Eine Brücke zur Gegenwart schlagen

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Hans-Manfred Rahtgens

Eine Brücke zur Gegenwart schlagen

Rede bei der Gedenkfeier zum 20. Juli 1944 für die Schüler der Berliner Oberschulen am 8. Juli 1963 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Sehr geehrter Herr Senator,

meine Damen und Herren,

liebe Schülerinnen und Schüler!

Wir sind hier zusammengekommen, um an dieser Stelle der Opfer des deutschen Widerstandes und des 20. Juli 1944 zu gedenken. Vor 19 Jahren war hier ein grauer, dunkler Vorhof mit einer Baracke. In dieser Baracke starben die Männer und Frauen des 20. Juli angefeindet, verfemt, diffamiert, - ausgestoßen. Ihr Verbrechen war, sich gegen Unrecht und Tyrannei aufzulehnen. Diese Mauer, dieses Mahnmal hinter mir spricht für die Tausende, die ihr Leben gaben, um uns das Leben leichter zu machen. Hinter dieser Mauer liegt die schreckliche Kammer, in der Menschen, am Fleischerhaken aufgehängt wie Schlachtvieh, zur Abschreckung für andere, von der nationalsozialistischen Willkür- und Schreckensherrschaft ermordet worden sind. Die Widerstandsbewegung hatte eine ihrer Wurzeln in der Erkenntnis, dass die nationalsozialistische Herrschaft nur mit einer Katastrophe für Deutschland enden könne. Dazu kam die wachsende Empörung über die Beseitigung der rechtsstaatlichen Ordnung, sowie der persönlichen und politischen Freiheit. Die Empörung über den Terror der Partei und ihrer Organisationen, über die brutalen Gewalttaten und Verbrechen an weltanschaulichen und politischen Gegnern jeder Richtung, die an Christen und Juden, an Konservativen, Liberalen und Demokraten, an Sozialisten und Kommunisten, forderte zum Widerstand heraus. - Nun war es nicht mehr nur Recht, sondern höchste sittliche Pflicht eines jeden freiheitlich Denkenden, sich gegen die Staatsgewalt zu stellen!

Bereits 1933 bildeten sich geheime Widerstandsgruppen, die mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, des Flugblattes und der mündlichen Aufklärung, versuchten, dem Massenwahnsinn entgegenzutreten. Obwohl die Zahl derjenigen, die ihre Freiheit oder auch ihr Leben verloren hatten, bereits in die Tausende ging, fanden sich immer neue Kreise zum Widerstand zusammen. In ihrer Mitte vereinigten sie Männer und Frauen, die auf Grund ihrer Stellung die Erkenntnis für die zerstörende Wirkung des nationalsozialistischen Regimes besonders klar erkannt hatten.

Bauern, Arbeiter, Bürger, Adlige, Offiziere, Diplomaten, Geistliche beider Konfessionen, Beamte, Politiker, Wirtschafts- u. Gewerkschaftsführer fanden sich in dem einen Ziel zusammen, Sittlichkeit und Recht und Anstand auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens wiederherzustellen. Sie fanden sich zusammen, um die Jugend auf freiheitlicher christlich-religiöser Grundlage neu zu erziehen. Sie erhofften sich die Geistes-, Gewissens-, Glaubens- und Meinungsfreiheit. Sie wünschten, dass jeder Arbeiter, Angestellte und Unternehmer an den Wirtschaftsgütern gleichen Anteil habe und wollten für alle einen gerechten, sozialen Ausgleich finden.

Um diese Ziele zu erreichen, mussten neue Wege gefunden werden. Hier war es u.a. Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der durch seine Tatkraft, seinen Mut und seinen Willen einigend auf alle wirkte.

Eine Verzweiflungstat nur mit dem Ziele, Hitler zu töten, wurde verworfen. Sinnvoll erschien nur ein militärisch gelenkter Umsturz, der einen neuen Staat schaffen sollte. Doch waren zahlreiche Attentats- und Umsturzversuche vorher schon gescheitert. Nur einige will ich hier nennen:

Generaloberst von Hammerstein-Equord wollte Hitler bei einer Truppenschau festnehmen; doch eine von Hitlers „Vorahnungen“ vereitelte den Versuch. Generaloberst Ludwig Beck arbeitet einen neuen Plan aus, doch erkrankte Generalfeldmarschall von Witzleben, der das Unternehmen führen sollte. 1943, noch unter dem Eindruck der Katastrophe von Stalingrad, sollte Hitler durch eine als Kognakflasche getarnte Bombe in seinem Flugzeug getötet werden. Es versagte die Zündung. Wenige Tage später sollte der Attentatsversuch im Berliner Zeughaus wiederholt werden. Hitler hielt sich dort nur 10 Minuten auf; 15 Minuten aber brauchte die Bombe bei kalter Temperatur mindestens! Als nächste Möglichkeit wurde ein gemeinsames Pistolenattentat ins Auge gefasst. Hitler aber erschien nicht mehr an der Front. - Alle weiteren Versuche scheiterten infolge zufälliger und unvorhersehbarer Umstände.

