Die Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Wolfgang Benz

Die Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Festvortrag von Prof. Dr. Wolfgang Benz am 19. Juli 2014 in der St. Matthäus-Kirche, Berlin

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Darf man einen Versuch wie den folgenden, der die Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus aus Anlass des 70. Jahrestags des 20. Juli 1944 zum Gegenstand hat, „Festvortrag“ nennen? Denn keine Anstrengung, die Hitlerdiktatur durch Widerstand zu beenden, war erfolgreich und die symbolischen Orte der Auflehnung und Verweigerung gegen das Unrecht der NS-Diktatur liegen nicht mehr auf deutschem Boden wie Kreisau in Schlesien oder die Wolfsschanze in Ostpreußen. Oder es sind Orte des Mordens aus Rache und Vernichtungswillen wie in Berlin der Bendlerblock, wo am Abend des 20. Juli Graf Stauffenberg hingerichtet wurde, das Zellengefängnis Lehrter Straße 3, die Vollzugsanstalt Plötzensee, in der viele Verschwörer und Mitwisser des 20. Juli, aber auch Mitglieder der Roten Kapelle wie 1942 der Arbeiter Hans Coppi auf dem Schafott oder am Galgen endeten.

Zu den letzten Stationen des Widerstands gehört auch das Zuchthaus Brandenburg-Görden, wo Wilhelm Knöchel, ZK-Mitglied der KPD und ab Januar 1942 Kopf einer kommunistischen Widerstandsgruppe, im Sommer 1944 hingerichtet wurde. Wenig später wurden in Brandenburg die führenden Mitglieder einer der wichtigsten Organisationen des Arbeiterwiderstands, Anton Saefkow, Bernhard Bästlein und Franz Jacob ermordet. In den Sinn kommt uns auch das KZ Flossenbürg, in dem Wilhelm Canaris und Dietrich Bonhoeffer umgebracht wurden oder Dachau, wo am gleichen Tag, am 9. April 1945, Georg Elser sterben musste. Im Münchner Gefängnis Stadelheim endeten die Studierenden der Weißen Rose Anfang 1943 durch das Fallbeil.

Die düstere Geschichte solcher exemplarischen Orte legt den Schluss nahe, der Widerstand in allen seinen Facetten sei gescheitert, wäre vergeblich gewesen. Grund genug, uns zu vergegenwärtigen, welchen Ort der Widerstand in der öffentlichen Erinnerung an den Nationalsozialismus heute einnimmt. Der Versuch über die Erinnerung an den Widerstand gliedert sich in vier Teile:

I. Vereinnahmung und Abwehr

II. Kritik an Legitimation und Anspruch

III. Widerstandsbilder im Wandel

IV. Widerstand und politische Kultur

I. Vereinnahmung und Abwehr

Am 19. Juli 1954 würdigte Bundespräsident Theodor Heuss in der Gedenkfeier der Bundesregierung zum zehnten Jahrestag in Berlin den Widerstand des 20. Juli in einer Rede, die den Titel „Dank und Bekenntnis“ hatte. Sie schloss mit der Wiederholung des feierlichen Bekenntnisses „zur Gesinnung wie zum Recht jener Männer“, so zu handeln, wie sie es getan hatten. Der Ehrenschutz des Staatsoberhaupts war offensichtlich notwendig, denn Heuss sagte auch: „Wir werden nicht verhindern können, daß in Hinterstuben diese oder diese Schmährede das Gedächtnis der Männer aufsucht.“ Diskurse über die Legitimität des Widerstands, die der erste Bundespräsident andeutete, zielten auf die Stigmatisierung vermeintlicher Landesverräter. Die Kodifizierung des Rechts auf Widerstand gegen das Unrechtsregime gehörte zwar zum ethischen Fundament der Bonner Staatsgründung, aber das war für manche schwer zu verstehen, die in älteren Traditionen der Pflicht zu Treue und Gefolgschaft, zu unbedingtem Patriotismus lebten, denen Formen über Inhalte gingen, die den Offizierseid auch gegenüber dem Mordregime für gültig hielten, selbst wenn sie dadurch in tragische Handlungsunfähigkeit gerieten.

