Der Widerstand formt das Traditionsbild der Bundeswehr

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Ulrich de Maizière

Der Widerstand formt das Traditionsbild der Bundeswehr

Gedenkrede des Generalinspekteurs der Bundeswehr General Ulrich de Maizière am 20. Juli 1966 in der Bonner Beethovenhalle

Es ist kein Zufall, dass in der Reihe der Gedenkveranstaltungen zum 20. Juli 1944 immer wieder Soldaten zu Worte kommen. Ich erinnere daran, dass vor mir an dieser Stelle schon die Generale Graf Kielmansegg und Graf Baudissin aus Anlass des Gedenkens an den Widerstand gegen die nationalsozialistische Terrorherrschaft gesprochen haben. Im vorigen Jahr vertrat der Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, Karl Gumbel, hier als Sprecher das Verteidigungsressort.

Gewiss, gerade wir Soldaten sind uns bewusst, dass die Gruppe der Offiziere nur ein Teil der im Widerstand kämpfenden Kräfte war. Alle Schichten des deutschen Volkes haben am Widerstand teilgehabt: Konservative, Liberale, Sozialisten, Wirtschaftsführer und Gewerkschafter, Geistliche, Diplomaten, Beamte, Soldaten, Arbeiter und andere mehr.

Wohl aber haben die Soldaten eine wichtige handelnde Rolle gespielt; waren sie doch zu dieser Zeit die Einzigen, die noch über ein Machtmittel zur Aktion verfügten. Wohl ist die Zahl der Opfer, die zu bringen waren, unter den Soldaten am größten. Nach den mir bekannten und zugänglichen Unterlagen haben 158 Männer im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 ihr Leben gegeben, sei es dass sie ermordet und hingerichtet wurden, selbst ihrem Leben ein Ende gesetzt haben oder auf andere Weise umgekommen sind. Von diesen 158 Opfern haben 78, also etwa die Hälfte, die Uniform der Wehrmacht getragen; allein 20 waren Generale. Manche von diesen Soldaten - und darunter gute Freunde von mir - starben nur deshalb, weil sie von den Überlegungen und Vorbereitungen der Verschwörer zwar etwas gewusst, ihnen aber die Kameradschaft und die Hoffnung den Mund verschlossen hatten und sie nicht zu Denunzianten werden ließen.

Der sichtbarste Repräsentant der im Widerstand verbundenen und kämpfenden Offiziere war neben dem Generaloberst Ludwig Beck der Oberst Graf Claus Schenk von Stauffenberg; er, der sich zu entscheidender Tat durchrang, der als erster die Brücken hinter sich abbrach und sogar das Odium des Attentäters auf sich nahm.

Wer beauftragt ist, über ein geschichtliches Ereignis von solcher Tragweite zu sprechen; ist versucht, zunächst die persönlichen Beziehungen zu den handelnden Gestalten zu suchen. Als ganz junger Generalstabsoffizier tat ich 1942/43 in der Organisationsabteilung des Generalstabes des Heeres Dienst. Dort traf ich mit Oberst Stieff und den damaligen Majoren Merz von Quirnheim und Graf von Stauffenberg zusammen. Letzterer war gerade 35 Jahre alt. Wir arbeiteten sozusagen Tür an Tür. Ganz lebendig steht mir dieser mit einer jugendlichen Ausstrahlungskraft begnadete Offizier noch vor Augen. Nie wieder habe ich erlebt, dass ein junger Generalstabsoffizier eine solche Vertrauensstellung im ganzen Generalstab besaß wie er. Er konnte zuhören - eine große Kunst. Er konnte raten in einer Art, die jedem Beratenen das Gefühl der Richtigkeit des erteilten Rates vermittelte. Er konnte Widerstrebende durch überzeugende Argumente gewinnen. Und er konnte mit dynamischer Kraft handeln, wo er zur Tat gerufen war. Häufig holte ihn der damalige Chef des Generalstabes des Heeres, Generaloberst Halder, über mehrere Stufen der Hierarchie hinweg zum unmittelbaren Vortrag. Zugleich aber war er christlich gebunden, hochgebildet, musisch interessiert und von einer tiefen Fröhlichkeit erfüllt. Selten habe ich einen Menschen so erfrischend und so gelöst lachen hören wie ihn. Wir spürten damals, dass er zu höchsten Stellungen in der Armee prädestiniert war.

