"Die goldenen Fäden der echten Wirklichkeit"

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Carl Goerdeler

„Die goldenen Fäden der echten Wirklichkeit“

Predigt von Pfarrer Carl Goerdeler am 21.07.2002 in der Kirche zu Bornstedt, Potsdam

Predigttext: Jesaja 2,1-5

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.

Liebe Gemeinde,

Pater Alfred Delp, der im Widerstand gegen Hitler war und am 2. Februar 1945 ermordet wurde, am gleichen Tag, an dem auch mein Großvater Carl Goerdeler in Plötzensee erhängt wurde, schrieb in sein Tagebuch:

„Lasst uns hinknien und bitten um die hellen Augen, die fähig sind, Gottes kündende Boten zu sehen, um die wachen Herzen, die kundig sind, die Worte der Verheißung zu vernehmen. Die Welt ist mehr als ihre Last und das Leben mehr als die Summe seiner grauen Tage. Die goldenen Fäden der echten Wirklichkeit schlagen überall durch.“

Die alttestamentliche Botschaft über den heutigen Sonntag ist solch ein Wort der Verheißung und bringt ans Licht „die goldenen Fäden der echten Wirklichkeit“.

Sie steht im Jesajabuch, Kapitel 2, in den Versen 1-5:

Lesung: Jesaja 2, 1-5

Es gibt Bilder, die begleiten das Leben der Menschen über die Zeiten hin. In ihnen steckt eine Kraft, die nicht zu versiegen scheint.

Die Bilder aus dem 2. Kapitel des Prophetenbuches des Jesaja gehören dazu. Es sind Bilder gegen die Angst, Bilder gegen die Verzweiflung, Bilder, die den Frieden machen.

Da leuchtet ein Licht auf in den Dunkelheiten der Zeiten. Es geht aus von einem Berg, vom Zion, dem Tempelberg in Jerusalem. Ein Hügel ist es eigentlich nur. Doch der Prophet sieht, wie dieser unscheinbare Hügel zu wachsen beginnt, wie er sich erhebt, wie er alle Berge schließlich überragt. Glanz liegt über ihm: Glanz, der ausgeht vom Tempel, vom Haus des Herrn. Und die Völker, sie werden angezogen von diesem Licht. Die Nationen machen sich auf, sie ziehen hinauf zu dem Berg. „Kommt lasst uns gehen“, rufen sie. Sie bringen ihre Fragen mit: Fragen, wie man Frieden lernen und das Kriegführen vergessen kann. Und sie bekommen Antwort. Sie werden von Gott selbst unterrichtet in Seinen Weisungen. Zurechtgewiesen, „ins Recht eingewiesen“. Die Weisung Gottes, sie geht aus von diesem Berg. Sie geht hinein in die Welt: sie schafft Gerechtigkeit. Und sie heilt die Friedlosigkeit: die Völker sie lernen den Frieden. Feuer wird in den Essen entfacht. Schwerter werden zu Pflugscharen geschmiedet. Brot soll jeder haben. Und aus den Speeren wird man Sicheln machen, um das reife Korn zu schneiden, das alle satt macht. Die Finsternis des Krieges weicht dem strahlenden Licht des Friedens und der Gerechtigkeit. Die Vision, dieses Bild hat eine ungeahnte Kraft entfaltet. Kaum war es in das Jesajabuch aufgenommen, wurde es im Buch des Propheten Micha neu vorgetragen und fortgeschrieben.

Auch die Männer und Frauen, die in den Widerstand gegen das Naziregime getreten sind und an die wir uns jedes Jahr um den 20. Juli erinnern, ließen sich in ihrem Einsatz von diesen Bildern des Propheten Jesaja leiten.

So manche haben ihre inneren Beweggründe in Tagebüchern, Briefen, Aufzeichnungen niedergeschrieben. Bekannt ist Dietrich Bonhoeffers Tagebuch „Widerstand und Ergebung“. Ich möchte Worte meines Großvaters zu Gehör bringen, die er niedergeschrieben hat und die demnächst noch in einem Buch veröffentlicht werden.

Hier jeweils Ausschnitte von einem Aufruf, den er am 27.1.1945 verfasst hatte, sechs Tage vor seiner Ermordung in Plötzensee.

Er schrieb:

„Der anliegende Aufruf an alle Menschen entspringt keiner Zellenpsychose. Es ist das letzte Mittel, mit dem ich versuchen kann, meinem Ideal nahe zu kommen. Ich wollte alles tun, um den Menschen einen schönen, gerechten dauerhaften Frieden zu erarbeiten, in dem die Wahrheit herrschen sollte ...

Nicht aus Überheblichkeit richte ich diese Worte an alle Menschen, sondern weil ich sie über die Schranken der Nationen und der Rasse hinweg liebe und in allen Geschöpfe Gottes mit einer göttlichen Seele sehe. Als solche habe ich sie auch überall kennen gelernt, in welchem Erdteil auch immer ich ihnen begegnet bin. In jedem von uns lebt Gottes Seele ...