Nun durfte nichts mehr dem Zufall überlassen bleiben. Todsicher, in der weitesten Bedeutung seines Wortes, musste der nächste Plan sein! Die wichtigsten Fernsprech- und Verstärkerämter, die Rundfunkstationen, Dienststellen und Ministerien mussten gleichzeitig und schlagartig besetzt werden. Ebenso musste die Reichskanzlei und das Propagandaministerium unter ihre Kontrolle gelangen; Goebbels musste verhaftet, im Zeughaus und am Schloss stärkere Besatzungen stationiert, die Stützpunkte der SS und SA unmittelbar angegriffen und zur Übergabe aufgefordert, wenn nötig, vernichtet werden. Diesem Plan gab man das Deckwort „Walküre“. Eine militärische Operation dieses Ausmaßes konnte unmöglich im Geheimen vorbereitet werden; daher erklärte Beck Hitler, dass es sich um Reservetruppen gegen eventuelle Putschisten handle. Hier in Berlin war die entscheidende Kraftprobe zu erwarten und rein kräftemäßig hielt man die Aussichten nicht für ungünstig; nur bedeuteten die ersten 3-4 Stunden eine unvermeidliche Gefahrenzone. Jetzt konnte man nur noch auf den Tag X warten. Das Stichwort „Walküre“ musste die Entscheidung bringen!

Am 20. Juli 1944 war Stauffenberg zu einem Vortrag ins Führerhauptquartier befohlen, wo nur das Dringlichste vor einem beschränkten Teilnehmerkreis besprochen werden sollte. Das war die letzte, die beste Gelegenheit! Gegen 12 Uhr 30 benutzte Stauffenberg einen unbewachten Augenblick, um den Zünder der Bombe, die er in einer Aktentasche bei sich trug, einzudrücken. Als er den Besprechungsraum betrat, hatte die Lagebesprechung in Anwesenheit Hitlers bereits begonnen. In der Mitte des Raumes stand ein schwerer Eichentisch, auf dem die erforderlichen Karten lagen. Über diese beugte sich Hitler während des Vortrages, um die Angaben genauer verfolgen zu können. Stauffenberg hielt sich nur kurz auf, und verließ den Raum, um, wie er sagte, ein dringendes Telefongespräch zu reklamieren. Seine Mappe ließ er, nahe dem Platze Hitlers, an einen Stuhl gelehnt zurück. Von hier trug sie ein Offizier - unbeabsichtigt - auf die Hitler abgewandte Seite des großen Kartentisches. Um 12 Uhr 42, 12 Minuten später also, explodierte die Bombe an dieser Stelle. Aus dem völlig verwüsteten Raum erschien Hitler, von Keitel gestützt, ohne irgendwelche schweren Verletzungen in der Tür.

In Hitlers Umgebung dachte man zuerst an die Einzeltat eines ehrgeizigen Offiziers, doch schon wenig später erkannte man die Ausmaße der „Revolte“, wie Himmler die Bewegung nannte. Nachdem Stauffenberg den Knall der Explosion vernommen hatte, war er fest davon überzeugt, dass die Bombe das ihr zugedachte Werk verrichtet habe. So schnell wie möglich kehrte er nach Berlin zurück, um dort die weitere Leitung des Staatsstreiches zu übernehmen. Doch hatte man in der Bendlerstraße, dem Hauptquartier der Widerstandsbewegung, aus Unsicherheit drei kostbare Stunden, von denen fast alles abhing, ungenutzt verstreichen lassen. Erst nach Stauffenbergs Rückkehr wurde das Stichwort „Walküre“ ausgegeben und damit der Plan in Gang gesetzt. Auch wenn Generaloberst Ludwig Beck als das „Gesetz des Tages und des Handelns“ für alle die Parole ausgab: „gleichgültig, was Gerüchte verbreiten, gleichgültig, was wahr sei, für ihn sei Hitler tot!“ so war doch schon zuviel Zeit verstrichen. Weder die Reichskanzlei, noch das Propagandaministerium waren besetzt. Da auch die Rundfunkstationen nicht mehr besetzt werden konnten, kündete der Deutschlandsender bereits eine Rede von Hitler an. Truppen marschierten in Richtung Berlin. Befehle von Himmler wurden in dem Durcheinander erkennbar. Stauffenberg aber erklärte, das seien alles Irreführungen. Hitler könne unmöglich noch leben. Die wachsende Spannung und Unruhe, die in der Bendlerstraße eintrat, aber auch die letzten Hoffnungen, die man noch hegte, wurden mit einem Schlage von ein paar hitlertreuen Offizieren vernichtet. Um 22 Uhr 50 nahmen sie nach einem kurzen Schusswechsel Stauffenberg, Beck und drei weitere Widerstandskämpfer gefangen. Kurz darauf wurden sie wegen Hochverrats durch ein „Standgericht“ zum Tode durch Erschießen verurteilt. Stauffenberg starb mit den Worten: „Es lebe unser heiliges Deutschland!“