Es dauerte geraume Zeit, bis das Bekenntnis zum Widerstand des 20. Juli in die politische Kultur der Bundesrepublik einging und den stillschweigenden Konsens über den „Landesverrat“ der Männer um Stauffenberg aufhob. Die Skala der Ressentiments reichte von der Ausgrenzung als „Verräter“ über mangelnden Verfolgungseifer der Justiz gegenüber denjenigen, die in dubiosen Verfahren Widerstandskämpfer zum Tod verurteilt hatten. Von der Verweigerung von Rentenzahlungen an Hinterbliebene der Widerstandskämpfer mit abstrusen Begründungen durch stumpfe Bürokraten ging die Ablehnung bis zur offenen Diffamierung durch Rechtsextreme. Johannes Tuchel weist auf die Rolle des Volksaufstands in der DDR am 17. Juni 1953 für die allmähliche Akzeptanz des Widerstands gegen den Nationalsozialismus hin: Im Zeichen der Systemkonkurrenz konnte in der Bundesrepublik die Berechtigung von Widerstand gegen Staatsgewalt, der in der DDR geleistet wurde, nicht gepriesen werden, wenn man gleichzeitig den Widerstand gegen das NS-Unrechtsregime marginalisierte.

Von Staats wegen wurden im Westen die Männer des 20. Juli als Heroen des Rechts und der Freiheit in Anspruch genommen. Das kam etwa im Tagesbefehl des Generalinspekteurs der jungen Bundeswehr zum 15. Jahrestag des Attentats zum Ausdruck. Adolf Heusinger, der als Generalleutnant am 20. Juli 1944 in der Wolfsschanze gerade über die Lage an der Ostfront Vortrag hielt, als Graf Stauffenberg den Raum betrat, hatte im Tagesbefehl zum 20. Juli 1959 das historische Ereignis „eine Tat gegen das Unrecht und gegen die Unfreiheit“ genannt und die Ausführenden in diesen Sätzen gewürdigt: „Die tragische Wahrscheinlichkeit des Scheiterns vor Augen entschlossen sich freiheitlich gesinnte Kräfte aus allen Lagern, in vorderster Front Männer aus den Reihen der Soldaten, zum Sturz des Tyrannen. Das christlich-humanistische Verantwortungsbewußtsein, das diesen Entschluß bestimmte, gab ihrem Märtyrertum die Weihe.“ Die Politiker der Bundesrepublik lebten also im Konsens, den 20. Juli für die Ideale Freiheit und Rechtsstaat, Vaterland und Landesverteidigung bemühen zu dürfen.

Die DDR tat sich mit der Legitimierung als antifaschistisches Gemeinwesen leichter. In Abgrenzung zur Bundesrepublik, die vom östlichen Gegenpart als imperialistische, faschistische Erbin Hitlers denunziert wurde, stellte sich die DDR dar als moralisch überlegenes Ergebnis kommunistischen Widerstands und dadurch legitimiert. Wo im Widerstandsbild der Bundesrepublik wichtige Facetten marginalisiert und der Systemkonkurrenz zur DDR geopfert wurden (das galt in erster Linie für Kommunisten und linke Sozialisten, aber auch für Sozialdemokraten und Gewerkschafter), da reduzierte die Pankower Staatsräson kurzerhand den Widerstand ganz auf den einen, staatstragenden Aspekt, der Märtyrer und Heroen brauchte. Sie hießen Ernst Thälmann, Herbert Baum, Anton Saefkow, Franz Jacob oder Georg Schumann. Sie waren aber trotz der Instrumentalisierung durch die SED nicht nur doktrinäre Stalinisten gewesen, sondern sie kämpften gegen Hitlers Unrechtsstaat, wenngleich sie andere Utopien hatten als die konservative und bürgerliche Opposition.

