Ein Ort, der Schweigen gebietet

Wolfgang Lüder

Ein Ort, der Schweigen gebietet

Ansprache des Bürgermeisters von Berlin Wolfgang Lüder am 20. Juli 1980 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Diese Gedenkstätte ist ein Ort, der Schweigen gebietet. Furchtbares ist hier geschehen. Folterknechte und Henker haben hier ihr schmutziges Handwerk verrichtet und einem System gedient, das aller Zivilisation, jeder Menschlichkeit zuwider lief. Der Ort gebietet Schweigen, weil mit Worten die Qual derer, die hier litten und starben, nicht ermessen werden kann. Unsere Verneigung vor den Opfern des Hitlerfaschismus in unseren Lande und in anderen Ländern ist der Ausdruck unseres Respekts vor dem Widerstand gegen die Tyrannei.

Eben dieser Ort verpflichtet aber, auch laut zu sprechen, damit überall gehört wird, welche Verbrechen hier geschahen. Theodor Heuss sagte bei der Einweihung des Mahnmals Bergen-Belsen Anfang der fünfziger Jahre – und seine Worte haben bis heute Gültigkeit – „Die Deutschen dürfen nie vergessen, was von Menschen ihrer Volkszugehörigkeit in diesen schamreichen Jahren geschah.“

Und ich füge hinzu: Wir dürfen nie vergessen, wofür die Menschen gestorben sind, derer wir hier gedenken. Der Mut, den die Männer und Frauen des Widerstandes aufbrachten, die Verantwortung, aus der heraus sie handelten, die Verpflichtung, um die sie wussten, das alles darf nicht in Vergessenheit geraten. Der Mut, dem Unrechtsregime zu widerstehen und dem Tyrannen Widerstand entgegenzusetzen, war tief verankert in den Grundüberzeugungen der Menschen, die hier ihr Leben ließen.

Die Ereignisse, die zum 20. Juli führten und die den 20. Juli zum sichtbaren Höhepunkt des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus machten, sind von geschichtlicher Bedeutung für unser Volk. In vielen Reden ist dieses Thema grundsätzlich behandelt worden, und immer wird es Gelegenheit geben, dieses uns auch heute noch verpflichtende Handeln der Widerstandskämpfer grundsätzlich zu betrachten, zu werten und daraus zu lernen.

Ich möchte heute unser aller Augenmerk auf eine andere Seite lenken: Die Männer und Frauen des 20. Juli und all die anderen Opfer, die während der Zeit des nationalsozialistischen Terrors hier ihr Leben ließen, handelten stets aus einer konkreten Situation heraus. Sie waren eingebunden in „Sachzwänge“ des täglichen Lebens, in unmittelbare Verantwortung im jeweils eigenen Bereich und in ihr praktisches Handeln. Auch sie lebten in dem Spannungsverhältnis von Gehorsam und Loyalität. Aber sie hatten den Mut zur Frage: „Loyal gegen wen? In welchem Sinne?“ Und sie hatten den Mut, diese Frage zu beantworten.

So fanden sie zu ihrer Tat. So geben sie uns die Verpflichtung mit, nicht nur die grundsätzlichen Dinge – zum Beispiel nicht nur die allgemeinen Aussagen unserer Verfassung – im Auge zu haben, sondern uns an ihnen zu orientieren, wenn es in den Alltag hineingeht, in dem wir uns gemeinhin befinden mit all seinen Ecken und Kanten und Schwierigkeiten und Sorgen. Hier erweist sich die Kraft dessen, was wir als prinzipiell für uns erklärt haben. Hier ist auch der Prüfstein für unsere Verfassung. Hier zeigt sich, ob auch wir gelernt haben, für unsere Gesinnung einzustehen.

Was die Frauen und Männer damals taten, stand gegen eine Wirklichkeit, mit der verglichen jeder unsrer Alltage ein Feiertag ist: Wir haben Frieden, zwar mit Konflikten und auch Bedrohungen, aber keinen Krieg. Und wir leben in einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Damit haben wir heute die Grundvoraussetzung zu politisch engagiertem, offenem und am Gemeinwohl orientierten Tun.

Die Angehörigen und Freunde der Opfer haben erleben dürfen, dass das Handeln derer, die sie verloren haben, die moralische Grundlage für unseren neuen Staat wurde. Mit ihren Kindern haben wir alle das Glück – ich erlaube mir, hier in Plötzensee das Wort ‚Glück’ zu verwenden –, als Bürger dieser Stadt und als Bürger der Bundesrepublik Deutschland erleben zu dürfen und in Anspruch nehmen zu können, was am 20. Juli und von den Menschen des Widerstandes davor und danach gewollt wurde.

