Die Radikalität der sittlichen Entscheidung

Joachim Lipschitz
Die Radikalität der sittlichen Entscheidung
Ansprache des Senators für Inneres Joachim Lipschitz am 19. Juli 1958 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin



In den 13 Jahren nach dem schmählichen Zusammenbruch des Nazireiches ist eine umfangreiche Literatur über den deutschen Widerstand entstanden, sind viele Zeitungsartikel veröffentlicht, Reden gehalten, Gedanken geäußert worden über alles das, was sich auf der Schattenseite des Naziregimes abgespielt hat, so dass es ein vermessenes und hoffnungsloses Beginnen zugleich wäre, etwas Neues, etwas nicht schon Gesagtes über die Frauen und Männer sagen zu wollen, zu deren Ehre und Andenken wir heute hier wiederum versammelt sind. Unendlich viel an fleißiger Forschungsarbeit, an psychologischer Durchdringung, an nachspürender menschlicher Deutung wurde geleistet, um aus dem vom Geschehen der letzten Kriegs- und der ersten Nachkriegsmonate fast verwehten und verschütteten Spuren ein immer plastischeres Bild der Menschen, ihrer Gedanken und ihrer Ziele zu zeichnen. Mit historischer Genauigkeit prüfen und rekonstruieren wir den Weg jedes Einzelnen aus seiner Schicht, seiner Weltanschauungsgemeinschaft, seinem Beruf und seinem Lebenskreis, den Weg mit allen seinen Ahnungen und Vorzeichen, den ersten Konflikten, dem Aufbruch der Leidensstraße und schließlich dem Ziel, hier oder an einer der anderen zahlreichen Henkersstätten der damaligen Zeit. Wir gewinnen ein geschichtlich-treues Bild jener Vielfalt von Fäden, die sich damals fanden, knüpften und spannen, bis sie der Tod jäh zerriss.


Man möchte sich manchmal fragen, ob es gut war, dass sich die Forschung so rasch und so gründlich diesem Abschnitt deutscher Geschichte und innerhalb dieses Abschnittes dieser seiner Seite gewidmet hat. Gewiss, bei der hasserfüllten Gründlichkeit, mit der die Hitler, Himmler, Kaltenbrunner und Freisler alle Spuren zu vernichten suchten, die von ihren tapferen Widersachern zeugten, bei dem totalen Auslöschungsprogramm, das gegen das andere Deutschland abgewickelt wurde, und dem ganze Familiensippen und -gruppen zum Opfer fielen, war es schon vonnöten, so schnell wie möglich Zeugen und Zeugnisse zu suchen und zu sammeln, ehe es für eine geschichtlicher Kritik standhaltende Darstellung zu spät war. Hinzu kam, dass es den Nationalsozialisten tatsächlich gelungen war, so viele Deutsche über das wirkliche Ausmaß ihrer Verbrechen im Unklaren zu lassen, dass schnelle und gründliche, vor allem aber objektive Aufklärung bitter notwendig war. Und schließlich haben sich viele an diese ihnen vordringlich erscheinende Aufgabe begeben, um einer abermaligen Dolchstoß- und Verratslegende vorbeugend entgegenzutreten, und zwar mit Tatsachen noch eher als mit Argumenten.


Und trotzdem drängt sich bisweilen die Frage auf, ob es für uns Deutsche gut gewesen ist, dass sich die geschichtliche Forschung so schnell aller dieser Vorgänge bemächtigt hat. Vielleicht hat sie mit ihrem durchaus legitimen Bemühen um Objektivierung alles Schrecklichen und alles Großartigen, alles Gemeinen und alles Heiligen, was jene Zeit auszeichnete, ungewollt einen weiteren Beitrag dazu geleistet, dass unserem Volk als Ganzem die harte schonungslose Auseinandersetzung mit seiner eigenen Vergangenheit, mit Schuld und Sühne erspart blieb, eine Auseinandersetzung, die ihm besser nicht erspart geblieben wäre. Aus der Auseinandersetzung der Deutschen mit sich selbst ist die deutsche Apologie in zahlreichen Nuancen und nach den verschiedensten Melodien geworden und in dem Bemühen, auch bei der Berichterstattung über die deutsche Widerstandsbewegung Licht und Schatten gerecht zu verteilen, menschliche Größe gebührend zu würdigen, ohne menschliche Schwäche zu verschweigen, Opfermut zu preisen, Versagen jedoch auch nicht ungetadelt zu lassen, – bei all diesem Streben nach unbestechlicher Objektivität ist die Berichterstattung über den deutschen Widerstand gegen Hitler unversehens mit hineingeraten in das allgemeine Gefälle der deutschen Apologie.


