Die Autorität des Endes
Eberhard Bethge
Die Autorität des Endes
Ansprache von Prof. Dr. Eberhard Bethge DD am 20. Juli 1972 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin
Lasst uns nun der Toten dieser Stätte gedenken; mit ihnen unserer Nächsten und Freunde, die wie sie ihr Ende fanden. Wir denken an sie, weil sie zu der kleinen Schar derer gehören, denen gegönnt wird, mit ihrem Tod eine neue Sprache des Lebens zu sprechen!
1891 schrieb Michael Baumgarten – man fragt sich, woher kam ihm damals eine solche Vision ?– :
„Es gibt Zeiten, in denen Reden und Schriften nicht mehr ausreichen, um die notwendige Wahrheit verständlich zu machen. In solchen Zeiten müssen Taten und Leiden der Heiligen ein neues Alphabet schaffen, um das Geheimnis der Wahrheit neu zu enthüllen.“
Die Enthüllung der Wahrheit begann bei unseren Toten mit einer negativen Einsicht; sie hieß: Der Unschuldigen Blut schreit zum Himmel; Gottes Menschenliebe ist gelästert; das Humanum unerträglich geschändet.
Darum reichten Rede und Schrift nicht aus. Darum kostete es Taten und Leiden der Märtyrer, das Alphabet zu schaffen, das die Wahrheit von der Freiheit der Söhne Gottes wieder enthüllt.
So vernahmen Soldaten eines Tages hinter dem Befehl des bösen Genies den Befehl ihres Gewissens. So beschränkten sich Staatsbeamte eines Tages nicht mehr auf die fatal verengte Ethik und Tüchtigkeit ihres Berufssektors, sondern ließen sich zurückholen in die Mitverantwortung für das Ganze und für die politische Zukunft der Deutschen in der Völkerfamilie. So traten Christen und Nichtchristen eines Tages aus der Reihe der Komplizenschaft mit dem Ungeheuerlichen heraus und verzichteten auf den Beifall einer Nation für das Opfer auf dem Schlachtfeld. Eines Tages sahen sie alle, dass das, wofür heute ein Lagername, Auschwitz, steht, jede künftige Freiheit vergiften würde; dass deshalb der teure Preis zu entrichten sei, um im Meer der Erniedrigung von Menschen wenigstens eine Insel neuer humaner Würde zu errichten.
Darum stehen wir an diesem Denkmal mit einem doppelten Gedenken. Wir denken an die Namen, die diese Tafel an der Hausmauer trägt; und wir denken an die Namenlosen, für die nur die schrecklichen Lagernamen stehen. Wir werden nicht aufhören dürfen, beides so eng aufeinander zu beziehen. Sonst stehen wir heute hier nur noch als die Privatpersonen, deren Schmerz weiter und weiter ins Vergangene sinkt und nicht mehr viele interessiert. Wir haben sonst das Recht verwirkt, hier zu einem Gedenken Jahr um Jahr zu rufen, das das Private überschreitet. Nein, dieses Gedenken gilt für und innerhalb unserer deutschen Geschichte dem Tiefpunkt in der pathologischen Geschichte des Brudermordes – und in diesem Bezuge dem Aufstand des 20. Juli 1944. Kain schlägt Abel, und wir schlugen die Juden! Wann hören die Menschen auf, Menschen zu jagen und zu schlagen? Damit jener Mord ein Ende fände, darum kam es zu dem Tod an dieser Hauswand.
Es ist wohl wahr: Tod ist gleich Tod. Dennoch sprechen die beiden Tode eine unterschiedliche Sprache. Die Massentode jener, die sogar ihres Namens beraubt wurden, bezeugen nichts, wirklich nichts als Tod. Hilflos und stumm stehen wir ihm auch heute gegenüber. Wir können ihn verdrängen, wir mögen ihn überspielen. Aber der Genozid bleibt uns im Nacken. Sollten wir ihn vergessen, zwingen wir andere, ihn nicht zu vergessen – mit Recht. So bleibt es noch dabei: Der Auschwitz-Tod tötet immer noch allen Glauben; Auschwitz verkündet immer noch das Ende jedes Humanums. Vernichtend und ungedeckt ergeht immer noch seine Anklage – nicht nur über die Katastrophe selbst, sondern erst recht über den Weg dorthin.
