, greifen nach dem Erstbesten und enden mit ihrer Wahl im Unglück. Viele Menschen sind vernachlässigt und verwahrlost. Wie Schafe, die keinen Hirten haben.

Wir beklagen den Verlust von Werten. Sollen wir Kirchen nun als gesellschaftliche Kraft neben Gewerkschaften und Parteien Konzepte für die Zukunft vorlegen? Forderungen erheben? Das wäre fatal.

Wir haben mehr zu bieten: Jesus Christus und die Menschen, in denen er sich vergegenwärtigt. Wenn Papst Johannes Paul II Edith Stein mit zwei anderen großen Frauen zur Patronin Europas erklärt hat, dann meint das: Sie hat uns etwas zu sagen und zu geben.

In unserer Zeit beklagt man beispielsweise die Brüchigkeit menschlicher Beziehungen. Der Herr belehrt und ermutigt uns mit den Worten seiner Freunde. Haben wir denn Schöneres über die Liebe, als was Moltke im Abschiedsbrief an seine Frau schreibt:

„Und nun mein Herz, komme ich zu dir. Ich habe Dich nirgends aufgezählt, weil Du, mein Herz, an einer ganz anderen Stelle stehst als alle die anderen. Du bist nämlich nicht ein Mittel Gottes, mich zu dem zu machen, der ich bin, Du bist vielmehr ich selbst. Du bist mein 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs. Ohne dieses Kapitel ist kein Mensch ein Mensch. Ohne Dich hätte ich mir Liebe schenken lassen, ... dankbar wie man ist für die Sonne, die einen wärmt. Aber ohne Dich, mein Herz, hätte ich der Liebe nicht. Ich sage gar nicht, daß ich Dich liebe; das ist gar nicht richtig. Du bist vielmehr jener Teil von mir, der mir alleine eben fehlen würde. ... Nur wir zusammen sind ein Mensch. .... Wir sind, was ich vor einigen Tagen symbolisch schrieb, Schöpfungsgedanke. Das ist wahr, buchstäblich wahr. Darum mein Herz, bin ich auch gewiß, daß Du mich auf dieser Erde auch nicht verlieren wirst, keinen Augenblick. Und diese Tatsache, die haben wir schließlich auch noch durch unser gemeinsames Abendmahl, das nun mein letztes war, symbolisieren dürfen.“

Gibt es eine bessere Lehre über die herzliche Einheit in der Ehe, als die, dass fast keine der Frauen der Ermordeten wieder geheiratet hat?

Heute suchen viele nach dem Sinn des Lebens. Wenn es von Jesus im heutigen Evangelium heißt: „Er lehrte sie vieles“, dann geht es nicht um Lehrsätze, sondern Jesus erzählt von seinen Erfahrungen mit der Liebe seines Vaters.

Uns heute belehrt er über die tiefsten Quellen menschlichen Lebens durch Menschen, die sein Wort in sich aufgenommen haben, die seinen Geist haben.

Wenn Alfred Delp in seiner Todeszelle schreibt: „Brot ist wichtig, die Freiheit ist wichtiger, am wichtigsten aber die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung“, dann ist das nicht in Meditationskursen erworbene Scheinmystik, sondern die Erfahrung der überwältigenden Liebe Gottes.

Wir, die wir hier sind, die eine persönliche Beziehung zu Menschen des Widerstandes gegen Adolf Hitler haben, sind Bevorzugte. Wir haben einen wunderbaren Schatz ererbt. Uns müsste man zurufen: Was du durch deine Väter und Mütter von Christus ererbt hast, erwirb es, um es zu besitzen, um daraus leben zu können. Lasst euer Herz von neuem davon anrühren!

Das Leben wird in unseren täglichen Entscheidungen geschehen müssen, die wir im einzelnen nicht voraussagen können, für die wir keine Patentrezepte angeben können. Wo steht einer in seinem Leben? Was ist für ihn dran, um auch die Gemeinschaft wirksam zu fördern? Das ist für uns kaum zu erheben.

Die Entscheidungen werden aber gut sein, wenn sie aus dem guten Erbe, der guten Lehre des Herrn hervorgehen. Hier in Plötzensee haben manche gezeigt, dass sie mit einem solch reichen Erbe beschenkt waren, dass sie ihr ganzes Leben für unsere Zukunft geben konnten.

Reich sind wir, Schwestern und Brüder, gerade die, die solche Zeugen von Gottes Liebe in ihren Familien haben, darum können wir es uns leisten, viel mehr zu teilen, von unserm Geld und Gut, von unserer Zeit, von unserer Liebe. Und darauf wird der Friede wachsen, den die Welt so dringend ersehnt. Den möge der Herr uns schenken.

Amen.






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