Es waren die Besten aus allen Schichten und Lagern

Fritz Sänger

Es waren die Besten aus allen Schichten und Lagern

Ansprache des Bundestagsabgeordneten Fritz Sänger am 19. Juli 1963 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Das Gedenken, zu dem wir hier heute versammelt sind, gilt allen, die nicht nur hier, sondern irgendwo in Deutschland und in der Welt der Gewaltherrschaft zum Opfer fielen, die von Usurpatoren im deutschen Namen ausgeübt wurde. Die fast unbegrenzte Weite des Geschehens zwingt Blick und Gedanken auf die Umwelt, auf die Vielfalt unserer Lebensbeziehungen und der Bedingungen, unter denen die Völker dieser Erde miteinander verbunden sind, auch in ihren Hoffnungen und in ihren Erwartungen. Es ist an der Zeit zu wissen, dass Leid uns leiten kann und leiten soll. Aus dem Widerstand jener Jahre, die nun auch zu Deutschlands Geschichte gehören, und aus den Opfern, die in dieser Zeit gefordert wurden, ist in Deutschland eine moralische Kraft erwachsen, die zu verwalten und geltend zu machen unsere Zuständigkeit, unsere Aufgabe und Verpflichtung ist.

Wir gedenken der Toten, wir ehren die Lebendigen, aber wir wirken für die, die nach uns das Geschick dieses Landes und unseres Volkes tragen und lenken werden. Für diese Jugend haben wir zu leben. Ihr wollen wir das Dunkel der Vergangenheit aufhellen und den Weg in eine schönere Zukunft bahnen, damit sie erfüllen kann, was uns das Leben zu erfüllen nicht vergönnt hat. Der Toten kann mit segnender Kraft nur der gedenken, der ihres Geistes war und der sich mit ihnen im Glauben und in der Überzeugung und im Willen eins weiß, unter gleichen Umständen Gleiches zu tun.

Es waren die Besten aus allen Schichten und Lagern, Konfessionen und Kreisen, Gruppen und Parteien. Ihnen gegenüber ist nicht Mitleid unsere Pflicht, sondern Verantwortung, die wir zu nehmen haben, um die Wiederholung zu verhüten, um rechtzeitig zu erkennen, auszusprechen und zu handeln, wann immer und wie immer Gefahr droht, wenn Unrecht geschieht, wenn Grundrecht missachtet wird, wenn eine Verfassung gebrochen wird oder gebrochen werden könnte. Das ist unsere Pflicht zuerst und vor allem anderen, denn wir wissen mehr als die Mitmenschen, denen das Opfer erspart wurde. Wir sind verpflichtet vor denen, an die wir zurückdenken, verpflichtet vor den Kindern, die sie ins Leben schickten, verpflichtet vor aller Welt, die in Frieden leben will und auf uns schaut, und wir sind verpflichtet vor unserem eigenen Volke. Solange noch einer von denen lebt, die mit ihnen waren, solange hat er eine Pflicht, die nur er erfüllen kann, ein Recht, das nur er wahrnehmen darf, für den Geist zu wirken, in dem sie handelten, andere belehren und aufzurufen für eine Welt, in der nie wieder Unrecht geschehen darf. Wir müssen auf diese kommende Welt schauen, wir müssen an sie glauben, dann ist die Frage überwunden, ob es einen Sinn gehabt hat, das, was geschehen ist, und ob die Opfer vertretbar waren, die gebracht wurden und die heraufbeschworen sind. Der Segen ihres Tuns ist nicht zu errechnen und niemand möge es je versuchen.

Damals wurde das erste und wichtigste Ziel nicht erreicht. Aber dass wir heute und immer wieder dieses Wollens dankbar und ehrfürchtig gedenken, dass von Jahr zu Jahr mehr Menschen in unserem Lande und in der Welt Sinn und Aufgabe dieses opferreichen Tuns erkennen und respektieren, dass vor allem die Jugend bei uns und jenseits unserer Grenzen begreift und weiß, wie nötig, wie gläubig, wie patriotisch, wie sittlich die Tat jener Frauen und Männer im Widerstand gegen das Verbrechen war, das bezeugt, dass der Segen jenes Tuns sehr viel reicher über unsere Zeit gebreitet ist, als sie damals zu hoffen wagten. Mit bitterer Enttäuschung nehmen wir zur Kenntnis, dass noch fast jeder vierte Deutsche, der kürzlich befragt wurde, den Widerstand gegen das Regime des Verbrechens als Landesverrat betrachtet hat. Wie gering ist bei diesen Menschen der Sinn für die Würde des Menschen, für seine Rechte und seine Pflichten zur Freiheit entwickelt, wie groß sind die Versäumnisse.

