Freiheit und Menschenwürde

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Heinrich Windelen

Freiheit und Menschenwürde

Ansprache des Bundesministers für Innerdeutsche Beziehungen Heinrich Windelen am 20. Juli 1983 in der Stadthalle Bonn-Bad Godesberg

Der Zentralverband demokratischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen verdient unseren Respekt nicht zuletzt deshalb, weil er beharrlich an die historische Wahrheit vom Widerstand in diesem Volk gegen jenes schreckliche Regime mahnt, das vor 50 Jahren an die Macht gelangte und innerhalb von 12 Jahren die politische und menschliche Gesittung eines Jahrtausends der deutschen Nation in die Katastrophe führte.

Ihre Veranstaltung hat eine lange Tradition. Es könnte leicht der Gedanke aufkommen, über den Widerstand in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sei nun eigentlich alles Wesentliche gesagt. Tatsächlich ist der Widerstand gegen Hitler in seinen Gestalten, Motiven und Zielsetzungen so klar umrissen, dass hierzu kaum Neues zu sagen ist.

Aber der Sinn dieser alljährlichen Gedenkveranstaltung ist es ja, den Maßstab des Widerstandes, nicht zuletzt den der Frauen und Männer des 20. Juli 1944, an das aktuelle politische Geschehen anzulegen.

Wir fragen: Was hat jene politische Wertordnung, nach der diese Männer und Frauen handelten und die sie mit ihrem Tode besiegelten, uns zu den heute drängenden Fragen zu sagen?

Wer in der Not der politischen Entscheidungen steht, ist dem Geschick dankbar, dass wir uns im Zweifel an den Zielsetzungen, an der Wertordnung jener Männer und Frauen orientieren können.

Man hat das mangelnde Interesse an unserer Vergangenheit vielfach zu deuten versucht: Der Wiederaufbau aus Trümmern habe die ganze Energie unseres Volkes mit seiner Gegenwart so in Anspruch genommen, dass für die Vergangenheit kein Platz mehr gewesen sei. Die, die jene Zeit miterlebt haben, seien derart von den Schrecknissen oder von dem eigenen Versagen so berührt, dass man es vermieden habe, sich der Wahrheit jenes Jahrzwölfts zu stellen. Die Jugend habe entweder über die Vergangenheit nichts erfahren oder sie so schrecklich empfunden, dass sie sich von der Geschichte insgesamt abgewandt und solchen Ideen und Ideologien zugewandt habe, die den Wert des Lebens primär im so genannten Fortschritt und in der Gestaltbarkeit von Zukunft erkennen.

Man wird diesen Deutungen nicht jede Berechtigung absprechen können. Aber ebenso richtig ist, dass das Grundgesetz unseres Staates und seine Wirklichkeit ein unübersehbares Zeichen dafür sind, wie sehr die deutsche Geschichte, die ja länger ist als jenes Jahrzwölft, unsere Gegenwart prägt.

Die Prinzipien unseres Grundgesetzes atmen die Motive und Ziele des Widerstandes gegen die Hitlerdiktatur: Freiheit, Recht, Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit und Toleranz als die entscheidenden Werte einer staatlichen Ordnung.

Die Zeit des Nationalsozialismus hat uns nicht von der deutschen Geschichte getrennt, diese Zeit ist kein Niemandsland der deutschen Geschichte. Durch sie hindurch reichen die Verbindungslinien geistiger Strömungen, die nicht abgerissen sind.

Die Frauen und Männer des Widerstandes bürgen für diese Tradition von Werten, an der sich das Selbstbewusstsein unseres Volkes wieder aufzurichten beginnt. Sie haben für die Verlässlichkeit und Unverzichtbarkeit dieser Werte mit ihrem Leben gebürgt.

In diesen Jahren fragt vor allem die Jugend zunehmend nach unserer Geschichte, nach Nation und Vaterland. Sie fragt nach Deutschland. Sie empfindet es als Mangel, zu wenig über die Teilung unseres Landes und ihren Ursprung, zu wenig über die Zeit des so genannten „Dritten Reiches“ und die deutsche Geschichte überhaupt zu wissen.

Dies deckt sich mit der Beobachtung, dass in der letzten Zeit seriöse, meist wissenschaftlich fundierte Buchproduktionen mit Fragen der deutschen Identität, mit der deutschen Frage, mit den geschichtlichen Zusammenhängen im Werdegang unseres Volkes erscheinen.