Nun, seine geschichtliche Leistung hat sich nicht in einem hohen militärischen Rang manifestiert; darauf kommt es ja auch nicht an. Wohl aber hat er für alle Zeiten ein Vorbild gesetzt, das heute einen Anknüpfungspunkt, ja einen Festpunkt für die Tradition in der Bundeswehr darstellen kann.

Der Traditionserlass der Bundeswehr stellt daher auch die Gewissenstreue und Gewissensentscheidung der Soldaten im Widerstand als beispielhaft für die Bundeswehr dar. „Ihr Geist und Ihre Haltung sind uns Vorbild“, so schrieb schon der erste Generalinspekteur der Bundeswehr, General Heusinger, in einem Aufruf an die Kommandeure der Bundeswehr im Jahre 1959. Zahlreiche Kasernen der Bundeswehr tragen die Namen von Widerstandskämpfern aller Bereiche.

Lassen wir aber unseren Blick schweifen über Mauer und Stacheldraht hinweg in jenen anderen Teil Deutschlands, der sich noch heute unter einer totalitären Diktatur befindet und unter Missbrauch des wahren Sinngehaltes des Wortes Demokratie sich „Deutsche Demokratische Republik“ nennt, so stellen wir mit Erstaunen fest, dass man auch dort den Namen und die Tat Stauffenbergs für sich beansprucht. So schreibt z. B. der Stellvertretende Staatsratsvorsitzende, Heinrich Homann, in der Ostberliner Nationalzeitung zum 20. Juli 1964 einen Artikel unter der Schlagzeile „Stauffenberg ist unser“. Bei einer Besprechung in der „Zeit“ vom 28. Januar 1966 über die beiden neuesten Bücher aus den Jahren 1964/65 über Stauffenberg von Bodo Scheurig und Joachim Kramarz zieht Wolfgang Venohr den Schluss: „Stauffenberg gehört weder der Bundesrepublik noch der DDR. Stauffenberg ist weder des Westens noch des Ostens. Er gehört dem ganzen Deutschland.“

Ich stimme dem Satz „er gehört dem ganzen Deutschland“ voll und ganz zu. Schließlich hat Stauffenberg nie an ein geteiltes Deutschland gedacht. Wer hätte schon 1944 die Phantasie gehabt, sich das zweigeteilte Deutschland des Jahres 1966 vorstellen zu können. Sicherlich hat Stauffenberg gearbeitet und ist er gestorben für das ganze „heilige“ Deutschland, um mit seinen letzten Worten zu sprechen. Ebenso sicher aber hat er sich dabei ein Deutschland in freiheitlicher und rechtsstaatlicher Ordnung vorgestellt. Sein Kampf galt der Diktatur, der unrechtmäßigen Gewalt, dem Verfall von Anstand und Moral, der Verletzung menschlicher Würde, dem Missbrauch guten Willens. Für ihn und seine Freunde hätten Bautzen und Workuta in einer Linie mit den Konzentrationslagern des 3. Reiches gestanden.

Wir, die wir glauben, für ein ganzes Deutschland in Einheit und Freiheit sprechen zu dürfen, können daher getrost Stauffenberg und mit ihm alle Männer des Widerstandes in Übereinstimmung mit der großen Zielsetzung sehen, an der alle die Verfassung bejahenden politischen Kräfte unserer Bundesrepublik gemeinsam arbeiten.

Die Männer des Widerstandes sind - ich sagte es schon - traditionswürdige Vorbilder für die Bundeswehr. Tradition aber ist nur dort sinnvoll, wo sie uns hilft, den uns heute gestellten Auftrag zu erfüllen. Wir haben also die Frage zu stellen, welche Hilfen und welche Lehren wir aus den Vorgängen des 20. Juli für das Verhalten der Soldaten der Bundesrepublik gewinnen können.

