Fragen an den 20. Juli heute
Axel Freiherr von dem Bussche
Fragen an den 20. Juli heute
Gedenkansprache von Axel Freiherr von dem Bussche am 20. Juli 1977 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin
Wir sind hier, um in Verehrung und Treue, Freundschaft und Liebe an Angehörige und Freunde zu denken. Was wir empfinden, gilt besonders den Verwandten. Was wir sagen, richtet sich in erster Linie an die Jüngeren, die ihre Väter kaum gekannt haben. Ruhm ist nach einer französischen Redensart die Summe der Missverständnisse, die sich mit der Zeit um Menschen ranken.
Sieht man die Toten dieses Tages und der Folgemonate vor 33 Jahren heute als Helden, Märtyrer oder Opfer? So die Frage einer ernsthaften Studie aus dem Jahr 1975. Ein nachdenklicher Angelsachse beantwortet die Frage, was ein Held sei, mit folgenden Worten:
„Wir bezeichnen im Allgemeinen jene als Helden, die sich in kleiner Minderheit unmittelbar veranlasst und gezwungen fühlen, das zu tun, was die große Mehrheit für das logisch Erforderliche hält, ohne es indessen selbst zu tun.“
Demgegenüber kann man nicht ernsthaft daran zweifeln, dass sich die Toten des 20. Juli 1944 und der nächsten Monate nicht als Helden gesehen haben. Vermutlich hätten einige eingeräumt, sie kämpften an einer „Dritten Front“, sofern man kriegerische Handlungen im Osten als erste und die im Westen und Süden als zweite Front bezeichnete.
Wahrscheinlich hätten sie unter anderen den großartigen Einzelgänger Kurt Gerstein als unverdrossen und beispielhaften Märtyrer gekennzeichnet. Doch gibt es keinen Beweis, dass man ihn kannte. Die Opfer jener zwölf Jahre indessen waren alle diejenigen, denen das Leben gewaltsam genommen wurde: in Lagern aller Art, unter deutschen und fremden Bomben, auf den Schauplätzen des Krieges in aller Welt – wo und wie immer sie der Tod traf.
Bei aller Verschiedenheit des Denkens und der politischen Zielsetzung schuf gerade der Gedanke an die Hekatomben von unschuldigen oder irregeleiteten Opfern den kristallisierenden Impuls und damit das Leitmotiv zur gemeinschaftlichen Handlung, zum Aufstand und Staatsstreich. Ohne die Kriminalität des Dritten Reiches wären sie nicht zusammengekommen.
Es wäre in diesem Zusammenhang wichtig zu wissen, ob und welchen Unternehmungen mit vergleichbarer Zielsetzung in den 55 Ländern der Welt, die zwischen 1945 und 1967 in insgesamt 105 Aufständen und „Coups“ gipfelten, vergleichbare oder gar identische Kernmotive zugrunde gelegen haben.
Im Dritten Reich konnte ebenso wie heute ein jeder seine Pflichten und Rechte mit minimaler Anstrengung und Reflektion aus dem § 227 des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches und dem analogen Paragraphen des damaligen Militärstrafgesetzbuches ableiten:
„Notwehr ist diejenige Verteidigung, welche erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.“
In mindestens einem Regiment des deutschen Heeres zwischen 1933 und 1945 wurden die Rekruten, bevor sie außerhalb der Kaserne Waffen tragen durften, gründlich über das Maß des Erforderlichen und der Gegenwärtigkeit, aber auch eindringlich über den Notwehrexzess unterrichtet. Sie mussten den Paragraphen auswendig lernen. Aus diesem Regiment sind in jenen zwölf Jahren mehr Soldaten hervorgegangen, die vor 1945 hingerichtet wurden, als aus irgend einer anderen Einheit.
Für den Wissenden war die Norm des Gesetzes durch die andauernd widerrechtlich Angegriffenen und die gegenwärtig vernichteten Leben millionenfach erfüllt.
Bürgerliche Neugier und Sorge um die eigene und die deutsche Integrität hätte viele mehr zum „Widerstand“ „motivieren“ müssen – zwei Begriffe, die es damals bei uns noch nicht gab.
Es ist unmöglich, heute und hier nicht darüber traurig zu sein, dass der Versuch, der vor 33 Jahren scheiterte, nicht nur zu spät und mit unzureichenden Mitteln unternommen wurde, sondern dass er von so wenigen getragen werden musste.
Dafür gibt es plausible Erklärungen.
Viele, vielleicht die Besten von denen, die um die Motivation derer, an die wir hier denken, wussten und die sich dann versagten, werden sich selbst die Unterlassung einer bürgerlichen Pflicht nicht vergeben können. Sie mögen sich damals in erhaltenden Philosophien, die wohl von Plato bis Hegel reichen, im dreifachen Wortsinn des Letzteren „aufgehoben“ und geborgen gefühlt haben: unbeteiligt, nicht engagiert, würde man heute sagen.
Der Satz des englischen Dichters, nach dem „auch jene dienen, die nur beiseite stehen und warten“ kann sie nicht von der Scham frei machen.
Heute wissen wir alle, wie tief der Sumpf war, in den man geraten war. Und wer Augen hat zu sehen, erkennt, dass wir weltweit aus dem ruhigen, ja behäbigen Strom gesicherter Überlieferungen in ein überhitztes Delta eingetreten sind, in dem weniger der Verstand des Menschen als sein fest verankertes Gleichgewicht den richtigen Weg finden kann.
Es ist für Sie, die Jüngeren, im wohlverstandenen Eigeninteresse, absolut und im politischen Sinne lebensnotwendig, in diesen Knäuel verklemmter Verzerrungen das Licht klarer Proportionen und Dimensionen zu bringen. Eine Entfremdung der Deutschen von ihren Nachbarn guten Willens, weil man sich und seine Geschichte nicht auch in ihrem Licht sehen kann, könnte sehr wohl der Anfang von politischen Fehlleistungen sein, die dann in Krisen überraschend zu Rissen im Gewebe führen, die nicht reparabel sind.
Wohltuende Ansätze Einzelner liegen schon vor, so zum Beispiel die selbständig eingeleitete Aktion von Dieter Bossmann.
Hier ist Gefahr im Verzuge, die Sie Jüngeren, wahrscheinlich nur Sie, abwenden können, wenngleich Sie – eine nicht mehr unmittelbar belastete Generation – sich der empirischen Feststellung bewusst sein müssen, dass „die Missetaten der Väter noch die dritte und vierte Generation heimsuchen“. Diese Erkenntnis findet im Denken anderer Kulturkreise ihre Bestätigung – in der Doktrin von Karma, die sagt, dass jede Tat ihren Lohn verdient und erhält.
Und weiter: Von André Francois-Poncet, der später den Platz von Marschall Pétain in der Académie Francaise einnahm, stammt die Formel, das Dritte Reich sei der Sieg der Boche über den Deutschen.
Nur eine „Poncetisme“, ein Aphorismus, eine Lehrformel? Man wird sich erinnern müssen, dass es geballter Kräfte aus allen Himmelsrichtungen bedurfte, um den Sieg zurückzugewinnen. So gesehen wird hier in der Bendlerstraße und draußen in Plötzensee der „Sieg des Boche über den Deutschen“ in einer besonders fatalen Weise deutlich. Man erinnere sich nur an den letzten Aufschrei von Claus Stauffenberg an eben dieser Stelle.
Mahnmale dieser Art liegen, bei aller Verschiedenheit doch ähnlich, über ganz Europa verstreut. Auch ihre abschreckende Warnung gibt die Sicherheit, dass es zu mörderisch-selbstmörderischen Ausbrüchen nicht mehr kommen kann, wenn denn bei uns und anderswo immer wieder nach besonderen Sicherungen gerufen wird. Alle diese Orte der Erinnerung wachsen – wo immer sie stehen mögen – allmählich über ihren Ursprung hinaus. Sie werden zu Symbolen gegen Diktatur und Fremdherrschaft schlechthin. Wir und andere können aber diesen sichernden Strahlungen nur solange vertrauen, wie wir unsere Gesellschaft „offen halten“ können.
Aber erinnern wir Älteren uns noch: Nach 1933 benötigte eine primitivere und im Denkansatz inhumanere Ideologie als die, der wir uns jetzt in ihrer vollen Spätblüte gegenübersehen, gebündelt unter einem Mann und mit den damaligen Mitteln aufgepfropft, kaum sechs Jahre einer „geschlossenen Gesellschaft“, um sich unserer in verschiedener Weise für kurz oder lang dienstbar zu machen. Wie lange würde eine intelligentere und ausgereiftere Abrichtung heute benötigen? Trotz leicht verwehbaren Wohlstandes – oder auch wegen desselben?