Dennoch, die Saat ist aufgegangen, so steinig der Boden war und so üppig das Unkraut wuchs. Deutschland sollte frei sein, freie Menschen sollten in ihm leben und glücklich sein, und in der Familie freier Völker sollte unser Vaterland ein nützliches und geachtetes Mitglied sein. Das war die Hoffnung und das war das eigentliche Ziel, das über den Tag hinaus durch die Tat angestrebt wurde. In einem Brief, den Dr. Julius Leber, einer von ihnen, am 4. September 1933 aus dem Untersuchungsgefängnis in Lübeck schrieb, fragte er nach dem Sinn des Lebens und nach dem Kern der Erwartungen, die ein Bürger in seinem Staate und gegenüber seinem Staat hegen kann und muss, und er fand die Antwort in einer Szene aus der französischen Geschichte. Er erinnerte in diesem Brief an diese und schrieb: „In dem Prozess gegen Zola appellierte der öffentliche Ankläger an die Pariser Geschworenen, aus nationalen Gründen und um des Vaterlandes willen Zola zu verurteilen. Dieser trat bei seiner Antwort langsam aus seiner Bank heraus, ging unter lautloser Stille des Saales auf den Ankläger zu und sagte ihm ruhig: „Es gibt kein Vaterland ohne Gerechtigkeit. Vaterland und Gerechtigkeit! Zwei Begriffe als ein einziger!” Das schrieb Leber 1933 und unverändert haben viele, ungezählte in Deutschland es mit ihm gedacht, gleich ihm erhofft und erwartet, nicht wenige es zu ertrotzen versucht. Wie viele Gespräche sind in diesem Sinne geführt worden, wie viele Pläne wurden geschmiedet, wie viele Aktionen wurden eingeleitet und in schlimmster Gefahr, manche glücklich, viele unglücklich, beendet. Sie zeugen von dem Widerstand, der in Deutschland so lebendig war wie die Idee der Freiheit unsterblich ist. Der Versuch, in Deutschland ein System des Rechts, der Gewaltlosigkeit, der persönlichen und staatsbürgerlichen Freiheit und der sozialen Wohlfahrt für alle aufzubauen, ist wenige Monate nach dem Staatsstreich begonnen worden, der mit dem Schutze von Volk und Staat unternommen wurde und an dem alle die mitschuldig sind, die ihn erdachten, die dann Gesetzestext und Judicatur formuliert und praktiziert haben. Die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Brief-, Post- und Telegrafengeheimnis, das Recht zur freien Information und Äußerung der Meinung, die Freiheit der Vereinigung und selbst der Schutz des persönlichen Eigentums, diese Grundrechte des freien Bürgers wurden damals mit einem Federstrich beseitigt. Die in den Widerstand gingen, wussten sehr bald, dass diese Rechte die wichtigsten sein würden, die wiederherzustellen und auszubreiten seien. Sie erdachten und planten, wie das geschehen könne. Sie dachten weit, sehr weit voraus.

Die Tat am 20. Juli 1944 war die Bestätigung und das überall sichtbare Zeichen des freien Willens, der in Deutschland lebendig war. Auch darin liegt der Sinn dieser Tat, dass sie den Willen und die Bereitschaft vieler Tausende bezeugte. Es wäre für Deutschland und für das Schicksal unseres Volkes ein großes Glück gewesen, wenn es gelungen wäre, das Tor zur freien Welt selbst zu öffnen. Aber der Kelch musste bis zum letzten Tropfen geleert werden. Freilich, ohne das, was diese hier getan haben und Ungezählte mit ihnen, wäre alles noch schlimmer geworden, was nach dem Zusammenbruch über Deutschland kam. Sie haben uns legitimiert vor einer empörten, zweifelnden, tief erregten Welt draußen, und sie errichteten in den Trümmern, in den Seelen ihrer deutschen Mitmenschen die ersten leuchtenden Zeichen der Hoffnung und des Wissens, dass es ein besseres, wahrhaftigeres Deutschland gibt. Es war an uns, das wir diese Zeichen verstanden und sie weitertrugen. Es ist an uns, dass wir sie heute weitertragen. Möge jeder, der befehlen will, der Herr sein möchte und sein soll in unserem Lande, jederzeit wissen und erfahren, dass aus der Saat des Widerstandes Deutscher gegen die Willkür der Stolz der Bürger eines freien Landes erwachsen ist, die zu dienen und zu denken bereit und willens sind.

Ihr Mütter und Frauen, Kinder und Geschwister und Freunde und Helfer, so groß euer Verlust, so tief euer Schmerz je war und heute ist, diese Frucht des Geschehens, mit der in unserem Volke das Wissen um den Wert der Freiheit und des Rechtes gereift ist, muss und wird eine heilende Hilfe im Leid sein. Es ist eure Saat, euer Schmerz, die ein Volk zur Reife führen. Ihr bringt das Opfer als euren Ruhm, als ein Ehrenzeichen, gemünzt aus unvergänglichem Gedenken, in die Geschichte unseres Volkes ein.

Auch das war in Deutschlands dunkelster Zeit Wahrheit und Wirklichkeit.

Habt darum Vertrauen, ihr Völker, und gebt der jungen deutschen Generation den Raum, die aus dem Willen und aus dem Tun der Väter begriffen hat, dass sie ihren Weg in eine bessere Welt des Friedens, des Rechts und der Gerechtigkeit führt. So zu denken, das ist der Geist und das Vermächtnis des Widerstandes.

Am 17. Juni dieses Jahres hielt ein Schüler der Gelehrtenschule in Ratzeburg vor seinen Mitschülern eine Ansprache. Er schloss mit einem Zitat. Ich möchte es aufnehmen. Dieses von einem jungen Menschen in Deutschland gläubig ergriffene Wort des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, denen wir die Chance zu einem freiheitlichen Leben zu danken haben. Es heißt: „Mit einem guten Gewissen als unserer einzigen sicheren Belohnung, mit der Geschichte als dem letzten Richter unserer Tage, wollen wir vorwärts schreiten, um das Land, das wir lieben, zu führen. Wir wollen Gottes Segen und seine Hilfe anrufen, aber in dem Bewusstsein handeln, dass Gottes Werk auf Erden wahrhaftig unser eigenes Werk sein muss.”