II. Kritik an Legitimation und Anspruch

Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist es, Mythen zu entzaubern, Ereignisse sine ira et studio darzustellen und zu bewerten. Das mag von Betroffenen als lieblos empfunden werden, denn es dient bei allem Respekt vor den Handelnden der Wahrheit. Kritisch nahmen deshalb Historiker der zweiten Generation die Utopien des Widerstands unter die Lupe. Sie stellten fest, dass die Männer des 20. Juli, die Kreisauer, die Männer und Frauen der Widerstandsgruppen im Auswärtigen Amt und in der Militäropposition, die Intellektuellen der „Roten Kapelle“ und die Mitglieder von „Neu Beginnen“ Repräsentanten ihrer Zeit gewesen waren, dass ihre Sozialisation überwiegend im Kaiserreich erfolgt war und ihre politische und soziale Erfahrung sich in der Weimarer Republik vollzogen hatte. Dass der Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur bei vielen vor allem nationale Motive hatte, dass ihr Wertekanon von christlichen Geboten und deren säkularen Ausprägungen in Sitte und Ehre, Anstand und Würde, Bürgerrecht und Bürgerpflicht bestimmt war, dass ihr Weltbild eher patriarchalisch und autoritär als grenzenlos liberal und fundamental demokratisch war – das bot in den 1960er Jahren Anlass zu Kritik. Aber die Mehrheit der Bürger der Bundesrepublik blieb aus dem schon erwähnten falschen Patriotismus reserviert gegen den Widerstand – gleich aus welchen politischen und moralischen Positionen er geleistet worden war. Das änderte sich erst mit der TV-Serie Holocaust, die im Januar 1979 ausgestrahlt wurde. Zu ihren Wirkungen gehörte nämlich auch das zunehmende Bewusstsein für die Mitschuld der Deutschen am NS-Regime. Die Zahl derer, die davon überzeugt waren, stieg von schmählichen 16 auf immerhin 22%. Signifikant war die Akzeptanz des Attentats vom 20. Juli 1944: die Zahl derer, die Widerstand gegen Hitler für gerechtfertigt hielten, stieg (um 14%) auf 63%. Mit anderen Worten: Vor der Ausstrahlung der TV-Serie über den Judenmord hatte weniger als die Hälfte der westdeutschen Bevölkerung das Aufbegehren, den Aufstand gegen das Unrechtsregime als wichtig und notwendig empfunden.

Kritik am Widerstandsbild gab es in den 1960er Jahren auch grundsätzlicher Art. Als Reaktion auf die Vereinnahmung des 20. Juli 1944 und des konservativen Widerstands zur politischen Sinnstiftung der Bundesrepublik hatten in Abwehr unkritischer Verehrung Hannah Arendt und George K. Romoser den deutschen Widerstand als Fortsetzung der antidemokratischen Opposition gegen die Weimarer Republik interpretiert und ihm lediglich nationale, aber keine oder nicht genug moralische und demokratische Substanz attestiert. Die Entwürfe für den Staat und die Gesellschaft nach Hitler, die im Goerdelerkreis, von der Robinsohn-Strassmann-Gruppe oder in Kreisau diskutiert und zu Papier gebracht wurden, waren aber nicht nur als reaktionär abzutun, wie auch aus der Perspektive Nachgeborener gelegentlich im Eifer geschehen. Das Innovationspotenzial der Gesellschaftsentwürfe des Widerstands war nicht nur vorhanden, es war auch wirksam. Das lehrt die Tatsache, dass die Richtungsgewerkschaften der Weimarer Republik ebenso wenig wiederauflebten wie konfessionelle Weltanschauungsparteien. Dass sich Männer und Frauen im Widerstand aus Lagern zusammenfanden, die durch ideologische Dogmen und politische Klassenschranken, durch soziale Herkunft und Stand getrennt waren, hatte für die politische Kultur – wenngleich nicht unmittelbar – Folgen.

Max Habermann, eine der wichtigen, aber zu wenig bekannten Gestalten des Widerstands, kam aus der Führung des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes, Jakob Kaiser war Zentrumspolitiker und christlicher Gewerkschafter und Wilhelm Leuschner war Sozialdemokrat und Funktionär des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Das waren drei konträre Positionen. Aber seit 1934 hielten die drei Männer engen Kontakt untereinander wie zum Goerdelerkreis und nach Kreisau und planten eine Einheitsgewerkschaft nach dem Sturz des NS-Regimes. Max Habermann entzog sich nach der Verhaftung durch die Gestapo weiterer Verfolgung durch den Freitod. Wilhelm Leuschner, der als Vizekanzler nach dem Staatsstreich vorgesehen war, wurde in Plötzensee hingerichtet. Jakob Kaiser entkam nach dem 20. Juli seinen Verfolgern, konnte untertauchen und wurde als Mitbegründer der CDU in Berlin und dann als Gegenspieler Adenauers eine der Stifterfiguren bundesrepublikanischer Demokratie.