Nun wäre es gewiss sehr ungerecht, an dieser Gesamtentwicklung etwa den Historikern die Schuld geben zu wollen. Im Gegenteil, sie verdienen Dank dafür, dass sie mit ihren Mitteln eine Lücke ausgefüllt haben, die wir alle bisher nicht auszufüllen vermochten. Statt eines uneingeschränkten, kämpferischen, keinen Widerspruch duldenden, statt eines – wenn das Wort gestattet ist – radikalen Bekenntnisses zum Widerstand, seinen Trägern und vor allem seinen Opfern sind die Gedanken auf Seitenwegen abgeirrt, hat sich die Diskussion auf Randprobleme verlagert. Da wird die Frage aufgeworfen, welchen ethischen Gehalt der dem Tyrannen geleistete Treueid besitze, ob ein Umsturz mitten im Kriege sozusagen zulässig sei und ob dabei auch Blut vergossen werden dürfe, ob das Anknüpfen von Verbindungen zu den damaligen Feindmächten nicht den Wert der Widerstandstat herabmindere, warum der eine oder andere erst so spät zur Résistance gestoßen sei und wie man das Verhalten dieses oder jenes vor, während und nach der Aktion zu beurteilen habe. Gewiss, alle diese Fragen sind wichtig und erheischen Antwort, aber sie liegen nicht im Zentrum des Geschehens und schon gar nicht im Zentrum des Vermächtnisses, das die Gemordeten uns hinterlassen haben. Im Zentrum nämlich liegt eine einfache, eine schrecklich einfache Entscheidung, die jeder Einzelne dieser Toten für sich getroffen hat, und zwar nicht erst in dem Augenblicke, da der Tod nach ihm griff. Diese Entscheidung wurde von ihnen allen unbeschadet der Probleme, die wir jetzt um sie türmen, über diese Fragen hinweg getroffen, und diese Entscheidung, nicht die zahlreichen Randfragen und Deutungen, sind das Vermächtnis, um das es geht.


Diese Entscheidung ist nicht nur erschreckend einfach, sie ist so alt wie die Menschheit selbst, es ist jene, die vor zweieinhalb Jahrtausenden Sokrates traf und mit dem Tode bezahlte, die Luther voll Stolz und Demut auf dem Reichstag zu Worms bekannte und die heute noch, trotz alles behaupteten menschlichen Fortschritts, von unzähligen Menschen auf der ganzen Erde verlangt, getroffen und gebüßt wird.


Freiheit oder Sklaverei – Demokratie oder Diktatur – Humanität oder Bestialität – Recht oder Gewalt – Gewissen oder Konformismus – in allen diesen oder noch vielen anderen Alternativen begegnet uns der uralte Konflikt, Jahrtausende von Bemühungen, eine Gesellschaftsordnung zu errichten, die den Menschen diese Entscheidung erspart, die Antithese aufhebt – sie haben nicht zu verhindern vermocht, dass auch im 20. Jahrhundert um der gleichen Entscheidung willen das Blut der Besten floss und noch fließt.