Wenn dies, vorsätzlich geplant und dann fahrlässig zugelassen, geschehen sollte, könnten die Prophezeiungen Goethes zur deutschen Zukunft, von Thomas Mann in sein siebentes Kapitel der „Lotte in Weimar“ mit leichter Hand eingestreut, eines Tages Wahrheit werden.
Es scheint zweifelhaft, ob wachsende Lautstärke und sinkender Stil unseres öffentlichen Lebens, vom menschlichen und intellektuellen Niveau zu schweigen, die jetzt Heranwachsenden mit besonderem Enthusiasmus für die offene Gesellschaft erfüllen.
Und es ist einfach nicht wahr, dass manche der bedenklichen Formen, die wir zunehmend über uns ergehen lassen müssen, Ausdruck der Erwartungen und des Temperaments der Mehrheit der deutschen Wähler wäre. Hier müssen Sie, die Jüngeren, wo immer sich Gelegenheit bietet, laut und anscheinend taktlos den Anfängen wehren, die schon längst keine mehr sind. Sonst sinken wir im Schatten sogenannter säkularer Menschen oder wie immer ihre Bezeichnung heißt, in die Friedhofsstille, die zunächst erholend scheint, bis der Friedhof, uns alle „erfassend“, geschlossen wird.
Bleiben Sie innerlich frei, um mit „offenen Augen ein vorausschauendes Leben zu führen und sich dabei nur den wesentlichen Fragen zu stellen – um herauszufinden, ob sich nicht lernen lässt, was das Leben zu lehren hat. Man will nicht, wenn es ans Sterben geht, feststellen, dass man gar nicht gelebt hat.“
Die, an die wir heute denken, besaßen die Kraft zu sehen und den Willen zu handeln, nachdem sie erkannt hatten, was Recht war. Sie waren bereit zu sterben. Durch ihren Tod haben sie uns allen geholfen, uns selbst wieder zu finden und anderen wieder ins Auge sehen zu können.
Dafür gebührt ihnen der Dank aller Deutschen, unter welchen Umständen immer sie im Osten oder Westen zu leben haben oder leben dürfen.
Fragen an den 20. Juli heute
Gedenkansprache von Axel Freiherr von dem Bussche am 20. Juli 1977 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin
Wir sind hier, um in Verehrung und Treue, Freundschaft und Liebe an Angehörige und Freunde zu denken. Was wir empfinden, gilt besonders den Verwandten. Was wir sagen, richtet sich in erster Linie an die Jüngeren, die ihre Väter kaum gekannt haben. Ruhm ist nach einer französischen Redensart die Summe der Missverständnisse, die sich mit der Zeit um Menschen ranken.
Sieht man die Toten dieses Tages und der Folgemonate vor 33 Jahren heute als Helden, Märtyrer oder Opfer? So die Frage einer ernsthaften Studie aus dem Jahr 1975. Ein nachdenklicher Angelsachse beantwortet die Frage, was ein Held sei, mit folgenden Worten:
„Wir bezeichnen im Allgemeinen jene als Helden, die sich in kleiner Minderheit unmittelbar veranlasst und gezwungen fühlen, das zu tun, was die große Mehrheit für das logisch Erforderliche hält, ohne es indessen selbst zu tun.“
Demgegenüber kann man nicht ernsthaft daran zweifeln, dass sich die Toten des 20. Juli 1944 und der nächsten Monate nicht als Helden gesehen haben. Vermutlich hätten einige eingeräumt, sie kämpften an einer „Dritten Front“, sofern man kriegerische Handlungen im Osten als erste und die im Westen und Süden als zweite Front bezeichnete.
Wahrscheinlich hätten sie unter anderen den großartigen Einzelgänger Kurt Gerstein als unverdrossen und beispielhaften Märtyrer gekennzeichnet. Doch gibt es keinen Beweis, dass man ihn kannte. Die Opfer jener zwölf Jahre indessen waren alle diejenigen, denen das Leben gewaltsam genommen wurde: in Lagern aller Art, unter deutschen und fremden Bomben, auf den Schauplätzen des Krieges in aller Welt – wo und wie immer sie der Tod traf.