Erinnerung ist nicht statisch, auch die Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist ein lebendiger Prozess. Diskurse um die Legalität von Widerstand und Tyrannenmord, wie sie gelegentlich stattfinden, haben nicht nur akademische Bedeutung, sie sind nicht nur Querelen unter Historikern, sondern Indikatoren für öffentliches Bewusstsein, für den Ernst und die Wahrhaftigkeit des Erinnerns und Gedenkens. Am 8. November 1999, zum 60. Jahrestag des missglückten Attentats im Münchner Bürgerbräukeller druckte die Frankfurter Rundschau den Text eines Gelehrten aus Chemnitz, in dem er sich moralisierend und philosophierend mit der Legitimation, der politischen Urteilsfähigkeit und daraus folgender (bzw. seiner Ansicht nach eben nicht folgender) Berechtigung des schwäbischen Schreinergesellen Georg Elser zum Widerstand auseinandersetzte. Georg Elser, „der Attentäter aus dem Volke“, war im Schatten des 20. Juli 1944, lange vergessen oder von legendären Spekulationen überwuchert, ehe er zu einer der populärsten Gestalten des Widerstands wurde. Der Chemnitzer Privatdozent entzündete mit seiner Provokation einen Streit, dessen Objekt wohl Stellvertreterfunktion hatte, denn der Offizier Graf Stauffenberg befand sich im gleichen Dilemma wie der Schreiner Georg Elser. Zu Recht gilt Elser längst als Paradigma für politische Einsicht und Urteilsfähigkeit des Durchschnittsbürgers unter totalitärem Regime. In spitzfindiger und borniert wissenschaftlicher Argumentation warf ihm der Akademiker moralisches Fehlverhalten vor und wusste genau, wie der Widerstand damals methodisch und ethisch korrekt hätte verlaufen müssen. Am Beispiel des Grafen Stauffenberg hat er sich das nicht zu exemplifizieren getraut.

Über politische und intellektuelle Positionen des Grafen Stauffenberg, in dessen Weltbild elitäre und antidemokratische Elemente Bedeutung hatten, der Nationalist war und lange Zeit mit der Hitlerpartei sympathisierte, kann man natürlich streiten. Zum Start des Hollywood-Films „Operation Walküre“ wies der britische Historiker Richard J. Evans darauf hin, dass Graf Stauffenberg sich nicht zu dem Helden eignete, den der Schauspieler Tom Cruise verkörperte. Sehr energisch trat ihm Karl Heinz Bohrer, Literaturprofessor und Herausgeber des Merkur entgegen, nannte den Differenzierungsversuch ehrabschneiderisch und verleumderisch, naiv und scheinheilig und verkannte dabei, dass Evans nicht beabsichtigt hatte, eine emblematische Figur des deutschen Widerstands zu verunglimpfen oder zu demontieren, dass es vielmehr darum ging, Stauffenberg nicht als moralischen Superhelden nach den Gesetzen der Filmindustrie zu verklären. Und hier liegt ein zentrales Problem der Erinnerung: An der moralischen Eignung des Tom Cruise, den Stauffenberg zu geben, hatte sich (weil er sich zur umstrittenen Scientology-„Kirche“ bekennt) eine Debatte entzündet. Aber die Dreherlaubnis im Bendler-Block, die notwendig war, um der Hollywood-Fiktion die Aura des Authentischen zu verleihen, hatten die zuständigen Politiker gegen den Rat der Historiker doch erteilt. Ihnen war nicht bewusst, dass wieder einmal die Grenzen von Realität und Fiktion verschoben wurden. Der Film musste und sollte dem von der ZDF-History-Redaktion längst getrübten Blick des Publikums als Akt der Wahrheitsfindung, als dokumentarische Offenbarung, als Übersetzung der historischen Tat in die Gegenwart erscheinen.