Um ein Uhr hatte die SS das Gebäude in der Bendlerstraße besetzt und Hitler, Göring und Dönitz hielten im Rundfunk eine Rede.

Hitler erklärte in seiner Ansprache, dass es sich um eine „ganz kleine Clique gewissenloser Offiziere“ handle. Sehr schnell aber musste er einsehen, dass es sich nicht nur um eine „ganz kleine Clique gewissenloser Offiziere“ handelte, sondern um eine Widerstandsbewegung quer durch das ganze deutsche Volk. Er sah sich sogar gezwungen, eine „Sonderkommission 20. Juli“ einzusetzen, zu der 400 Beamte aufgeboten wurden. In kürzester Zeit wurden 7.000 Personen verhaftet. 4.980 wurden hingerichtet. Nach einer Rücksprache mit Himmler entschloss sich Hitler zu blitzschnellen, harten Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Als Gerichtspräsidenten ernannte er den ehemaligen Kommunisten Roland Freisler, der tierisch und brutal seine Pseudomacht ausnutzte.

Ein Stenograf, der den Verhandlungen beiwohnte, berichtete später: „Noch nie in der deutschen Reichsgeschichte sind Angeklagte mit einer derartigen Brutalität behandelt worden wie in diesen Prozessen. An den Armen wurden sie von zwei Gestapo-Beamten in den Gerichtssaal geführt. Spuren von Misshandlungen waren zum Teil noch sichtbar. Keinem der Angeklagten war es gestattet, sich über die Motive der Tat zu äußern. Alle mussten es sich gefallen lassen, von Freisler als Lumpen, Verräter und gemeine Mörder bezeichnet zu werden!“

Liebe Schülerinnen und Schüler!

Nur wenige Schritte von Euch, von Euren Sitzplätzen entfernt, gingen sie ihren letzten Gang. Das Attentat ist gescheitert. Ob der Versuch, ihr Leben einzusetzen, sinnvoll war, wird unsere Generation beweisen müssen. Wir müssen zu einer klaren Entscheidung finden; denn sie bestimmt unsere Zukunft. Wir müssen uns, glaube ich, mit dem Gewissenskonflikt, mit Worten wie Ehre, Tapferkeit, Pflichterfüllung ebenso auseinandersetzen wie mit den historischen Tatsachen. Hier ist der Ansatzpunkt, wo die Brücke zur Gegenwart geschlagen werden muss. Hier wollen unsere Toten ein beredtes Zeugnis für Heute, für Morgen ablegen.

Die Männer und Frauen des 20. Juli sahen im Widerstand ihre Aufgabe. Sie kämpften für Recht und Freiheit, Begriffe und Worte, die bei uns so selbstverständlich sind, dass sie kaum mehr als gleichgültiges Schulterzucken bewirken.

Die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes rufen uns an, nicht nur Denkmäler - zur Beruhigung des Gewissens - zu setzen, nicht nur jährliche Gedenkfeiern zu halten, sondern sie aus der Vergessenheit, aus dem Stumpfsinn und aus der Gleichgültigkeit unserer Tage zu holen und nach ihrem Beispiel weiterzuleben und weiterzuwirken.

Die Männer und Frauen des 20. Juli und die Abermillionen anderen Opfer des Hitler-Regimes, die für Recht und Freiheit starben, fordern uns, jederzeit bereit zu sein, unsere Freiheit zu verteidigen und unsere Demokratie nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen!