Die freiheitliche Grundordnung bewahren und im Sinne einer real demokratischen Gesellschaft vervollkommnen

Gedenkstaette Deutscher Widerstand

Carl-Heinz Evers

Die freiheitliche Grundordnung bewahren und im Sinne einer real demokratischen Gesellschaft vervollkommnen

Gedenkrede des Berliner Senators fuer Schulwesen Carl-Heinz Evers am 12. Juli 1967 in der Gedenkstaette Ploetzensee, Berlin

Recht und Gerechtigkeit fuer alle ... Volle Selbstregierung und Selbstverwaltung des deutschen Volkes in einem erneuerten Reich der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Demokratie" , so hiess es in dem Programm einer Widerstandsgruppe, derer wir heute gedenken. Es ist ein hoher Anspruch, meine Damen und Herren, liebe Schuelerinnen und Schueler, unter den wir gestellt sind, wenn wir uns hier versammeln vor dieser Mauer, stellvertretend fuer viele Mauern, hinter und vor denen Schreckliches geschah und geschieht.

"Das Vermaechtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingeloest", stellte in seiner Rede zum zehnten Jahrestag des 20. Juli der erste Bundespraesident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, fest. Seitdem sind wieder 13 Jahre vergangen. Wie steht es mit Vermaechtnis und Verpflichtung des 20. Juli, des deutschen Widerstandes heute?

Es ist doch so: Auf diesen gebrochenen und tragischen Tagen der Geschichte unseres Volkes, dem 20. Juli ebenso wie auf dem 17. Juni, beruhen die moralischen und politischen Moeglichkeiten unseres Gemeinwesens. Gesellschaftliche Fehlentwicklungen, uebersteigertes und massloses Vertrauen auf militaerische Macht und wirtschaftliche Kraft haben unser Volk in die Isolation gebracht und in den Ersten Weltkrieg. Das Nicht-eingestehen-wollen der Niederlage, blinder Hass und grausame Selbsttaeuschung im toedlichen Kreislauf, Verachtung der Demokratie und der Menschenrechte und neue unvorstellbare Masslosigkeiten fuehrten ueber die nationale Katastrophe des 30. Januar 1933 zum Zerbrechen des deutschen Staates und zum Untergang des Reiches. Gegen diese Kausalkette, die rechtzeitig zu zerbrechen bereits deutsche Demokraten - aber zu wenige - sich vor 1933 bemueht hatten, erhoben sich Maenner und Frauen des deutschen Widerstandes, wieder allzu wenige.

In dem vorbereiteten Aufruf der deutschen Freiheitsbewegung heisst es: "Durch grausame Massenmorde ist unser guter Name besudelt. Wir wollen unsere Ehre und damit unser Ansehen in der Gemeinschaft der Voelker wiederherstellen. Wir wollen mit den besten Kraeften dazu beitragen, die Wunden zu heilen, die dieser Krieg den Voelkern geschlagen hat, und das Vertrauen zwischen ihnen wieder neu zu beleben." Damit war ein Zeichen zur Umkehr gegeben. Oft einsam, auch isoliert, wenn sie sich in Gruppen zusammentaten, von der Mehrzahl nicht verstanden, beendeten sie die Vergoetzung der eigenen Nation und standen mit ihrer Freiheit, ihrer Gesundheit und ihrem Leben fuer die Wiederherstellung der Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens ein.

Es ist doch so: Wenn heute in Deutschland so etwas wie ein nationales demokratisches Bewusstsein moeglich ist, dann deshalb, weil es jenen Widerstand der Jahre 1933 bis 1945 gab, - dann angesichts der Mauern und der Waende der Richtstaetten, des Stacheldrahts der Gefaengnisse und Lager, in denen das "andere Deutschland" litt und sich opferte, - nicht angesichts der Siegessaeulen und der Denkmaeler des offiziellen Deutschlands der ersten viereinhalb Jahrzehnte dieses Jahrhunderts.

Es ist doch so: Der Aufstand des Gewissens gegen die Hitler-Diktatur und das solidarische Eintreten der Arbeiter der Grossbetriebe am 17. Juni 1953 fuer die Selbstbestimmung setzen Massstaebe fuer das Leben in unserem freiheitlich gestalteten Gemeinwesen.

Wir haben in diesen Tagen unsere Sorgen, ob wir diesen Massstaeben gerecht werden. Zum ersten Male seit 1945 gibt es im freien Teil der Stadt Demonstrationen, die nicht vom Willen der Mehrheit der Bevoelkerung getragen sind. Im Gegenteil, will man der veroeffentlichten Meinung glauben - und sie spiegelt sehr wohl sehr verbreitete Ansichten wider, die sie zum Teil selbst erzeugt hat - so stehen grosse Teile der Bevoelkerung dieser Unruhe, die nicht nur eine Unruhe der Studenten ist, verstaendnislos gegenueber. Dabei ist diese Unruhe so unverstaendlich nicht. Wir haben es hier qualitativ mit etwas anderem zu tun als mit einem Konflikt zwischen den Generationen. Ich meine, bei dem, was hier in Berlin besonders deutlich aufgebrochen ist, handelt es sich letztlich darum, dass Menschen - Studenten und Professoren, Gewerkschaftler und Politiker - die Diskrepanz zwischen demokratischem Anspruch und weitgehend weniger demokratischer Wirklichkeit nicht hinzunehmen bereit sind. Dafuer einige Beispiele:

Wir leben mit einem Schulsystem, das gesellschaftspolitisch gepraegt wurde in einer vordemokratischen Zeit und mit einem Hochschulwesen, das einst fuer wenige Studenten mit festem soziokulturellen Hintergrund, fuer ein Studium vergleichbar feststehender und ueberschaubarer Wissensbereiche konzipiert wurde. Modernisierung und Demokratisierung erreicht man hier nicht mehr mit homoeopathischer Therapie oder kosmetischer Reparatur.

Wir leben noch mit einem Strafrecht, dessen Normen fragwuerdig geworden sind und dessen Reformen nicht vorankommen. Noch immer sind die Fragen wirtschaftlicher Demokratie, die als Forderung in allen Programmen der Widerstandsbewegung enthalten ist, nur zum Teil geloest, bleibt die Mitbestimmung der Arbeitnehmer staerker eingeengt, als es notwendig und zu einer Demokratisierung foerderlich waere.

Und andererseits: Die Jugend sollte aus gutem Grund darueber informiert werden, was durch Deutsche und im Namen Deutschlands in der juengeren Geschichte angerichtet worden ist. Sie sollte wissen, wofuer sie haftet, ohne selbst schuldig zu sein durch Tun und Unterlassen. Meine eigene Generation hat in den Jahren nach 1945 die Generation unserer Vaeter und Grossvaeter gefragt: Was hat Ihr getan oder unterlassen, wo seid Ihr schuldig geworden durch Mittun, durch zu geringen Widerstand oder durch unpolitisches Beiseitestehen, dass es zu jenem 30. Januar 1933 kam?

Wundern wir uns angesichts der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit unseres Landes, dass wir jetzt aehnliche Fragen von der jungen Generation gestellt bekommen? Ist es verwunderlich, dass sie empfindlich reagierte, als ein junger Student waehrend einer Demonstration erschossen wurde? Den jungen Menschen sollen in der politischen Bildung die Graeuel und die Unmenschlichkeit der Nazis und der Stalinisten dargestellt werden, um den Blick zu schaerfen, um die demokratischen Tugenden der Wachheit und der Wachsamkeit gegen totalitaere unmenschliche Erscheinungen zu entwickeln. Warum wundern wir uns eigentlich, dass die junge Generation sich mit Vietnam und Griechenland nicht abfinden will?

Wir haben politisch entschieden: Geschichte soll im Unterricht nicht mehr gelehrt und erlernt werden als ein unbeeinflussbarer Ablauf; Katastrophen sollen nicht einfach als "Betriebsunfaelle" erscheinen. Wir wollen den Ort der Entscheidung deutlich machen, an dem rational und menschlich zu handeln ist. Wen wundert es dann, dass sich viele Menschen nicht bieten lassen, wenn sie hoechst verkuerzt und einseitig informiert werden, dass diejenigen, die skeptisch sind, verketzert werden, weil sie eine idyllische Harmonie zu stoeren scheinen?

