Europäische Menschlichkeit in den Jahren der Unmenschlichkeit

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Freya Gräfin von Moltke

Europäische Menschlichkeit in den Jahren der Unmenschlichkeit

Festvortrag von Freya Gräfin von Moltke am 19. Juli 2004 in der St. Matthäus-Kirche, Berlin

Verehrte Anwesende, liebe Angehörige des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus,

am 20. Juli 1944 misslang Stauffenbergs Attentat auf Hitler und damit der Staatsstreich gegen die NS-Diktatur. Der 20. Juli 1944 ist der Tag, an dem für alle Deutschen und für die Welt zum ersten Mal deutlich sichtbar wurde, dass es in Deutschland Widerstand gegen den Nationalsozialismus gab. Wäre der Staatsstreich gelungen, hätte es Millionen Menschen das Leben erhalten.

Ja, es hat Widerstand gegeben. Aber zurückschauend erscheint er schwach. Er blieb erfolglos, und politisch verändert hat er nichts. Die Opfer, die er verlangte, scheinen vergeblich. Das Dritte Reich nahm im Namen der Deutschen seinen Menschenleben vernichtenden zerstörerischen Lauf bis zu seinem Zusammenbruch.

Nun sitze ich hier, 60 Jahre nach dem 20. Juli 1944, als eine Frau, die noch die Zeit des Widerstandes von innen miterlebt hat. Es leben heute nicht mehr viele aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Ich fühle Verantwortung. Was kann ich, was muss ich heute noch sagen? Es ist doch schon so lange her. Die Welt sieht ganz anders aus und hat neue Probleme. Aber ich weiß: Als Angehörige des deutschen Widerstandes muss ich auch heute wieder und noch einmal klar und deutlich sagen: Jede Form und jeder Akt von Widerstand gegen den Nationalsozialismus hat sich gelohnt. Nichts davon war vergeblich. Jede Handlung gegen das schreiende Unrecht der NS-Diktatur hat Bedeutung. Es hat sich gelohnt, weil der deutsche Widerstand europäische Menschlichkeit durch die Jahre der Unmenschlichkeit in Deutschland lebendig gehalten hat.

Mit diesem Satz möchte ich nicht nur die inzwischen bekannten, viel beschriebenen sowohl gelobten wie auch in vielem kritisierten verschiedenen Gruppen des Widerstands umfassen: den Staatsstreich vom 20. Juli 1944, die Weiße Rose, die Rote Kapelle, die Freiburger Gruppe, den Kreisauer Kreis, Widerstand in den Kirchen und bei den Soldaten, die Zeugen Jehovas. Ich will auch an den Widerstand von Einzelnen erinnern, wie zum Beispiel Johann Georg Elser, der im Münchener Bürgerbräukeller schon am 8. November 1939 ganz allein den Versuch gemacht hat, Hitler zu töten, um den großen Krieg zu vermeiden, und der dazu erstaunlich effektive Vorkehrungen getroffen hatte. Es hat auch ungezählte Einzelne gegeben, die nie bekannt geworden sind, die den Geboten und der Praxis von Gewalt, Rassenwahnsinn und Lüge entgegengetreten sind. Und ich möchte weiter gehen und behaupten: Es ist diese Menschlichkeit, die letzten Endes dem gesamten deutschen Widerstand zu Grunde liegt. Neben anderen Motiven und Inhalten, die die verschiedenen Gruppen des Widerstandes kennzeichnen, steht die Verteidigung dieser Menschlichkeit als Grundlage hinter dem gesamten deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus.

Was wir heute auf deutsch Menschlichkeit nennen, ist ein Maßstab, der langsam in der Geschichte Europas gewachsen ist. Europa, reich und wunderbar verschieden in seinen vielen Ländern, besitzt trotz seiner langen Geschichte innereuropäischer Kriege und Kämpfe ein gemeinsames Fundament der Menschlichkeit. Wenn auch in den einzelnen Ländern und Sprachen das entsprechende Wort und die entsprechende Vorstellung einen von der eigenen Geschichte dieses Landes geprägten besonderen Klang haben mag.