Ob es nun der zeitliche Abstand zu 1945 ist, oder ob es die schwierigen Zeitverhältnisse im Innern wie in der Weltpolitik sind – die Fragen nach langfristiger Orientierung werden in unserem Volk unüberhörbar deutlicher. Als der für die Deutschlandpolitik besonders verantwortliche Minister dieser Bundesregierung empfinde ich darüber Genugtuung. Der 20. Juli 1944 ist das Datum, das für den Widerstand gegen die menschenverachtende Diktatur Hitlers insgesamt steht. Dies ist keine schöne Floskel, sondern entspricht genau dem, was wir über die Vorstellungen des Widerstandes wissen. Henning von Tresckow hat den Sinn und Zweck des Attentats auf Hitler ganz eindeutig vom möglichen Erfolg getrennt. Er schrieb: „... denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor aller Welt und Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat.“

Dies ist jener Geist, von dem Winston Churchill bekannte: „In Deutschland lebte eine Opposition ... die zu dem Edelstein und Größten gehört, was in der politischen Geschichte aller Völker je hervorgebracht wurde.“

Dieses ebenso großherzige wie berechtigte Urteil beschämt unser Volk, das sich durch diesen Führer verführen und durch diesen Verführer führen ließ. Aber unser Volk hat den Männern und Frauen des Widerstandes nicht nur Respekt gezollt, als das Nazi-Regime 1945 unter der Kriegsmacht der Gegner zerbrochen und die Chance für einen Neubeginn in Freiheit geboten war.

Es gibt ein Ereignis der Nachkriegsgeschichte, das dem 20. Juli 1944 entspricht und das bezeugt, dass die Deutschen gelernt haben und es ernst meinen, wenn sie sagen: Nie wieder Diktatur auf deutschem Boden. Ich meine den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, dessen wir in diesem Jahr zum 30. Mal gedacht haben. Die Demonstranten haben damals im Angesicht sowjetischer Panzer und Auge in Auge mit den bewaffneten Kräften des Regimes und der Roten Armee nach freien Wahlen und der Einheit Deutschlands verlangt: Freie Wahlen, wie in der Bundesrepublik Deutschland; Einheit Deutschlands in Freiheit, wie sie von den Sowjets und dem kommunistischen Regime vorenthalten wurde. Der Wille, der kommunistischen Diktatur ein Ende zu bereiten, war das bestimmende Motiv der Aufständischen. Jener Aufstand scheiterte, aber er war ebenso wenig vergeblich wie der des 20. Juli, wenn wir, die wir in Freiheit leben dürfen, am Geist dieser Frauen und Männer festhalten: Es geht um Freiheit und Menschenwürde, gegen totalitären Anspruch einer Diktatur.

Die Männer und Frauen des Widerstandes verstanden sich als Patrioten, indem sie Freiheit und Menschenwürde als oberste Werte in der Gemeinschaft des Volkes erstrebten. Hierin knüpften sie an alte Traditionen in Deutschland an, insbesondere an die nationale Freiheitsbewegung, die 1848 gescheitert, aber nicht untergegangen war.

Der Geist des Widerstandes widersprach dem Hegemonial-Anspruch Hitlers in Europa und erst recht dem gewissenlosen Angriffskrieg.

Wenn wir heute feststellen, dass unser nationales Empfinden gegenüber unseren Nachbarvölkern nicht das der Selbstbehauptung, sondern das der Zusammenarbeit, des gegenseitigen Respekts und der europäischen Einigung ist, so ist dies sicher eine Frucht des Geistes des Widerstandes, wie er sich am 20. Juli 1944 manifestiert hat.

Es wird verschiedentlich festgestellt, dass der Nationalsozialismus ein speziell deutsches Phänomen gewesen sei, ein unausweichliches Ergebnis der eigentümlichen Mischung geistiger Strömungen in der deutschen Geschichte. Und da, so wird weiter gefolgert, nur die militärische Macht der Kriegsgegner Hitlerdeutschlands, nicht aber der Widerstand der Deutschen selbst, diesem Zustand ein Ende bereitet haben, seien wir weiterhin besonders anfällig gegenüber der Gefahr von rechts.

Dies ist sicherlich mechanistisches, lebensfremdes und wohl auch wunschorientiertes Verständnis von deutscher Geschichte.

Ich kann mich hier mit dieser Auffassung nicht eingehend auseinandersetzen. Aber so viel muss im Hinblick auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus und im Hinblick auf unsere heutige Wirklichkeit gesagt werden:

Niemand kann leugnen, dass der überwiegende Teil des deutschen Volkes 1933 leichten Herzens von der Weimarer Republik Abschied nahm, die der erste große Versuch in der deutschen Geschichte war, die Idee der Nation mit der von Freiheit und Demokratie zu verbinden. Wir wissen, wie unglücklich die Startbedingungen der Republik von Weimar waren. Aber man würde die Einsicht und die Umkehr als wesentliche Verhaltensweisen aus dem Leben der Völker ausschließen, wenn man unser Volk ein für allemal nur nach dem Maßstab jener 12 Jahre beurteilen wollte. Ich möchte im Gegenteil sagen: Hitler und der Nationalsozialismus waren eine schlimme Verirrung deutscher Geschichte, ein Zerrbild dessen, was dieses Volk in 1 000 Jahren zuvor für Europa und die Welt bedeutet hatte. Und noch eines: Die Ergebnisse, die bei den freien Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland von den Extremen von links und rechts erzielt worden sind, sind ein Zeichen hoher Immunität gegen derlei Versuchungen.