III. Widerstandsbilder im Wandel

Lange blieben im Dickicht von Abwehr und Vereinnahmung, in dem Widerstand aus kommunistischer Gesinnung in der Bundesrepublik von der Betrachtung ausgeschlossen war und andere Positionen als bürgerliche und konservative gar nicht oder erst spät zur Kenntnis genommen wurden, nur der 20. Juli, die Kreisauer, der Goerdeler-Kreis, die Weiße Rose kanonisiert. Graf Galen mit seinem öffentlichen Protest gegen die Ermordung Kranker und Behinderter in der „Euthanasie“-Aktion wurde für den katholischen kirchlichen Widerstand reklamiert, auf protestantischer Seite tat man sich ähnlich schwer und verehrte angesichts des Versagens der Amtskirche einzelne mutige Theologen wie Dietrich Bonhoeffer.

Das Problemfeld, welcher Widerstand legitim war und welcher illegitim, wurde auch dadurch bestimmt, dass der erste Widerstand, den die KPD-Führung am frühesten schon 1933 leistete, als wirkungsloser Aktionismus, als Propaganda ohne Rücksicht auf Menschenleben gesehen werden kann. Bezeichnend für Sichtweisen des Kalten Krieges war ein skandalöser Protest aus den Reihen der konservativen Eliten in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren gegen Herbert Wehner. Er sollte die Gedenkrede zum 20. Juli halten, wofür er als Widerstandskämpfer gewiss prädestiniert war. Der prominente Bonner Sozialdemokrat war vor 1945 aber Kommunist gewesen, was ihn in den Augen strenggläubiger Anhänger der Totalitarismustheorie delegitimierte.

In der Erinnerung an den Widerstand gegen Hitler gab es Konjunkturen, Meinungen, Diskurse, Kontroversen. Das hat politische, wissenschaftliche und emotionale Gründe. An drei Beispielen sollen die Probleme verdeutlicht werden: am jüdischen Widerstand, am kommunistischen Nationalkomitee Freies Deutschland und am Problem, Deserteuren und Opfern der Wehrmachtjustiz Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Das Bedürfnis, von kraftvollem und würdigem jüdischen Widerstand zu erzählen und dieses Narrativ in der historischen Tradition zu verankern, hat nachvollziehbare politische Gründe, denen die Geschichtswissenschaft aber weithin nicht entsprechen kann. Die Aufstände in Ghettos und Vernichtungslagern auf polnischem Territorium, der bewunderungswürdige Heroismus im Warschauer Ghetto, die Existenz jüdischer Partisanen in Weißrussland sind nicht repräsentativ für einen jüdischen Widerstand, der in Deutschland und im west- und mitteleuropäischen Machtbereich des Nationalsozialismus gar nicht geleistet werden konnte.

Wer vom „jüdischen Widerstand“ im „Dritten Reich“ spricht, meint drei Kreise, in denen sich überwiegend junge Menschen zusammengefunden hatten: Die „Gemeinschaft für Frieden und Aufbau“, die Gruppe „Chug Chaluzi“ und die „Herbert-Baum-Gruppe“. Die kleine Widerstandsgruppe „Gemeinschaft für Frieden und Aufbau“ aus Juden und ihren nichtjüdischen Freunden existierte mit etwa 30 Mitgliedern vom Herbst 1943 bis Oktober 1944 in Berlin und Luckenwalde. Ihre Aktivitäten bestanden in der Verbreitung von drei Flugblättern, mit denen sie die Bevölkerung zum Widerstand gegen das Hitlerregime und gegen den Krieg aufriefen.

Die einzige Gruppe, für die wenigstens das Attribut „jüdisch“ voll zutraf, bestand unter der Führung des Zionisten Jizchak Schwersenz aus zunächst etwa elf Jugendlichen, die sich am Tag der „Fabrik-Aktion“, dem 27. Februar 1943, entschlossen, ihr Leben in der Illegalität zu retten, um sich später am Aufbau Israels zu beteiligen. Die Gruppe nannte sich „Chug Chaluzi“ (Kreis der Pioniere). Die jungen Juden trafen sich regelmäßig, tauschten Informationen aus und pflegten ihr religiöses Leben. Widerstandsaktionen über die Rettung der eigenen Existenz hinaus waren ihnen nicht möglich.