Der Inhalt dieses Maßstabs Menschlichkeit hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert. Und damit hat auch Europa sich immer wieder verändert. Das Christentum hat den Prozess in Gang gesetzt, aber dieses Fundament hat auch starke, rein säkulare Elemente in seiner Geschichte. Ich möchte da nur die Früchte der Französischen Revolution von 1789 nennen und die große Lehre der Solidarität, die der Sozialismus, was man sonst von ihm halten mag, in die europäische Welt gestiftet hat. Zu dem, was Menschlichkeit heute bedeutet, ist es gekommen, weil ihr Inhalt sich in den Anforderungen neuer Zeiten immer weiter gewandelt, verändert und erweitert hat. Es ist das Wesen dieser Menschlichkeit, dass sie sich selber treu bleibt, indem sie sich verändert. So war es in der Vergangenheit. So ist es in der Gegenwart und so muss es auch bleibe. Sonst kann man den Glauben an die Zukunft aufgeben. Immer muss diese Menschlichkeit gegen den Ansturm ihrer Feinde verteidigt und den Anforderungen einer neuen Zeit entsprechend erweitert werden. Diese Menschlichkeit hat viele Gesichter, und es gehört dazu auch, gegen erkanntes Unrecht zu stehen und sich reagierend dagegen aufzulehnen.

Der Nationalsozialismus war von vornherein und ganz bewusst darauf aus, dieses gewachsene Fundament europäischer Menschlichkeit in Deutschland zu zerstören und an dessen Stelle imperialistischen Rassenwahn zu setzen. Der deutsche Widerstand hat sich dem widersetzt und hat versucht, in seinen Handlungen das Fundament unserer Menschlichkeit zu erhalten. Es war die gemeinsame Gewissheit, sich in dieser Richtung einzusetzen, die den Charakter unserer Gruppe, den „Kreisauer Kreis“, so positiv machte. Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, dann erscheint sie mir, wie wir sie damals gelebt haben, durchaus nicht düster. Trotz der schweren Last der damaligen Zeitläufte, die auf allen Beteiligten lag, war es doch auch eine Zeit von neuen Freundschaften, von gegenseitigem Vertrauen und einer intensiven, selbstvergessenen Tätigkeit, wie es Clarita von Trott in einem Brief an mich so treffend ausgesprochen hat. Die Beschäftigung mit der Zukunft Deutschlands nach dem Fall des Dritten Reichs, sei es durch Staatsstreich von innen oder durch den Sieg der Alliierten Mächte von außen, gab allen Beteiligten neuen Aufschwung. Es war ja politisch eine heterogene Gruppe und wollte das auch sein. Die Teilnehmer suchten Kompromisse, wie es die Demokratie verlangt. Aber darin waren sie alle einig: der Einsatz lohnte sich, sowohl sein Inhalt wie sein Risiko. Und – das möchte ich hier auch sagen – beides trugen auch ihre Frauen bewusst mit, ob sie nun an der eigentlichen Tätigkeit der Gruppe beteiligt waren oder nicht. Mit ihren Frauen hatten die Männer Glück, aber auch die Frauen mit ihren Männern! Die Frauen sind auch nach dem Tod ihrer Männer in ihrem langen weiteren Leben dem damaligen Einsatz – jede auf ihre Art – treu und untereinander befreundet geblieben.

Mit ihrer Verteidigung europäischer Menschlichkeit hat der deutsche Widerstand einen entscheidenden Beitrag zur geschichtlichen Kontinuität geleistet. Er hat die Brücke gebaut, über die die Deutschen nach dem Fall der NS-Diktatur langsam sich selbst und den Anschluss an Europa wieder finden konnten. Diese Kontinuität ist ein kostbarer Besitz. Sie ist Frucht gemeinsamer europäischer Geschichte. Dank ihrer werden für uns Deutsche die Zeiten über die Nazizeit hinweg verbunden und wird die Zukunft gestiftet.