Bei aller Verschiedenheit des Denkens und der politischen Zielsetzung schuf gerade der Gedanke an die Hekatomben von unschuldigen oder irregeleiteten Opfern den kristallisierenden Impuls und damit das Leitmotiv zur gemeinschaftlichen Handlung, zum Aufstand und Staatsstreich. Ohne die Kriminalität des Dritten Reiches wären sie nicht zusammengekommen.
Es wäre in diesem Zusammenhang wichtig zu wissen, ob und welchen Unternehmungen mit vergleichbarer Zielsetzung in den 55 Ländern der Welt, die zwischen 1945 und 1967 in insgesamt 105 Aufständen und „Coups“ gipfelten, vergleichbare oder gar identische Kernmotive zugrunde gelegen haben.
Im Dritten Reich konnte ebenso wie heute ein jeder seine Pflichten und Rechte mit minimaler Anstrengung und Reflektion aus dem § 227 des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches und dem analogen Paragraphen des damaligen Militärstrafgesetzbuches ableiten:
„Notwehr ist diejenige Verteidigung, welche erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.“
In mindestens einem Regiment des deutschen Heeres zwischen 1933 und 1945 wurden die Rekruten, bevor sie außerhalb der Kaserne Waffen tragen durften, gründlich über das Maß des Erforderlichen und der Gegenwärtigkeit, aber auch eindringlich über den Notwehrexzess unterrichtet. Sie mussten den Paragraphen auswendig lernen. Aus diesem Regiment sind in jenen zwölf Jahren mehr Soldaten hervorgegangen, die vor 1945 hingerichtet wurden, als aus irgend einer anderen Einheit.
Für den Wissenden war die Norm des Gesetzes durch die andauernd widerrechtlich Angegriffenen und die gegenwärtig vernichteten Leben millionenfach erfüllt.
Bürgerliche Neugier und Sorge um die eigene und die deutsche Integrität hätte viele mehr zum „Widerstand“ „motivieren“ müssen – zwei Begriffe, die es damals bei uns noch nicht gab.
Es ist unmöglich, heute und hier nicht darüber traurig zu sein, dass der Versuch, der vor 33 Jahren scheiterte, nicht nur zu spät und mit unzureichenden Mitteln unternommen wurde, sondern dass er von so wenigen getragen werden musste.
Dafür gibt es plausible Erklärungen.
Viele, vielleicht die Besten von denen, die um die Motivation derer, an die wir hier denken, wussten und die sich dann versagten, werden sich selbst die Unterlassung einer bürgerlichen Pflicht nicht vergeben können. Sie mögen sich damals in erhaltenden Philosophien, die wohl von Plato bis Hegel reichen, im dreifachen Wortsinn des Letzteren „aufgehoben“ und geborgen gefühlt haben: unbeteiligt, nicht engagiert, würde man heute sagen.
Der Satz des englischen Dichters, nach dem „auch jene dienen, die nur beiseite stehen und warten“ kann sie nicht von der Scham frei machen.
Heute wissen wir alle, wie tief der Sumpf war, in den man geraten war. Und wer Augen hat zu sehen, erkennt, dass wir weltweit aus dem ruhigen, ja behäbigen Strom gesicherter Überlieferungen in ein überhitztes Delta eingetreten sind, in dem weniger der Verstand des Menschen als sein fest verankertes Gleichgewicht den richtigen Weg finden kann.
Es ist für Sie, die Jüngeren, im wohlverstandenen Eigeninteresse, absolut und im politischen Sinne lebensnotwendig, in diesen Knäuel verklemmter Verzerrungen das Licht klarer Proportionen und Dimensionen zu bringen. Eine Entfremdung der Deutschen von ihren Nachbarn guten Willens, weil man sich und seine Geschichte nicht auch in ihrem Licht sehen kann, könnte sehr wohl der Anfang von politischen Fehlleistungen sein, die dann in Krisen überraschend zu Rissen im Gewebe führen, die nicht reparabel sind.
Wohltuende Ansätze Einzelner liegen schon vor, so zum Beispiel die selbständig eingeleitete Aktion von Dieter Bossmann.
Hier ist Gefahr im Verzuge, die Sie Jüngeren, wahrscheinlich nur Sie, abwenden können, wenngleich Sie – eine nicht mehr unmittelbar belastete Generation – sich der empirischen Feststellung bewusst sein müssen, dass „die Missetaten der Väter noch die dritte und vierte Generation heimsuchen“. Diese Erkenntnis findet im Denken anderer Kulturkreise ihre Bestätigung – in der Doktrin von Karma, die sagt, dass jede Tat ihren Lohn verdient und erhält.