Ich meine zunächst, wir sind veranlasst worden, über die Fragen der Pflicht, des Gehorsams und des Eides neu und tiefer nachzudenken. Das Ergebnis dieser Prüfung ist häufig diskutiert und kommentiert worden. Lassen Sie es mich trotzdem noch einmal zusammengefasst vortragen. Jede soldatische Institution bedarf - auch im Zeitalter der Technik und der gesellschaftlichen Wandlungen - zur Erfüllung ihrer Aufgabe einer hierarchischen Ordnung. Es müssen Befehle erteilt, es muss Gehorsam geübt werden. Der Gesetzgeber hat im Soldatengesetz die Pflicht zum Gehorsam gesetzlich verankert. Der erteilte Befehl ist unverzüglich, gewissenhaft, mit allen Kräften und vollständig auszuführen. So steht es dort. Eine strenge und umfassende Forderung, die im Übrigen nicht im Gegensatz zu unserer Konzeption eines „mitdenkenden Gehorsams“ steht. Im gleichen Gesetz aber sind dem Befehlenden wie dem Gehorsam Grenzen gesetzt worden. Befehle, die nicht zu dienstlichen Zwecken gegeben werden oder die gegen die Menschenwürde verstoßen, brauchen nicht befolgt zu werden. Befehlen, deren Befolgung ein Verbrechen oder Vergehen mit sich bringen würden, darf nicht gehorcht werden. Zum Ungehorsam berechtigt andererseits nicht eine gegenteilige Meinung über die reine Zweckmäßigkeit eines Befehls. Sie kann und sollte in Gegenvorstellungen vorgebracht werden, entbindet aber nicht vom Gehorsam, wenn der Befehl aufrecht erhalten wird.

Insoweit ist die Regelung einfach, vernünftig und einer demokratischen Ordnung angemessen.

Die Problematik setzt erst ein, wenn eine Staatsführung die legale verfassungsmäßige Grundlage verlässt, wenn sie moralische Maßstäbe missachtet, wenn sie Freiheit, Recht und Menschenwürde mit Füßen tritt, kurz wenn sie zur verbrecherischen Staatsführung wird, Opposition und freie Meinungsäußerung verhindert. Das aber ist eine Ausnahmesituation. Die Verhaltensweise für solche Fälle kann nicht gesetzlich kodifiziert werden. Hier setzt die freie Entscheidung des sittlich gebundenen Gewissens ein.

Aber eine solche schwere Entscheidung - vor die die Soldaten der Bundeswehr hoffentlich niemals gestellt werden - ist dem heutigen Soldaten leichter gemacht als dem der Vergangenheit. Der Eid, den das nationalsozialistische Regime seinen Soldaten abverlangte, band diese an die Person Adolf Hitlers und forderte unbedingten Gehorsam. Zwar galt auch für diesen Eid die Erkenntnis, dass in der Geschichte des Abendlandes der Eid immer eine zweiseitige Verpflichtung gewesen ist. Er bindet den, der ihn entgegennimmt nicht weniger, als den, der ihn leistet. Der Wille zum rechtmäßigen Handeln ist selbstverständliche Voraussetzung für den Eidgeber und Eidnehmer. Nur deshalb kann der Eid auch mit einer religiösen Bekräftigung verbunden werden. Der Wortlaut des Soldateneides des Dritten Reiches aber machte das Erkennen dieser Zusammenhänge schwierig und brachte viele tapfere und ehrenwerte Soldaten in schwere Gewissensnot. Eid und Gelöbnis der Soldaten der Bundeswehr sind anders geartet. Sie binden Gehorsam und Einsatz des Lebens an Recht und Freiheit des deutschen Volkes, d. h. an die sittlichen Grundlagen unserer Verfassung. Damit wird der Soldat zum Verteidiger einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Staatsordnung. Wenn die demokratische Grundordnung von der politischen Führung verlassen werden sollte, dann - aber nur dann - mahnen ihn Eid und Gewissen zu eigener Entscheidung.