Wenn nun freilich die Opfer jenes Todes unentrinnbar ausgeliefert waren durch nichts weiter als durch das bloße Faktum von Geburt und Namen –, so gab das Moment der freien Wahl zum Aufstand dem Tod in diesem Hof ein Stück Würde zurück. Man hätte ja nicht tun müssen, was man tat; man hätte sich ja heraushalten können. Dort hatten Kains Nachkommen die Söhne Abels zum total entrechteten Kollektiv gemacht, um sie auslöschen zu können. Hier aber war noch mit dem Tod in jenen Nachtstunden Mitschuld und Mitverantwortung für Abels Schicksal in eigenem Entschluss übernommen. Wenn dort der Hass Menschen sogar noch im Sterben entmündigte, so hat hier das Lebensopfer neue, Menschenrecht offenbarende Aussage gewinnen dürfen. Jener Tod raubte sogar noch den Namen; dieser Tod gab ihn seinen Trägern und uns zurück.
Damit schickt uns aber dieser Platz mitten aus der Lähmung durch die Übergewalt des Auschwitz-Todes neu ins Leben zurück. Er bezeugt uns neue Zukunft für das tausendfach getötete Humanum. Jawohl, Auschwitz verklagt, aber dieser Platz tröstet. Seine Toten durchbrechen die Stummheit des anderen Todes; sie sprechen mit neuer Stimme von der Wahrheit der Menschenliebe Gottes.
Mit ihrem Ende haben sie dieser Stimme Autorität verliehen. Im Leben mag ihr Tun und auch ihr Lassen so mehrdeutig gewesen sein, wie das unsere mehrdeutig ist. Das letzte Opfer aber setzte das endgültige Siegel. Nun kann ihre Botschaft vom neuen Humanum durch sie nicht mehr korrumpiert oder widerrufen werden. Sie ist unmissverständlich gedeckt.
Die Autorisierung der Botschaft mit solchem Ende hat zu allen Zeiten Märtyrer dicht an die Heiligen Gottes herangerückt. So sind sie es nicht mehr, die gemessen werden. Sie messen uns.
Wenn, was die Opfer des 20. Juli 1944 dachten, vergessen sein wird; wenn, was sie taten, die politische Bedeutung verloren haben wird; wenn unsere streitbaren oder gar zwisterfüllten Urteile über ihre, sei es zu konservativen, sei es zu liberalen, sei es zu sozialistischen Planungen uninteressant geworden sein werden – dann wird das neue Alphabet, das sie in jener teuflischen Welt mit einem freien Tod schufen, dennoch weiter die neue Sprache des Humanum buchstabieren helfen.
Denn hier sind Handschellen, Gefängniszellen und Tode kostbare Signale vom Leben und von der Freiheit geworden. So lasst uns die Namen weiter nennen und wert halten.
Am Morgen nach der Nacht des 20. Juli 1944 schrieb ein Freund, der – bereits länger in Haft – in seiner Zelle sofort vom Scheitern der Tat gehört hatte, ein Gedicht, in dem es heißt:
Tat.
„Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
Nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
Nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,
Nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
Und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.
Leiden.
„Wunderbare Verwandlung. Die starken, tätigen Hände
Sind dir gebunden. Ohnmächtig, einsam siehst du das Ende
Deiner Tat. Doch atmest du auf und legst das Rechte
Still und getrost in stärkere Hand und gibst dich zufrieden.
Nur einen Augenblick berührtest du selig die Freiheit,
Dann übergabst du sie Gott, damit er sie herrlich vollende.
Tod.
„Komm nun, höchstes Fest auf dem Weg zur ewigen Freiheit,
Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern
Unseres vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele,
Dass wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen missgönnt ist.