Und weiter: Von André Francois-Poncet, der später den Platz von Marschall Pétain in der Académie Francaise einnahm, stammt die Formel, das Dritte Reich sei der Sieg der Boche über den Deutschen.
Nur eine „Poncetisme“, ein Aphorismus, eine Lehrformel? Man wird sich erinnern müssen, dass es geballter Kräfte aus allen Himmelsrichtungen bedurfte, um den Sieg zurückzugewinnen. So gesehen wird hier in der Bendlerstraße und draußen in Plötzensee der „Sieg des Boche über den Deutschen“ in einer besonders fatalen Weise deutlich. Man erinnere sich nur an den letzten Aufschrei von Claus Stauffenberg an eben dieser Stelle.
Mahnmale dieser Art liegen, bei aller Verschiedenheit doch ähnlich, über ganz Europa verstreut. Auch ihre abschreckende Warnung gibt die Sicherheit, dass es zu mörderisch-selbstmörderischen Ausbrüchen nicht mehr kommen kann, wenn denn bei uns und anderswo immer wieder nach besonderen Sicherungen gerufen wird. Alle diese Orte der Erinnerung wachsen – wo immer sie stehen mögen – allmählich über ihren Ursprung hinaus. Sie werden zu Symbolen gegen Diktatur und Fremdherrschaft schlechthin. Wir und andere können aber diesen sichernden Strahlungen nur solange vertrauen, wie wir unsere Gesellschaft „offen halten“ können.
Aber erinnern wir Älteren uns noch: Nach 1933 benötigte eine primitivere und im Denkansatz inhumanere Ideologie als die, der wir uns jetzt in ihrer vollen Spätblüte gegenübersehen, gebündelt unter einem Mann und mit den damaligen Mitteln aufgepfropft, kaum sechs Jahre einer „geschlossenen Gesellschaft“, um sich unserer in verschiedener Weise für kurz oder lang dienstbar zu machen. Wie lange würde eine intelligentere und ausgereiftere Abrichtung heute benötigen? Trotz leicht verwehbaren Wohlstandes – oder auch wegen desselben?
Wenn dies, vorsätzlich geplant und dann fahrlässig zugelassen, geschehen sollte, könnten die Prophezeiungen Goethes zur deutschen Zukunft, von Thomas Mann in sein siebentes Kapitel der „Lotte in Weimar“ mit leichter Hand eingestreut, eines Tages Wahrheit werden.
Es scheint zweifelhaft, ob wachsende Lautstärke und sinkender Stil unseres öffentlichen Lebens, vom menschlichen und intellektuellen Niveau zu schweigen, die jetzt Heranwachsenden mit besonderem Enthusiasmus für die offene Gesellschaft erfüllen.
Und es ist einfach nicht wahr, dass manche der bedenklichen Formen, die wir zunehmend über uns ergehen lassen müssen, Ausdruck der Erwartungen und des Temperaments der Mehrheit der deutschen Wähler wäre. Hier müssen Sie, die Jüngeren, wo immer sich Gelegenheit bietet, laut und anscheinend taktlos den Anfängen wehren, die schon längst keine mehr sind. Sonst sinken wir im Schatten sogenannter säkularer Menschen oder wie immer ihre Bezeichnung heißt, in die Friedhofsstille, die zunächst erholend scheint, bis der Friedhof, uns alle „erfassend“, geschlossen wird.
Bleiben Sie innerlich frei, um mit „offenen Augen ein vorausschauendes Leben zu führen und sich dabei nur den wesentlichen Fragen zu stellen – um herauszufinden, ob sich nicht lernen lässt, was das Leben zu lehren hat. Man will nicht, wenn es ans Sterben geht, feststellen, dass man gar nicht gelebt hat.“
Die, an die wir heute denken, besaßen die Kraft zu sehen und den Willen zu handeln, nachdem sie erkannt hatten, was Recht war. Sie waren bereit zu sterben. Durch ihren Tod haben sie uns allen geholfen, uns selbst wieder zu finden und anderen wieder ins Auge sehen zu können.
Dafür gebührt ihnen der Dank aller Deutschen, unter welchen Umständen immer sie im Osten oder Westen zu leben haben oder leben dürfen.