Die Männer des 20. Juli haben uns hierfür ein Beispiel gesetzt. Ich stimme jedoch voll mit dem General Graf Kielmansegg überein, wenn er vor genau drei Jahren an dieser Stelle gesagt hat: „Als Vorgang kann der 20. Juli sicher keine Norm setzen, ganz einfach deswegen, weil niemals ein Verhalten in einer Ausnahmesituation eine Norm setzen kann. Das außergewöhnliche Extrem kann nicht die Regel des täglichen Handelns sein.“ In einer rechtsstaatlichen Demokratie, ich wiederhole es, ist dieser Vorgang nicht die Regel. Aber er gelte uns als ständige Mahnung.

Lassen Sie mich ein Letztes sagen. Es liegt mir am Herzen, zusammen mit meinem eindeutigen Bekenntnis zum 20. Juli 1944 zugleich den Soldaten gerecht zu werden, die in jenen Kriegsjahren glaubten, wie Generationen von deutschen Soldaten vor ihnen, ihre Pflicht im Kampf an der Front treu zu erfüllen. Schuld und Verhängnis sind hier eng verwoben. Aus der Sicht ihres Verantwortungsbereiches heraus erkannten viele hinter der äußeren Fassade nicht das Ausmaß des Verbrechens und die bösen Absichten, die hinter all dem Geschehen standen. Und so sie es dunkel ahnten, glaubten sie, der Abwehr des äußeren Feindes, dem Schutz der Familie und Heimat, dem soldatischen Gehorsam den Vorrang geben zu müssen. Oft entschieden sie sich auch hierzu nur unter Gewissensnot.

General Graf Baudissin zitierte hier vor zwei Jahren aus einer Denkschrift Goerdelers aus dem Jahre 1943, in der es heißt, dass „die einzige Spaltung, die es in Deutschland geben darf, die zwischen ‚anständig’ und ‚unanständig’ sein dürfe“. Daran anknüpfend wollte Graf Baudissin die „schmerzlichen Fronten von damals zwischen Widerständlern und Nicht-Widerständlern überwinden“.

Wenn wir also in die Zukunft schauen und eine tragfähige Formel der Lehren aus dem 20. Juli für unser heutiges Verhalten suchen wollen, so sollten wir weniger fragen: Wo bist Du gewesen, hier oder dort? Wir sollten vielmehr prüfen: Welches waren Deine sittlichen Motive? und jeder sollte sich selbst erforschen: Hast Du, nach dem, was Du damals wusstest und beurteilen konntest, „anständig“ gehandelt ohne Rücksicht auf die eigene Person, selbst wenn die Erfolgsaussichten gering waren? Und wenn wir bei dieser Prüfung an uns auch nur etwas auszusetzen haben, so sollte das unser Gewissen schärfen und eine Mahnung für künftiges Handeln sein.

Das was ich mit diesem Schlussgedanken zum Ausdruck bringen wollte, hat schon im 18. Jahrhundert der französische Rechts- und Staatsphilosoph Charles de Montesquieu klassisch formuliert. Er schrieb in „L’esprit des lois“, Buch 11, Kapitel 3:

„La liberté politique ne consiste point á faire de que l’on veut. Dans uns Etat, c’est-á-dire dans une société ou il y a des lois, la liberté ne peut consister qu’á pouvoir faire ce que l’on doit vouloir; et à n’etre point contraint de faire ce que l’on ne doit pas vouloir.“

In deutsch heißt das:

„Die politische Freiheit besteht nicht darin, zu machen, was man will. In einem Staat, d. h. in einer Gesellschaft, in der es Gesetze gibt, kann die Freiheit nur darin bestehen, dass man tun kann, was man wollen muss, und nicht gezwungen zu sein, zu tun, was man nicht wollen darf.“

Tun wir das Unsere, jeder an seiner Stelle, eine Gesellschaftsordnung zu bewahren und zu schützen, in der die Freiheit herrscht, die mit moralischen Maßstäben verbunden bleibt.






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