Freiheit, dich suchen wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.“
(Dietrich Bonhoeffer: Aus „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“)
Die Autorität des Endes
Ansprache von Prof. Dr. Eberhard Bethge DD am 20. Juli 1972 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin
Lasst uns nun der Toten dieser Stätte gedenken; mit ihnen unserer Nächsten und Freunde, die wie sie ihr Ende fanden. Wir denken an sie, weil sie zu der kleinen Schar derer gehören, denen gegönnt wird, mit ihrem Tod eine neue Sprache des Lebens zu sprechen!
1891 schrieb Michael Baumgarten – man fragt sich, woher kam ihm damals eine solche Vision ?– :
„Es gibt Zeiten, in denen Reden und Schriften nicht mehr ausreichen, um die notwendige Wahrheit verständlich zu machen. In solchen Zeiten müssen Taten und Leiden der Heiligen ein neues Alphabet schaffen, um das Geheimnis der Wahrheit neu zu enthüllen.“
Die Enthüllung der Wahrheit begann bei unseren Toten mit einer negativen Einsicht; sie hieß: Der Unschuldigen Blut schreit zum Himmel; Gottes Menschenliebe ist gelästert; das Humanum unerträglich geschändet.
Darum reichten Rede und Schrift nicht aus. Darum kostete es Taten und Leiden der Märtyrer, das Alphabet zu schaffen, das die Wahrheit von der Freiheit der Söhne Gottes wieder enthüllt.
So vernahmen Soldaten eines Tages hinter dem Befehl des bösen Genies den Befehl ihres Gewissens. So beschränkten sich Staatsbeamte eines Tages nicht mehr auf die fatal verengte Ethik und Tüchtigkeit ihres Berufssektors, sondern ließen sich zurückholen in die Mitverantwortung für das Ganze und für die politische Zukunft der Deutschen in der Völkerfamilie. So traten Christen und Nichtchristen eines Tages aus der Reihe der Komplizenschaft mit dem Ungeheuerlichen heraus und verzichteten auf den Beifall einer Nation für das Opfer auf dem Schlachtfeld. Eines Tages sahen sie alle, dass das, wofür heute ein Lagername, Auschwitz, steht, jede künftige Freiheit vergiften würde; dass deshalb der teure Preis zu entrichten sei, um im Meer der Erniedrigung von Menschen wenigstens eine Insel neuer humaner Würde zu errichten.
Darum stehen wir an diesem Denkmal mit einem doppelten Gedenken. Wir denken an die Namen, die diese Tafel an der Hausmauer trägt; und wir denken an die Namenlosen, für die nur die schrecklichen Lagernamen stehen. Wir werden nicht aufhören dürfen, beides so eng aufeinander zu beziehen. Sonst stehen wir heute hier nur noch als die Privatpersonen, deren Schmerz weiter und weiter ins Vergangene sinkt und nicht mehr viele interessiert. Wir haben sonst das Recht verwirkt, hier zu einem Gedenken Jahr um Jahr zu rufen, das das Private überschreitet. Nein, dieses Gedenken gilt für und innerhalb unserer deutschen Geschichte dem Tiefpunkt in der pathologischen Geschichte des Brudermordes – und in diesem Bezuge dem Aufstand des 20. Juli 1944. Kain schlägt Abel, und wir schlugen die Juden! Wann hören die Menschen auf, Menschen zu jagen und zu schlagen? Damit jener Mord ein Ende fände, darum kam es zu dem Tod an dieser Hauswand.
Es ist wohl wahr: Tod ist gleich Tod. Dennoch sprechen die beiden Tode eine unterschiedliche Sprache. Die Massentode jener, die sogar ihres Namens beraubt wurden, bezeugen nichts, wirklich nichts als Tod. Hilflos und stumm stehen wir ihm auch heute gegenüber. Wir können ihn verdrängen, wir mögen ihn überspielen. Aber der Genozid bleibt uns im Nacken. Sollten wir ihn vergessen, zwingen wir andere, ihn nicht zu vergessen – mit Recht. So bleibt es noch dabei: Der Auschwitz-Tod tötet immer noch allen Glauben; Auschwitz verkündet immer noch das Ende jedes Humanums. Vernichtend und ungedeckt ergeht immer noch seine Anklage – nicht nur über die Katastrophe selbst, sondern erst recht über den Weg dorthin.