Aber um in die Zukunft wirken zu können, bedarf es des Erinnerns und des Weitersagens. Das ist eine wichtige soziale Funktion. Viel liegt da bei Eltern und Großeltern, in den Familien. Es geschieht aber auch in den Schulen und durch öffentliches Gedenken. Dann kommen die Historiker. Sie sind die Handwerker des Gedenkens. Die Historiker und die historisch Interessierten vermögen durch Wieder-Hervorholen des Vergangenen in Lesern, Lehrern und Beschauern neue Gegenwart und damit dem Vergangenen neuen Einfluss auf die Zukunft zu erwirken. Auch der kritische Blick ist dazu sehr notwendig und Kontroversen sind nützlich. Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus hat eine ganze Reihe von gewichtigen Historikern gefunden, die sich mit ihm befasst haben. Und das hat seinen hilfreichen Einfluss nicht verfehlt.

Ein praktisches Beispiel führt wieder in mein eigenes Leben. Im heute polnischen Schlesien hat der Historiker und Jurist Karol Jonca, der an der Universität von Wroclaw/Breslau lehrt, schon vor der großen Freiheitswende im Osten durch Reden und Veröffentlichungen energisch und erfolgreich auf den deutschen Widerstand und auf Kreisau/Krzyzowa als Ort und Namensgeber für deutschen Widerstand hingewiesen. Es entstand ein neues Projekt in Kreisau als Frucht des deutschen Widerstands. Es ist nicht nur als ein Produkt von Regierungspolitik zustande gekommen. Es ist zunächst nur Bürgerinitiative gewesen. Einige Polen, einige Deutsche aus Ost und West, ein Holländer und ein Amerikaner, die sich alle dem Widerstand des „Kreisauer Kreises“ verbunden fühlten, gründeten die „Stiftung Kreisau für europäische Verständigung“. Um einen Ort der Begegnung zwischen Ost und West auf dem Boden von Widerstand gegen die Diktaturen zu schaffen, erwarben sie gleich nach der Wende den Gutskomplex in Kreisau von dem dortigen polnischen Staatsgut. Erst danach benutzten auch die beiden Regierungschefs die Geschichte des Widerstands in Kreisau, um eine bessere Zukunft der Beziehungen zwischen den beiden Ländern auf dem Gutshof in Kreisau feierlich zu besiegeln. Darum flossen dann die Mittel zum großzügigen Wiederaufbau. Jetzt hat Kreisau Platz für 120 junge Menschen, hat ein bequemes Gästehaus für 40 Personen, das zu Tagungen und Seminaren einlädt, hat im früheren großen, für Kühe viel zu schönen, von Säulen getragenen Kuhstall einen Ess-Saal, hat vor allem die Hilfe junger, tüchtiger involvierter pädagogischer Leiter, hat ein gutes Programm. Kreisau lebt.

Die Stiftung Kreisau für europäische Verständigung zeigt in Kreisau eine Ausstellung mit Bildern und Aussagen aus den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Sie ist von Polen und Deutschen gemeinsam geschaffen worden. Sie zeigt polnischen, tschechischen, ukrainischen, lettischen, russischen Widerstand zusammen mit deutschem Widerstand. Diese Bewegungen entstanden zu verschiedenen Zeiten und hatten auch verschiedenen Inhalt. Hat es Sinn, sie nebeneinander zu zeigen? Die Kreisauer Stiftung bejaht das mit Recht. Die Bewegungen sind verwandt. Und zwar sind sie verwandt, weil eben sie alle sich schließlich auf das menschliche Element, den menschlichen Impuls, die Verteidigung der Menschlichkeit zurückführen lassen. Wir hoffen, dass das noch vielen jungen Menschen, die aus verschiedenen Ländern nach Kreisau kommen, Eindruck machen wird.

Um der Zukunft zu dienen, habe ich hier von der Vergangenheit erzählt. Die Anforderungen in einer explosiven Welt sind heute andere, aber sie sind nicht geringer. Ich habe das Vertrauen und die Erwartung, dass in den kommenden Generationen die Menschlichkeit sich neuen Aufgaben öffnend weiter aktiv bleiben wird. Vielen Dank.