Die größte „jüdische“ Widerstandsgruppe von zuletzt etwa 100 jungen Menschen beiderlei Geschlechts, die Herbert-Baum-Gruppe in Berlin, hatte außer der Herkunft von Mitgliedern aus jüdischen Organisationen auch eine ideologische Gemeinsamkeit: die kommunistische Gesinnung. Deshalb blieb die Herbert-Baum-Gruppe in Westdeutschland lange unbekannt, die DDR verbarg dagegen eher die jüdischen Wurzeln ihrer Mitglieder.

Lange Zeit unbeachtet blieben auch diejenigen, die ihre Abneigung gegen den NS-Staat durch Hilfe für verfolgte Juden zum Ausdruck brachten. Den sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden Europas stehen einige wenige Tausend gerettete gegenüber, die durch die Hilfe nichtjüdischer Mitmenschen überlebten. Eine bescheidene Bilanz, in der die Retter zunehmend zu Helden verklärt werden, zu Symbolgestalten einer Moral, die nur von wenigen gelebt, aber zum Vorbild für die Nachwelt erhoben wurde.

Historiografische und publizistische Kontroversen entzündeten sich früh an einer Organisation, die auf sowjetische Initiative beitragen sollte, das Ende des NS-Regimes herbeizuführen. In der Bundesrepublik galt das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ weithin als eine Bande verführter oder verblendeter Verräter, in der DDR wurde die Bewegung als progressives Kampfbündnis zwischen Kommunisten mit Bürgertum und Adel kanonisiert und zum „politischen und organisatorischen Zentrum des deutschen antifaschistischen Widerstandskampfes“ promoviert.

Sowjetische Offiziere und deutsche kommunistische Emigranten warben im Sommer 1943 unter den gefangenen deutschen Offizieren für die Ziele des „Nationalkomitees Freies Deutschland“. Die Offiziere der Wehrmacht zögerten, sich der kommunistisch dominierten Organisation anzuschließen. Sie fühlten sich aber auch von Hitler verraten, der durch sinnlose Durchhaltebefehle den Tod von mindestens 100.000 Soldaten bei Stalingrad verursacht hatte. Im September 1943 waren schließlich einige deutsche Generale bereit, aus der Gefangenschaft heraus sich gegen Hitler zu wenden. Auf sowjetischen Vorschlag gründeten sie den „Bund Deutscher Offiziere“. Die Mitglieder waren auch mit dem Versprechen geködert worden, die Sowjetunion setze sich für den territorialen Fortbestand Deutschlands in den Grenzen von 1937 ein, wenn der Offiziersbund einen Staatsstreich gegen Hitler bewirken könne. Die deutschen Offiziere sahen aber ihre Erwartungen in zweifacher Hinsicht bald enttäuscht: Zum einen blieben die Appelle des Nationalkomitees wirkungslos. Zum anderen gingen die Hoffnungen auf die Überwindung der Kluft zwischen der kommunistischen Ideologie und dem bürgerlichen Nationalbewusstsein der deutschen Soldaten nicht in Erfüllung.

Die Wirkungslosigkeit des „Nationalkomitees“ kann aber ebenso wenig wie die Initiative durch die Stalindiktatur und die kommunistische Dominanz ein Grund sein, diese vergebliche Anstrengung aus der Betrachtung auszuschließen. Die Hoffnung, der Hitlerdiktatur und einem längst verlorenen Krieg ein Ende zu bereiten, gar unter der Aussicht, den territorialen Bestand des Deutschen Reiches zu bewahren, stand ja keineswegs im Gegensatz zu den Zielen des Goerdeler-Kreises oder der Offiziere des 20. Juli.

Wegen Fahnenflucht ergingen im Laufe des Krieges etwa 35.000 Urteile der Militärgerichtsbarkeit, darunter 22.000 Todesurteile, von denen 15.000 vollstreckt wurden. Keine andere Armee hat so drakonisch agiert wie die Wehrmacht. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs haben die Richter der Wehrmacht weder Unrechtsbewusstsein gezeigt noch ihr Bedauern geäußert. Der ehemalige Marinerichter Hans Filbinger ist als Prototyp des positivistischen Juristen in dieser Rolle in die Geschichte eingegangen. Sein Diktum „was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“, mit dem er sich zu rechtfertigen suchte, als seine politische Karriere wegen solcher Todesurteile 1978 zerbrach, wurde zur Metapher für die Borniertheit der Täter.