Wenn nun freilich die Opfer jenes Todes unentrinnbar ausgeliefert waren durch nichts weiter als durch das bloße Faktum von Geburt und Namen –, so gab das Moment der freien Wahl zum Aufstand dem Tod in diesem Hof ein Stück Würde zurück. Man hätte ja nicht tun müssen, was man tat; man hätte sich ja heraushalten können. Dort hatten Kains Nachkommen die Söhne Abels zum total entrechteten Kollektiv gemacht, um sie auslöschen zu können. Hier aber war noch mit dem Tod in jenen Nachtstunden Mitschuld und Mitverantwortung für Abels Schicksal in eigenem Entschluss übernommen. Wenn dort der Hass Menschen sogar noch im Sterben entmündigte, so hat hier das Lebensopfer neue, Menschenrecht offenbarende Aussage gewinnen dürfen. Jener Tod raubte sogar noch den Namen; dieser Tod gab ihn seinen Trägern und uns zurück.
Damit schickt uns aber dieser Platz mitten aus der Lähmung durch die Übergewalt des Auschwitz-Todes neu ins Leben zurück. Er bezeugt uns neue Zukunft für das tausendfach getötete Humanum. Jawohl, Auschwitz verklagt, aber dieser Platz tröstet. Seine Toten durchbrechen die Stummheit des anderen Todes; sie sprechen mit neuer Stimme von der Wahrheit der Menschenliebe Gottes.
Mit ihrem Ende haben sie dieser Stimme Autorität verliehen. Im Leben mag ihr Tun und auch ihr Lassen so mehrdeutig gewesen sein, wie das unsere mehrdeutig ist. Das letzte Opfer aber setzte das endgültige Siegel. Nun kann ihre Botschaft vom neuen Humanum durch sie nicht mehr korrumpiert oder widerrufen werden. Sie ist unmissverständlich gedeckt.
Die Autorisierung der Botschaft mit solchem Ende hat zu allen Zeiten Märtyrer dicht an die Heiligen Gottes herangerückt. So sind sie es nicht mehr, die gemessen werden. Sie messen uns.
Wenn, was die Opfer des 20. Juli 1944 dachten, vergessen sein wird; wenn, was sie taten, die politische Bedeutung verloren haben wird; wenn unsere streitbaren oder gar zwisterfüllten Urteile über ihre, sei es zu konservativen, sei es zu liberalen, sei es zu sozialistischen Planungen uninteressant geworden sein werden – dann wird das neue Alphabet, das sie in jener teuflischen Welt mit einem freien Tod schufen, dennoch weiter die neue Sprache des Humanum buchstabieren helfen.
Denn hier sind Handschellen, Gefängniszellen und Tode kostbare Signale vom Leben und von der Freiheit geworden. So lasst uns die Namen weiter nennen und wert halten.
Am Morgen nach der Nacht des 20. Juli 1944 schrieb ein Freund, der – bereits länger in Haft – in seiner Zelle sofort vom Scheitern der Tat gehört hatte, ein Gedicht, in dem es heißt:
Tat.
„Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
Nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
Nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,
Nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
Und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.
Leiden.
„Wunderbare Verwandlung. Die starken, tätigen Hände
Sind dir gebunden. Ohnmächtig, einsam siehst du das Ende
Deiner Tat. Doch atmest du auf und legst das Rechte
Still und getrost in stärkere Hand und gibst dich zufrieden.
Nur einen Augenblick berührtest du selig die Freiheit,
Dann übergabst du sie Gott, damit er sie herrlich vollende.
Tod.
„Komm nun, höchstes Fest auf dem Weg zur ewigen Freiheit,
Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern
Unseres vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele,
Dass wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen missgönnt ist.
Freiheit, dich suchen wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.“
(Dietrich Bonhoeffer: Aus „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“)