Die Ordnung der Bedrängten

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Carsten Bolz

Die Ordnung der Bedrängten

Predigt von Superintendent Carsten Bolz im Rahmen des Ökumenischen Gottesdienstes am 20. Juli 2012 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Predigt mit mit Phil 2,4 und Mt 12,7

Mt 12,7 (Einheitsübersetzung): Wenn ihr begriffen hättet, was das heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer, dann hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt.

Phil 2,4 (Luther): Ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.

Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde hier im Hinrichtungsschuppen von Plötzensee,

dieses Evangelium vom Ährenrupfen/-ausraufen fällt nach der katholischen Leseordnung ein weiteres Mal in die Woche des Gedenkens des 20. Juli 1944. Es hat mich veranlasst, an diesem Ort hier der Frage nachzugehen, welche Ordnung unter uns gilt: Was ist gefordert von den Jüngern Jesu – von denen, die diesem Mann aus Nazareth bis heute nachfolgen?

Ein Mann, ein Jünger Jesu, der die Nazi-Morde überlebt hat, weil er selber niemals verraten oder verhaftet wurde, obwohl er mit zum Kreis der Widerständler gerechnet werden muss und obwohl er unendlich viel für Menschen, die hier ermordet wurden, getan hat – ein Jünger Jesu und sein Nachdenken über die Ordnung unserer Kirche, ist mir dabei im 40. Jahr nach seinem Tod ins Zentrum meines Nachdenkens geraten: Harald Poelchau – und sein Nachdenken über eine „Ordnung der Bedrängten“.

Doch zunächst der Blick ins Evangelium, auf die Ordnung Jesu, die Matthäus mit dieser Episode aus den judäischen Kornfeldern erzählt: Langes Wandern macht hungrig. Die Mitwandernden verschaffen sich einen kleinen Pausensnack – rupfen die reifen Ähren ab – den Vorläufer aller Müsliriegel späterer Jahrhunderte.

„Deine Jünger tun etwas, das ... verboten ist!“ halten die „Pharisäer und Schriftgelehrten“ dem Wanderprediger Jesus vor. Und der, so lesen wir es bei Matthäus, der erinnert die kritischen Beobachter an ihre eigenen Kategorien. Nach diesen ist ein solches Verhalten am Sabbat durchaus legitim, denn nach pharisäischer Schriftauslegung galt: Hunger gehört in die Kategorie „Lebensgefahr“ – und Lebensgefahr verdrängt den Sabbat! Das Beispiel Jesu aus der israelitischen Königszeit macht das bewusst: Wenn schon der Tempeldienst die Sabbat-Ordnung wie bei David außer Kraft setzt, dann erst recht das, was noch größer ist als die Pflicht zum Tempeldienst – nämlich die Verpflichtung zu Barmherzigkeit, zu Güte. Das hätten die Angesprochenen damals durchaus wissen können; das entsprach ihrer Schriftauslegung. „Wenn ihr begriffen hättet, was das heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer, dann hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt.“

So nehme ich aus diesem Abschnitt des Evangeliums mit, was offenbar die Ordnung Jesu ist – in guter Tradition jüdischer Schriftgelehrter: eine „Ordnung der Barmherzigkeit – eine Ordnung der Güte“, die über allen anderen Ordnungen steht. Mit der evangelischen Lesung des kommenden Sonntags gilt: „das was dem anderen dient“, das ist der Maßstab jeder Ordnung.

Mit diesem Gedanken, liebe Gemeinde, kamen mir Harald Poelchau und seine Lebenserinnerungen in den Sinn, die er unter dem Titel „Die Ordnung der Bedrängten“ zuerst 1963 veröffentlicht hat. Es ist in diesem April 40 Jahre her gewesen, dass Poelchau starb – und im kommenden Jahr werden wir uns seines 110. Geburtstages erinnern. Nur kurz aus seinem Leben: 1903 in Potsdam geboren, ist er im elterlichen Pfarrhaus in Brauchitschdorf in Schlesien aufgewachsen. Die Lebenssituation dort hat ihn entscheidend geprägt. Schon dort hat sich ihm in der Diskrepanz zwischen der eigenen bürgerlichen Familie und der bäuerlichen Umwelt eindrücklich vermittelt, „dass die Gesellschaft nicht so ist, wie sie sein sollte, dass sie nicht heil ist.“