Zur Verantwortung gezogen wurde kaum einer der Richter, die auf ihre Paragrafen pochten, nationalsozialistischer Ideologie folgten und von Emotionen wie Humanität nie angerührt waren. Die Opfer der NS-Militärjustiz blieben, auch nach Filbingers ruhmlosem Abgang aus dem Amt des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, als Vaterlandsverräter, als Drückeberger, als Feiglinge verfemt und verachtet. Erst 2002 hob der Deutsche Bundestag die Urteile der gnadenlosen Wehrmachtsrichter pauschal auf.

IV. Widerstand und politische Kultur

Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft leisteten Deutsche aus politischer oder religiöser Überzeugung, aus Einsicht in die Verderben bringende Natur des Regimes, aus Entsetzen und Scham über die Verbrechen, die von Staats wegen begangen wurden, aus Anstand und Mitleid mit den Opfern und aus anderen Motiven. Die Erinnerung an den Widerstand bekam einen festen Platz in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland und ebenso in der DDR. Freilich lebten die Bürger der beiden deutschen Staaten, die auf den Trümmern des Deutschen Reiches und belastet vom nationalsozialistischen Erbe gegründet waren, mit ganz unterschiedlichen Bildern vom Widerstand. Wie die Nation war auch die Erinnerung an den Widerstand geteilt.

Im Westen wurde das Andenken an die Opposition, die

konservative Angehörige der militärischen, administrativen und politischen Eliten gegen das NS-Regime geleistet hatten, als identitätsstiftend für die Nachkriegsgesellschaft erkannt. Zunächst, und bis in die 1970er Jahre ausschließlich, wurde trotz vieler Vorbehalte im Publikum vor allem die Erinnerung an den Widerstand der Männer des 20. Juli, des Kreisauer- und des Goerdeler-Kreises, aber auch der Studenten der Gruppe „Die Weiße Rose“ und der Militäropposition Bestandteil des politischen Wertesystems der Bundesrepublik.

Der Widerstand der Kommunisten und linksintellektueller Antifaschisten, die stille Opposition der kleinen Leute sozialdemokratischer oder katholischer Überzeugung, die Verweigerung der Zeugen Jehovas, der Protest evangelischer Christen gegenüber dem Regime wurde dagegen mindestens in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik gering geschätzt, ja weithin negiert.

Ebenso lange brauchten Historiker bis zur ersten Würdigung Georg Elsers, des schwäbischen Schreinergesellen, der am 8. November 1939 mit einem perfekt geplanten Sprengstoffanschlag Hitler, Göring und Goebbels hatte beseitigen wollen. Erst mit dem Film „Georg Elser – Einer aus Deutschland“, in dem Klaus-Maria Brandauer 1989 den Schreinergesellen verkörperte, fand Elser einen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung der Geschichte des Widerstands. Die zentrale Frage lautet: Warum brauchten Beamte und Diplomaten, Gelehrte und Bildungsbürger so viel länger, um den Unrechtscharakter des Regimes im Inneren und seine Aggressivität nach außen zu erkennen, als der Einzelgänger Elser, warum wurde der Widerstand von Kommunisten und Sozialisten, der schon vor der „Machtergreifung“ einsetzte, von der bürgerlichen Gesellschaft ignoriert?

In der DDR stand der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Zeichen der ausschließlichen Heroisierung des kommunistischen Widerstandes, der in den Nationalen Mahn- und Gedenkstätten, in Traditionskabinetten und Museen, durch Denkmäler und durch Widmungen von Straßen und Plätzen Ausdruck fand. Ein ritualisierter Antifaschismus-Begriff gruppierte die KPD und einzelne kommunistische Widerstandsgruppen in ein Gesamtbild, in dem es nur eine einzige Gegenkraft zum Nationalsozialismus gegeben hatte, nämlich die in die SED einmündende kommunistisch dominierte Arbeiterbewegung. Der zum antifaschistischen Mythos stilisierte Widerstand wurde sowohl für das eigene Geschichtsbild wie zur Abgrenzung gegen die Bundesrepublik instrumentalisiert. Folge deutscher Teilung waren auch die einander entgegengesetzten Geschichtsbilder.