Betet zunächst zu Gott, erinnert Euch aller seiner Gebote und geht in das stille Kämmerlein, in dem jeder mit dem Pharisäer in seiner Seele abrechnen muss. Und dann hört mich in Ruhe an. Darum darf ich Euch vielleicht im Namen meiner toten und mit mir sterbenden Freunde bitten, im Namen vieler Tausende Deutscher, Frauen und Männer, Alten und Jungen, die eines bitteren Todes gestorben sind, weil sie den Verbrechen entgegentraten oder entgegentreten wollten ...

Tausende Deutsche sind hingerichtet, weil sie sich nicht beugen wollten. Die geringste Kritik kostete schließlich das Leben. Jetzt wird das alles offenkundig werden. Ein langer Zug von Märtyrern wird an Euch still vorbeiwandern. Aber jeder wird Euch zurufen: Liebet Euch untereinander, bekämpft das Leid mit der Liebe, den Hass mit Verständnis, die Ungerechtigkeit mit dem Recht, das Verbrechen mit der eigenen Reue ...

Gott ruft die Menschen zur Entscheidung. Er hat ihnen den Verstand verliehen, damit sie die Gesetze und Kräfte der Natur sich dienstbar machten. Er hat ihnen aber auch die Seele eingehaucht, um sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden, dass sie die gezähmten Kräfte nicht benutzen, um sich, die Gefäße göttlichen Geistes zu vernichten, sondern um die Werke der Liebe und der Hilfe zu verstärken und Segen über die Menschheit zu verbreiten ...

Verzicht auf Zwang in allen Fragen; vertraut Euch ganz der Macht der Vernunft, dem Willen zur Einsicht und der göttlichen Führung an, indem ihr Gottes Gebote zur Grundlage Eures Tuns macht; sie sind für alle Menschen in allen Religionen die Gleichen ...

Begrabt Rassen- und Völkerhass und versöhnt euch. Das ist nur möglich, wenn jeder sich bemüht, der Wahrheit die Ehre zu geben und dem anderen zu helfen ...

Gott aber hilft nur denen, die sich mühen, die ihnen von Ihm verliehenen Kräfte recht nach seinen Geboten zu brauchen. Meine Mühe hat er zu Schanden werden lassen; so muss ich wohl seine Gebote noch nicht recht beachtet haben. Gott helfe Euch dazu. Weicht seinen Geboten auch nicht in der Außenpolitik aus ...“

An dieser Stelle gehe ich aus den Aufzeichnungen meines Großvaters einen Moment heraus, um das herauszuheben, was viele Menschen im Widerstand zutiefst beschäftigte. Die Frage, die er in seinem Rechenschaftsbericht so stellte: „Denn wenn ich so recht erkenne, weshalb lässt Gott die Menschen, die seine Gebote befolgen, im Stich und lässt diejenigen, die sie offenbar missachten und ihre Mitmenschen quälen, ihr unheilvolles Werk weitertreiben, lässt Millionen unschuldiger Menschen vom Kinde bis zum Greise in bitterer Not, in schwerstes Leid geraten, angerichtet von den Kräften des Bösen?“ Es ist hier wie bei Hiob ein Ringen mit Gott.

Mein Großvater schreibt dann in seinem Aufruf weiter:

“Die Gräber meiner Eltern, Groß- und Urgroßeltern in Ostpreußen verloren! Gibt es sehr viele Menschen, die gleich schwer von der Hand Gottes getroffen sind? Die mir Liebsten weiß ich in Not und Leid, aber ich habe keine Zeichen von ihnen. Und doch weiß Gott, dass ich alles gewagt habe, weil ich der Jugend, den Männern und den Frauen aller Völker weiteres Leid und neue Not ersparen wollte! Herr, was ist des Rätsels Lösung? Die Verbrecher triumphieren!

Und doch nur Du kannst diesem Geschehen einen Sinn geben, und Du wirst es tun. Ihr Menschen, hört meine flehende und beschwörende Bitte! Lasst ab von Kampf und Töten, von Zerstören und Machtgier! Helfet und liebet einander! ... Berlin im Gefängnis 27. Januar 1945, Dr. Carl Goerdeler“

Die goldenen Fäden der echten Wirklichkeit schlagen überall durch.

Am 24. Oktober 1945 kamen die Völker zusammen, dem Tag der Vereinten Nationen, die Menschenrechtscharta trat in Kraft, gespeist von den Weisungen Gottes.

Im Jahre 1989/90 gelang durch die friedliche Revolution der Fall der Mauer und Aufhebung der Teilung Deutschlands. Doch wir alle wissen, es gilt weiterhin auf dem Weg zu gehen, den der Prophet Jesaja und viele unserer Vorfahren so eindrücklich gesehen haben und mutig gegangen sind.

Wie sagte der Prophet Jesaja: „Es wird zur letzten Zeit der Berg, das des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge.

... und alle Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des Herrn gehen, dass Er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen ... Kommt nun, lasst uns wandeln im Licht des Herrn.“

Amen.