Was es zu erkennen gilt, ist, dass sie alle, früher oder später, meinetwegen zu früh oder zu spät, am Anfang oder am Ende ihrer Auseinandersetzung mit der Gewaltherrschaft vor dieser Entscheidung gestanden haben. Dass sich alle Komplexität ihres Denkens und Ringens, ihrer Fragen und Antworten, alle Vielschichtigkeit ihrer Probleme am Ende in diese unerbittliche Formel auflöste, und dass sie eine Konsequenz zogen, die uns in ihrer Schuld zurücklässt. Der Arbeiter, der die in Jahrzehnten mühsam erkämpften Rechte nicht einer höhnischen Karikatur von nationalem Sozialismus opfern wollte, der Staatsdiener, dessen Rechts- und Pflichtgefühl ihm verbot, Werkzeug einer hemmungslosen Gewaltherrschaft zu sein, der Lehrer und Wissenschaftler, der es ablehnte, sich als Giftmischer gegen die Jugend missbrauchen zu lassen, der Künstler, der sich die Freiheit einer künstlerischen Aussage nicht rauben lassen wollte, der Offizier, den seine Treue zum Volke zwang, sich dem hassverblendeten Totentanz entgegenzuwerfen, der Geistliche, der das Gotteswort nicht in den Dienst verlogener Propaganda stellen ließ, der junge Mensch, der eines Tages erkannte, dass seine Ideale Lug und Trug waren und dass sein Glaube schändlich missbraucht worden war und schließlich alle jene Namenlosen, die sich plötzlich dem Ansinnen gegenüber sahen, Eltern, Verwandte, Freunde und Kollegen im Stich zu lassen oder gar zu verraten – ihrer aller Weg erreichte eines Tages den Schnittpunkt und zwang sie zur Entscheidung, und nur diese Entscheidung, nicht der Weg bis zu ihr, ist wichtig, ist Mahnung, ist Vermächtnis. Diese radikale Entscheidung ist es, die von der Fülle des historischen Materials gelegentlich überschattet wird, sich zuweilen in Details zu verlieren droht. Aber gerade sie ist es, um deren Willen wir in ihrer Schuld stehen.


Nun hat das Wort „radikal” für viele einen erschreckenden Klang, sie setzen es gleich mit hemmungslos, unduldsam, fanatisch. Sie begreifen hierunter den Gegensatz von humanistischer, verständigungsbereiter, zum Ausgleich geneigter Geisteshaltung; es ist für sie Ausdruck eines abstoßenden und zerstörerischen Dogmatismus. Wir wissen aber aus vielen Zeugnissen, dass diese negative Schablone nicht auf die Frauen und Männer passt, deren Erinnerung wir heute beschwören. Im Gegenteil, sie waren weltzugewandte, lebensbejahende, der Humanität, der Toleranz und der Freiheitsidee verschriebene Menschen. Und doch trafen sie am Ende, gemeinsam und jeder von ihnen für sich, eine radikale Entscheidung, verbrannten die Schiffe hinter sich und wählten unter mehreren den einzigen Weg, den das Gewissen befahl. In ihrem Sinne – und es sollte auch der unsrige sein – heißt radikal, die Probleme auf die letzte Formel hinführen, das Unausweichliche nicht zu vermeiden trachten, die Erkenntnis durch die Tat besiegeln und keine Rücksicht auf Dinge nehmen, die nichts mit der Entscheidung selbst zu tun haben. In dieser Gesinnung bekennt Julius Leber, schon jenseits der Entscheidung und voller Erkenntnis für das Selbstverständliche: „Für eine so gute und gerechte Sache ist der Einsatz des eigenen Lebens der angemessene Preis.”


Vor dieser Radikalität der sittlichen Entscheidung und der ihr folgenden Tat, so möchte ich behaupten, versagte bisher unser Bemühen, ihr Vermächtnis zu vollstrecken. Das mag daran liegen, dass wir nach all dem Schrecklichen es leid waren und sind, vor Alternativen gestellt zu sein, die alles oder nichts von uns verlangen. Viele von uns vermeinen, in politisch hinreichend geordneten Verhältnissen zu leben, und sie schlussfolgern daraus, dass die großen Fragen bereits beantwortet seien, oder aber sie halten sich zur Beantwortung nicht für zuständig und sind heilfroh darüber. Aber wenn wir es uns so einfach machen, das wirklich Einfache zu leugnen, sinken wir immer tiefer in die Schuld jener, die für uns starben. Ein Volk hat sich zu den Märtyrern seiner Freiheit zu verhalten wie Schuldner zu ihren Gläubigern. Und wenn wir es ihnen in der Radikalität ihrer Entscheidung schon nicht gleichzutun vermögen, so sollten wir nicht nach der allzu bequemen Ausrede greifen, dass die Gegenwart uns – anders als ihnen seinerzeit – die Entscheidung erspare. Nichts ist falscher als das. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Mächte und Kräfte dieses Erdballs nicht so geordnet, dass etwa die große Alternative überflüssig geworden wäre; das zeigen die gegenwärtigen Ereignisse deutlich genug. Dass dem so ist, liegt gewiss nicht an den Toten. Ihr Vermächtnis war gewaltig genug, um die entscheidende Antithese zu überwinden. Wir Überlebenden sind es, die nicht groß genug waren, dieses Vermächtnis zu vollstrecken.