Später, in seinem Theologiestudium, geprägt vor allem von seinem Lehrer Paul Tillich und noch später dann in Berlin von Carl Mennicke, hat er auf diesem Hintergrund das Denken der Religiösen Sozialisten kennen gelernt. Es hat ihn geprägt und es hat sein Engagement im Gefängnispfarramt wie später im Industriepfarramt bestimmt. Selber „Staatsdiener“, ist er im Gefängnispfarramt für die Gefangenen in Tegel und Plötzensee ein wesentliches Bindeglied zu den Angehörigen nach draußen und untereinander gewesen. Vieles, was uns an Dokumenten und Abschiedsbriefen der Männer und Frauen des 20. Juli bekannt ist, danken wir ausschließlich seinen „Botendiensten“. „Deine Jünger tun etwas, das (vermeintlich) ... verboten ist!“

Poelchau – befragt, was für ihn der Maßstab seines Handelns gewesen sei, welche Ordnung für ihn ausschlaggebend gewesen wäre, interpretiert für mich mit seinem Denken diese Geschichte der Jünger Jesu aus dem Kornfeld und den Vers aus dem Philipperbrief: „ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.“ Poelchau sagt „die wichtigste, bestimmende Linie meines bisherigen Lebens“ ist „das Bemühen um die Ordnung der Bedrängten“ gewesen. Und er versteht darunter „nicht eine Ordnung für die Bedrängten“, sondern eben eine Ordnung der Bedrängten. Er schreibt: „Christliche Ordnung schien mir von meiner Jugend an aus dem Leben der Bedrängten heraus wachsen und gestaltet werden zu müssen.“ Und weiter: „Ich stieß schon bald auf den Widerspruch der Ordnungshüter, wenn ich meinte, es müsse eine Ordnung der Bedrängten geben, und von ihr gelte das Wort Christi Matthäus 5,20: Es sei denn eure Gerechtigkeit besser als die der Schriftgelehrten und Pharisäer.“

So verstand Poelchau seinen unvorstellbar schweren Dienst im Gefängnis – wie dann auch später seine Beteiligung am Aufbau des „Evangelischen Hilfswerks“ als auch als seine Arbeit als Industrie- oder Sozialpfarrer unserer Kirche – stets aus der Sicht der Bedrängten. Schon im Bericht von seiner ersten Hinrichtung, zu der er als Dienstjüngster gerufen wurde, wird das deutlich: „Hier werde ich gefordert, wie nie zuvor. Es war im Grunde nicht entscheidend, ob es sich um einen politischen Gefangenen oder um einen Kriminellen handelte. Immer handelte es sich um einen armen Menschen an der Grenze des Lebens, an der Grenze des Todes, und man hatte für ihn mit allen Kräften der Seele da zu sein. ... ich wurde einfach gebraucht!“

Gebraucht wurde Poelchau darüber hinaus, das wissen viele von Ihnen besser als ich, als Bote zwischen drinnen und draußen, als ökumenischer Botschafter auch drinnen – zwischen Helmuth James von Moltke, Alfred Delp und Eugen Gerstenmaier in Tegel, als Nahrungsmittellieferant auch in der Frauenhaftanstalt, als Organisator von Verstecken für jüdische Mitmenschen in Berlin. Und er hat sich diesen Aufgaben in unglaublicher Weise gestellt – fühlte sich in unglaublicher Weise frei dazu und war offenbar stets dabei Verbotenes zu tun und ist doch nie dafür zur Rechenschaft gezogen worden. Wir können nur ahnen, woher er die Kraft dazu nahm, wenn wir bei ihm lesen: „Ich habe immer gespürt, dass Gottes ‚Ja’ zu unserer Welt auch für die Ärmsten und Verfolgten galt, für die zum Tode Verurteilten. Und daraus habe ich selber Kraft geschöpft. Die Arbeit und die seelische Kraft, die man hineingab, bekam man dadurch wieder, nicht nur dass einen die Beamten stützten, sondern dass man aus den Augen der Gefangenen merkte, die man begleitete, dass man hier eine wirklich sinnvolle Arbeit geleistet hatte, vielleicht die sinnvollste im ganzen Leben. Wenn ich mit Menschen zusammen sein konnte, die keine Hoffnung mehr hatten, wenn ich mit ihnen das letzte Gebet sprach und mit ihnen die Kraft zum Durchhalten aus der Ewigkeit erbat, die Kraft, die ich selber so nötig brauchte. Heute, ein halbes Menschenleben später, danke ich Gott dafür, dass er mich jene Arbeit tun ließ und dass er mich durchhalten ließ!“ – Und wir können Gott dafür auch dankbar sein.