Ich möchte kein geschöntes Bild unserer Gesellschaft entwerfen, auch nicht von unserer Stadt oder von unserem Staat. Ich weiß, dass vieles der Kritik würdig ist. Aber dass wir Kritik vorbringen können, dass unser Land zu großem Ansehen gekommen ist, das verdanken wir in einem grundlegenden Sinne denen, die damals in fast hoffnungsloser Situation mutig handelten.

Die Menschen, die damals hier und anderswo in Deutschland und in den besetzten Gebieten ermordet wurden, waren nicht nur ihrer staatlichen Herkunft und ihrer Volkszugehörigkeit nach, sie waren auch politisch und religiös, in Denken und im Empfinden, in ihren Anschauungen und Urteilen verschieden. Die politischen Kräfte des Widerstandes hatten – sieht man über den 20. Juli hinaus – ein breites politisches Spektrum. Aber ihnen war eines gemeinsam: Gegen die Unmenschlichkeit wollten sie alles tun, für die Freiheit – auch für die Freiheit des Andersdenkenden, des Andersgläubigen – wollten sie kämpfen. Sie sahen, wohin es führt, wenn Grundsätze des Rechtsstaates und Grundwerte der Toleranz mit Füßen getreten werden. Es war die Zeit der Rechtlosigkeit und des Judenhasses. Wir alle sind gefordert, mit Konsequenz und Beharrlichkeit dafür einzutreten, Rechtsstaat und Toleranz zu achten, zu ehren und zu schützen.

Die Widerstandskämpfer des 20.Juli setzten sich dafür ein, den Andersdenkenden, sei es politisch oder religiös, zu achten und zu schützen. Das Leiden anderer führte sie zu Erkenntnissen – und zur Tat –, die für uns fundamental sind und bleiben sollten. Das darf nicht verspielt werden. Und wir müssen wachsam bleiben, wenn leichtfertig auch nur Ansatzpunkte damaliger Strukturen oder gar rassistischer Ideologie in unsere Zeit getragen werden.

Ich denke, um es hier ganz konkret zu sagen, zum Beispiel an den Film „Der ewige Jude“', der damals gedreht wurde und dessen Wortwahl Eingang in die politischen Auseinandersetzungen gefunden hat. Dieser Nazifilm zeigt in einer wichtigen Szene Aufnahmen aus einem Warschauer Getto mit halb verhungerten, gequälten Juden und in Zwischenschnitten verängstigte Ratten. An anderer Stelle im selben Film, noch ein Vergleich, keinen Deut anders, damit auch jeder kapiere: Juden und Schmeißfliegen. Ich habe in der deutschen Sprachgeschichte die Kombination Ratten und Schmeißfliegen – angewandt auf Menschen – nur an dieser Stelle gefunden. Und dann erst wieder in der Sprache eines bayrischen Politikers. Ich will das nicht ausweiten. Ich sage nur eines: Jeder muss wissen, welche Sprache er gebraucht.

In der Vorbemerkung zu ‚Aus dem Wörterbuch des Unmenschen’, November 1945, ist zu lesen: ‚Soviel und welche Sprache einer spricht, soviel und solche Sache, Welt oder Natur ist ihm erschlossen.’ Wer sich der antisemitischen Bildersprache der Nationalsozialisten bedient, muss wissen, was er tut. Und wir sollten wissen, wie wir uns zu ihm stellen.

Und zum Rechtsstaat gehört auch, dass es keinen Menschen gibt und geben darf, auf den die Anwendung der Gesetze nicht möglich ist. Wer von Menschen, auch wenn sie sich noch so übel aufführen sollten, sagt, sie benähmen sich ‚wie Tiere, auf die die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich ist’, stellt sich außerhalb der Werte, die für uns Geltung haben und an deren verpflichtende Bedeutung der 20. Juli mahnt. Ich wiederhole mich, ich bitte Sie um Verständnis: Dies ist ein Ort, an dem Schweigen angebracht ist und tiefes Verneigen. Aber eben auch ein Ort, der zur deutlichen Sprache verpflichtet.

Wir wissen, dass die erste deutsche Republik nicht entschieden genug ihre Grundwerte verteidigt hat. Wir wollen nicht denselben Fehler machen, wir wollen unsere Verfassung hüten und unseren freiheitlich demokratischen Rechtsstaat verteidigen. Wir brauchen dafür nicht mit unseren Leben zu kämpfen. Wir brauchen nur das Engagement im Alltag. Die Opfer, derer wir heute gedenken, setzten ihr Leben aufs Spiel. Wir brauchen nur ein wenig Zivilcourage. Wenigstens diese sollten wir haben, unseretwegen und unserer Kinder wegen.







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20.07.1980
Prof. Dr. Eberhard Bethge
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