Dass auch dies nicht nur Floskeln und Lippenbekenntnisse sind, das zeigt uns der Blick auf ein historisches Ereignis, das seinesgleichen sucht: 13 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge – nach aller Erfahrung nationalistischer und sozialer Sprengstoff – wurden friedlich integriert. Ihre Charta von 1950 ist ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass wir gelernt haben, dass der Frieden noch vor dem Nationalen rangiert. Zudem wird es inzwischen manchem klar, dass diese vom Kommunismus ihrer Heimat beraubten Menschen entscheidend zur Immunisierung unserer Gesellschaft gegen die Verlockung von links beigetragen haben.

Aus alledem werden Sie sehen, dass ich die Auffassung der DDR-Geschichtswissenschaft nicht teile, der SED-Staat sei durch die deutsche Geschichte legitimiert. Es genügt nicht, dass Karl Marx ein Deutscher war und dass das Wirken einer kraftvollen deutschen Arbeiterbewegung aus der jüngeren deutschen Geschichte nicht wegzudenken ist, um zu vergessen, dass die SED sich nur mit den Mitteln der Unterdrückung der Menschenrechte an der Macht halten kann.

Sie werden sich daran erinnern, dass nach dem Krieg die kommunistische Partei in allen Besatzungszonen zugelassen war. Auch in Österreich nahm sie an den Wahlen teil und erzielte nur kümmerliche Stimmergebnisse. In der sowjetischen Besatzungszone vertrat sie weitgehend den Willen der Besatzungsmacht, der auf Sowjetisierung, auf endgültige Etablierung kommunistischer Macht gerichtet war. Die Zwangsvereinigung mit der SPD und die Verfolgung von Sozialdemokraten, die diesem widernatürlichen Bündnis widersprachen, zeigte die Missachtung der Grundsätze der Demokratie durch die Kommunisten. Ich brauche hier nicht den Leidensweg der Menschen unter Hammer und Zirkel in Erinnerung zu rufen, um darzutun, wie sich die Kommunisten selbst in unserem Land als demokratische Partner unmöglich gemacht haben. Sie haben sich aus egoistischen Gründen totalitärer Machtausübung der Legitimierung durch den Widerstand gegen Hitler selbst begeben.

Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung zum Missbrauch der Bezeichnung „Widerstand“ in diesen Tagen machen:

Der Artikel 20 des Grundgesetzes spiegelt die Erfahrung mit der Entwicklung von 1933 wider, als eine verfassungsfeindliche Bewegung auf scheinbar legalem Wege an die Macht gelangte. Das Widerstandsrecht unseres Grundgesetzes bietet dem Bürger an, unseren freiheitlichen Rechtsstaat gegen Angriffe auf die verfassungsmäßige Ordnung zu verteidigen.

Ich kann nur sagen: Die missbräuchliche Berufung auf das Widerstandsrecht ist eine Verunglimpfung des Widerstandes gegen die Naziherrschaft.

Welche politische Entscheidung und wessen Entscheidung soll gelten, wenn nicht die der verfassungsmäßigen Mehrheit? Der Widerstand gegen Hitler war legitimiert, weil sich das System Hitlers vor aller Welt als unmenschlich und verbrecherisch erwiesen hatte: Durch Intoleranz, diktatorische Unterdrückung, Mord und Kriegsbrandstiftung.

Wodurch sieht sich diese „Bewegung“ denn zum Widerstand gegen unsere Ordnung legitimiert? Zum Widerstand gegen eine Ordnung, die sich längst vor aller Welt als die freiheitlichste Ordnung erwiesen hat, der sich die Deutschen in ihrer Geschichte erfreuen konnten.

Diejenigen, die sich zum Widerstand gegen diese Ordnung berufen fühlen, stellen sich damit selbst außerhalb dieser Ordnung. Opposition stellt sich nicht außerhalb der Ordnung, denn sie ist Teil dieser Ordnung.

Wer aber zum Widerstand gegen diese Ordnung, gegen Mehrheitsbeschlüsse im Rechtsstaat aufruft, muss sich fragen lassen, was für eine Republik er denn eigentlich will.

Wir jedenfalls wollen diese Bundesrepublik Deutschland, die im Geiste der Frauen und Männer des 20. Juli, im Geiste des demokratischen Widerstandes gegen die Nazi-Diktatur errichtet wurde. Sie ist es wert, verteidigt zu werden.







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