Oder warum wundern wir uns, wenn sich junge Menschen kritisch aeussern gegenueber Sonntagsreden ueber die deutsche Frage, nachdem jahrelang erheblich auseinander ging, was oeffentlich hierzu gesagt und was von den gleichen Politikern einseitig hinter vorgehaltener Hand gefluestert wurde? Noch immer ist in Zeiten und Situationen wie der unsrigen nicht Ruhe, sondern Unruhe die erste Buergerpflicht. Und es kommt auf Urteilsfaehigkeit, Wachheit, Wachsamkeit, Zivilcourage, Engagement und rationale Bewaeltigung von Konflikten an. Wir haben jetzt die Chance, unsere demokratischen Intentionen und unsere Institutionen glaubwuerdig zu machen vor uns selbst und vor der juengeren Generation.

Demokratische Jugenderzieher haben sich jahrzehntelang um eine politisch engagierte Jugend bemueht, sie haben sich oft genug ueber Desinteresse beklagen muessen. Jetzt haben wir eine politisierte Jugend. So ist es die Aufgabe der demokratischen Parteien und Institutionen, das fundamentale demokratische Streben, das nicht nur in unserer akademischen Jugend zu Hause ist, nicht in die Radikalitaet abzudraengen; im Gegenteil gilt es, sie aus der Isolierung herauszuholen.

Es ist doch so: Die demokratische Gestaltung unserer Wirklichkeit, fuer die wir uns entschieden haben, ist eine Aufgabe, die Zaehigkeit und Geduld erfordert. Illusorisches Denken fuehrt nur zu neuen Katastrophen; mit neuen tragischen Daten unserer Geschichte ist uns nicht gedient.

23 Jahre nach dem 20. Juli, 22 Jahre nach Kriegsende und 14 Jahre nach dem 17. Juni muessen wir uns entscheiden, wie wir unser demokratisches Gemeinwesen weiter entwickeln wollen. Auf absehbare Zeit wird es keine Wiedervereinigung der getrennten deutschen Teile geben. Auch in der Grenzfrage - soviel ist allen deutlich, die nicht Demagogie betreiben wollen - haben wir Tatsachen des verlorenen Krieges zu akzeptieren. Auf Berlin konzentriert sich nicht mehr die Aufmerksamkeit der Welt; hier ausgeglichen, haben sich Interessen- und Konfliktpunkte der Grossmaechte verlagert. Europaplaene geben keinen Gegenwert mehr zu innerdeutschen Versaeumnissen. Wir sind gezwungen, die deutsche Situation, und beispielhaft dafuer die Situation des Teiles Berlins, in dem wir leben, neu zu durchdenken.

Das ist keine Stunde der Depression, sondern eine der Moeglichkeiten. "Das Vermaechtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingeloest", hatte Theodor Heuss gesagt. Wir haben die Chance, uns an den Massstaeben zu orientieren, die durch den Widerstand gegen Hitlers und Stalins Diktaturen gesetzt worden sind.

"Recht und Gerechtigkeit fuer alle ... Politische, wirtschaftliche und soziale Demokratie" - unsere freiheitliche Grundordnung zu bewahren, sie aber im Sinne einer real demokratischen Gesellschaft zu vervollkommnen, ist ihr Vermaechtnis und unsere Verpflichtung.

Wenn uns das gelingt, werden wir die Flucht isolierter Gruppen in radikale Utopien ebenso verhindern koennen wie die Ausflucht in Restriktion und Polizeigewalt. Wir muessen weiter wachsam sein, sehr wachsam vor der Intoleranz der Mehrheiten gegenueber Minderheiten und ebenso wachsam gegenueber utopischen und unpolitischen Anspruechen radikaler Minderheiten, wachsam vor der Vergoetzung der Autoritaet wie vor der Anarchie, vor allem aber vor der Unbeweglichkeit der Privilegierten, die Chancengleichheit und Mitbestimmung als Anmassung empfinden, und vor der Unfaehigkeit, legitime demokratische Konflikte fair auszutragen.

Diese Wachsamkeit brauchen wir, wenn wir weiterhin die Auseinandersetzung mit den vergangenen und gegenwaertigen Diktaturen und ihren Anhaengern im Bewusstsein der Ueberlegenheit demokratischer Lebensformen fuehren wollen. Nur eine Demokratie, die sich ihrer Aufgabe bewusst ist und an sich arbeitet, ist anderen Lebensformen ueberlegen. Nur eine offene, demokratische Gesellschaft, die eine wirkliche Heimstatt freier, muendiger Buerger ist, entspricht dem Vermaechtnis der Maenner und Frauen des Widerstandes gegen die Tyrannei und ihrem Opfer, das uns verpflichtet.