In einer Geschichtskultur, die an historischer Gerechtigkeit orientiert ist und objektiven Kriterien folgt, muss Raum sein für alle Strömungen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, für die aus bürgerlich-konservativer Wurzel wie dem 20. Juli ebenso wie für den „Internationalen Sozialistischen Kampfbund“ und die anderen aus der Tradition der Arbeiterbewegung schöpfenden Widerstandsgruppen einschließlich der Kommunisten.

Die endlich überwundene Erinnerungskonkurrenz um das Geschichtsbild drängte lange Zeit das eigentliche Problem in den Hintergrund: Warum leisteten so wenige Widerstand, warum regte sich die Opposition gegen das Hitlerregime so spät und warum war sie so wenig erfolgreich? Für viele Deutsche ergab sich aus der Überlagerung von NS-Diktatur und Krieg am Ende ein Zwiespalt, dem sie auch nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft nicht entrinnen konnten. Sie steckten im Dilemma, einerseits Kritik am Nationalsozialismus und Ablehnung des Regimes und seiner Methoden zu empfinden, aber andererseits waren sie von Pflichtbewusstsein und dem Gefühl durchdrungen, vor allem den äußeren Feinden und Gefahren standhalten zu müssen. Den Soldaten und Beamten und den meisten anderen „Volksgenossen“, auch manchen „Parteigenossen“ war es am Ende des Dritten Reichs wohl klar, dass es ein Unrechtsstaat war, dem sie dienten. Sie wussten, dass Hitler den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hatte, dass grauenhafte Verbrechen begangen worden waren, aber sie sahen es trotzdem als ihre erste Pflicht, das Vaterland gegen die feindlichen Armeen zu verteidigen. Sie meinten, sich erst nach außen wehren zu müssen, ehe sie im Inneren Änderung schaffen durften.

Bei vielen hinderte aber auch die Begeisterung der ersten Jahre unter NS-Herrschaft die Einsicht, dass Notwehr im Inneren das erste Gebot gewesen wäre. Die zaghaften Versuche dazu blieben erfolglos, weil diese Einsicht der Mehrheit zu lange Zeit fehlte. Deshalb nutzten auch die Appelle des Dichters Thomas Mann nichts, der seit 1941 die Deutschen in regelmäßigen Rundfunksendungen über BBC London beschwor, der Welt das Zeichen zu geben, das sie vor dem Makel des Versagens bewahren sollte.

Wenn die Mehrheit aus der Haltung begeisterter Zustimmung allmählich in einen Zustand von Resignation verfiel, aber trotzdem dem Regime in unreflektierter Ergebenheit treu blieb, so hat sich doch eine nicht unbeträchtliche Minderheit dem Regime dauerhaft verweigert. Andere haben aus der Opposition zum bewussten Widerstand gefunden, zu einem Widerstand mit dem politischen Ziel der Beseitigung der nationalsozialistischen Diktatur. Im äußeren Sinne blieb dieser Widerstand erfolglos, die NS-Herrschaft brach erst mit der militärischen Niederlage zusammen.

Für den Neubeginn nach dem Zusammenbruch, für eine auf Humanität, Recht und Demokratie gegründete Staats- und Gesellschaftsordnung nach Hitler gehörte der Widerstand als Beispiel politischer Moral, unter welcher ideologischen Prämisse oder sozialen Voraussetzung er auch geleistet wurde, zu den wichtigen sinnstiftenden Ereignissen der deutschen Geschichte. Und deshalb war er nicht vergeblich gewesen. Wir haben allen Grund, am 20. Juli der Männer und Frauen mit Dankbarkeit zu gedenken, die aus unterschiedlichen weltanschaulichen Lagern, aus christlichen Motiven oder als Kommunisten, als Gewerkschafter oder Sozialdemokraten Widerstand gegen das Unrechtsregime des Nationalsozialismus geleistet haben. Graf Stauffenberg und die Männer des 20. Juli, Georg Elser, die Berliner Herbert-Baum-Gruppe und die Münchner Weiße Rose, Carl Goerdeler und Anton Saefkow, namenlose Judenretter und unbekannte Deserteure, alle, die sich gegen den Machtanspruch der nationalsozialistischen Ideologie wehrten, haben das ehrende Gedenken, den ruhmreichen Platz in der deutschen Geschichte verdient.