Seinen Beitrag zu einer „Ordnung der Bedrängten“ hat Poelchau aber nicht nur hier im Gefängnis, sondern auch im Mitwirken im Kreisauer Kreis geleistet. An der ersten Kreisauer Tagung vor 70 Jahren war er beteiligt; an späteren nicht mehr, weil er seine Aufgabe dann doch eher in der Zuwendung zu den Einzelnen sah, denn in der politischen Arbeit. Und auch weil er offenbar die Zuwendung zu den einzelnen Bedrängten nicht durch eigenes politisches Engagement aufs Spiel setzen wollte.

Mich bringen die Anregung aus dem Matthäusevangelium und die Erinnerung an Poelchaus Engagement für eine „Ordnung der Bedrängten“ zu der abschließenden Frage, welche Ordnungen denn unser Miteinander heute bestimmen, was wir aus den Ansprüchen der Kreisauer, den Ideen eines Harald Poelchau, auch aus unseren biblischen Zeugnissen gelernt haben und immer wieder neu lernen müssen: Wo schaffen wir es, „die Bedrängten“ unter uns tatsächlich wahrzunehmen und mit einzubinden in die Ordnungen unserer demokratischen Staaten, unserer Kirchen auch!? Und: wer sind die Bedrängten denn heute? – und die Antworten dazu sind vielfältig: Asylbewerber auf dem Weg nach Deutschland, denen am neuen Flughafen BER statt eines ordentlichen rechtstaatlichen Verfahren in der schon gebauten Unterkunft nur ein verkürztes „Flughafenverfahren“ ohne Rechtsbeistand ermöglicht werden soll; Sinti und Roma unter uns, die wir zumeist ausschließlich mit der Begegnung mit rumänischen Scheibenputzern an Verkehrskreuzungen zusammen bringen; Menschen, die heute in unseren Gefängnissen leben – gleich hier nebenan oder in Tegel, die – nun sogar gerichtlich beschieden – in viel zu kleinen, menschenunwürdigen Zellen leben mussten; Menschen, die keine Arbeit finden, die auf der Straße leben, usw., usw. Dass es zu wenig zu tun gäbe, könnten wir nicht behaupten.

Im Nachdenken über diese Texte und über das Wirken von Harald Poelchau erlebe ich es neu als eine Verpflichtung für uns Nachlebende, an einer lebensfähigen Ordnung der Bedrängten mitzuwirken. Vielleicht kann es dazu ganz aktuell Anstöße dadurch geben, dass der Pfarrkollege Bernhard Fricke seit Mai dieses Jahres mit halbem Dienstumfang beauftragt ist, im Ökumenischen Gedenkzentrum Plötzensee mitzuarbeiten. Mit seinem anderen halben Dienstumfang ist er Seelsorger in den Abschiebegewahrsamen in Berlin und Brandenburg – gewiss EINE Möglichkeit, die Erinnerung der Unrechtstaten von Plötzensee für heute fruchtbar werden zu lassen in der Zusammenschau mit der Menschenrechtsarbeit, die einer Ordnung der Bedrängten dient.

Ich sehe es jedenfalls als unsere Verantwortung, weiter daran mitzuwirken, dass von diesem Galgen hier in Plötzensee immer wieder die unüberhörbare Botschaft ausgeht, dass wenigstens wir in unseren Kirchen uns unserer Verantwortung ernsthaft stellen, und zu einer „Ordnung der Bedrängten“ in unserem Land beitragen wollen. Möglicherweise müssen auch wir dabei ungewöhnliche Wege gehen „Deine Jünger tun etwas, das (vermeintlich) ... verboten ist!“ – und sicher müssen wir dabei weniger auf das eigene sehen, als auf das, was den anderen dient. Aber das wäre schon unsere Verpflichtung, damit Harald Poelchau Recht behält, der 1969 mit Bezug auf den Widerstand und seine Opfer gesagt hat: „Nichts war umsonst!“

Amen.






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20.07.2012
Dr. Axel Smend
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