Hüten wir uns aber auch vor jener denkfaulen Bescheidenheit, die sich angesichts der Größe und der Zahl der Opfer damit zu beschwichtigen sucht, dass immerhin bewiesen sei, dass nicht alle Deutschen Nationalsozialisten waren, dass es Hitler nicht gelungen sei, die Elite des deutschen Volkes für sich zu gewinnen, jeden menschlichen Anstand zu unterdrücken, die Jugend auf die Dauer hinters Licht zu führen und was dergleichen Alibiangebote mehr sein mögen. So richtig diese Feststellungen sind – nur mit ihnen das Schuldner-Gläubiger-Verhältnis erledigen zu wollen, ist zutiefst unangemessen.


Nein, das Vermächtnis ist sehr viel ernster, wiegt sehr viel schwerer. Und es erledigt sich auch nicht von selbst, etwa durch Zeitablauf. Wenn es uns aufgibt, über Konfessionen, Parteien, Schichten und Gruppen hinweg in jedem, auch dem Andersdenkenden, einen Bundesgenossen zu sehen, wofern er nur in der letzten großen Entscheidung auf unserer Seite steht, so sind wir davon noch sehr weit entfernt. Wenn sie uns lehren, Freunde und Gegner allein nach ihren Zielen und Ideen zu bewerten, anstatt ihre Motive zu verdächtigen, dann haben wir allen Grund, beschämt zu sein. Und wenn wir geduldet haben, dass ihre Schergen und ihre Henker sich durch das von den Ermordeten geöffnete Tor in das neue Leben drängen und sich hier wie biedere Bürger aufspielen dürfen, so als ob nichts gewesen sei, dann haben wir auch – das sei offen gesagt – unbefugt für die Gemordeten und Gequälten Vergebung geübt, ehe wir ihre Forderungen an uns beglichen haben.


Den Tyrannen überlebt zu haben ist kein Sieg. Das Aufkommen eines neuen Usurpators rechtzeitig zu verhindern, die Gefahr früh genug erkennen und ihr begegnen, das ist die Aufgabe. Und wenn Manfred Haushofer in Moabit schon an der dunklen Schwelle stolz bekennt: „Es gibt wohl Zeiten, die der Irrsinn lenkt. Dann sind’s die besten Köpfe, die man henkt“, dann ist dies ein sehr deutlicher Anruf an die besten Köpfe, die den Irrsinn überlebt haben, an welcher Front sie immer stehen mögen, den Ideen Treue zu beweisen, für die hier und anderswo in den verruchten zwölf Jahren gestorben wurde:


Der Idee, bei aller Unterschiedlichkeit der Weltanschauung die Einigkeit in der letzten Entscheidung zu festigen.


Der Idee, das Wesentliche nicht zu verleugnen und sich vor allem nicht am Unwesentlichen zu verschwenden.


Der Idee, die sittlichen Gesetze nicht nur als theoretische Gebote zu begreifen, sondern ihnen in allen Lebensbereichen, und keineswegs zuletzt in der Politik, Geltung zu verschaffen.
Der Idee, sich jederzeit gerüstet zu halten für die große Entscheidung, aber nicht etwa um ihr auszuweichen, sondern um sich ihr zu stellen.


Wie wenig haben wir doch von ihnen gelernt! Wie zaghaft sind wir doch, wenn es gilt, ihre Lehren weiterzugeben!


Wie dürftig ist doch, was wir bisher zur Vollstreckung ihres Vermächtnisses getan haben!


Und wie fern sind wir doch noch von der Vollendung ihres Werkes:


Lernen – Lehren – Vollstrecken – Vollenden


Wie tief stehen wir noch in ihrer Schuld!


 

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