Gemeinsam im Glauben an Recht und Freiheit

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Ludwig Rosenberg

Gemeinsam im Glauben an Recht und Freiheit

Ansprache des Ersten Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 20. Juli 1964 in der Bonner Beethovenhalle

Ist es schon lange her? Ist es so kurze Zeit? 20 Jahre – was sind sie im Leben der Völker, was bedeuten sie im Ablauf der Zeiten? Was bedeuten sie jenen, die heute mit Entsetzen noch auf jene Tage zurückblicken? Für die einen sind sie vielleicht nicht mehr als ein Zeitabschnitt ihrer Jugend, an dessen Anfänge sie sich kaum erinnern. Für die anderen sind sie furchtbarer Rückblick in eine Zeit, die sie noch heute mit Schrecken und Entsetzen erfüllt.

Der 20. Juli 1944 – der Tag, den man den Tag des Aufstands des Gewissens nennt, er jährt sich heute zum zwanzigsten Male. Heute vor 20 Jahren geschah es, heute vor 20 Jahren wagte man endlich den Schlag, den man so lange vorbereitet, den man so oft vertagt, der immer wieder versucht und nun endlich verwirklicht werden sollte. Die tragische und quälende Geschichte dieses Tages berichtet von dem Heldentum von Menschen aller Schichten und Gruppen des deutschen Volkes, die der Tyrannei ein Ende, dem Massenmord ein Veto und dem Wahnsinn Einhalt gebieten wollten. Sie berichtet von dem furchtbaren Verlauf dieses erregenden Tages, von seinen Triumphen und seiner Niederlage und den Gewissensqualen aufrechter ehrenhafter Männer, die den Namen Deutschland von dem Blutbad der Schande rein und sauber waschen wollten, die ihr Leben wagten und ihr Leben verloren, um unsterbliches Vorbild zu sein.

Wer die Geschichte dieses Tages liest, wer mit heißem Herzen und nüchternem Geist den Ablauf dieses 20. Juli 1944 verfolgt, der wird das quälende Gefühl nicht los, dass das Herz zusammenkrampfen lässt – das furchtbare Gefühl des zu Wenig und zu Spät. Der verzweifelte Versuch, die wahnsinnige Bestie, die Volk und Menschheit in das Verderben stürzte, zu beseitigen, misslang; und wie in einer griechischen Tragödie nahm das Schicksal seinen furchtbaren Verlauf. Die Tat, die das Morden beenden sollte, erstickte in einem Meer von Blut. Die Männer, die die Mörder beseitigen wollten, standen als Opfer vor dem widerlichsten Mörder in der Richterrobe. Was das Ende des Schafotts sein sollte, endete auf dem Schafott. Eine Welle von Blut, Unrecht, Gewalt, Terror und Entsetzen erfüllte ein gequältes Volk. Die Lumperei und Verleumdung, die Feigheit und die Gemeinheit feierten ekelerregende Triumphe. Das war das Ende einer großen mutigen Tat, eines verzweifelten Aufschreies gegen das Unmenschliche. Das war das Ende dessen, was am 20. Juli 1944 geschah.

Ist das ein Grund, sich hier zusammenzufinden und im ganzen Lande dieses Tages zu gedenken? Hat es einen Sinn, nach 20 Jahren sich dieser Vorgänge zu erinnern? Es ist wahrlich kein Triumph des Rechtes und der Freiheit, den wir hier festlich begehen können. Es ist ein Tag, der eher zur Trauer als zur Erhebung Anlass gibt. Und doch! Dieser Tag darf nicht vergessen werden. Er darf aus der Geschichte unseres Volkes nicht ausgelöscht werden, wie manche es sicherlich wünschen. Er darf nicht verstummen, der Aufschrei der Gequälten vom 20. Juli – er soll uns verfolgen bis in die Ewigkeit – solange dieses Volk lebt – solange Menschen für die Freiheit ringen –, solange sie immer wieder in Gefahr ist. Denn dieser 20. Juli steht für mehr als diese eine große sichtbare Tat. Er ist mehr als der Tag, an dem der Aufstand des Gewissens zur sichtbaren Tat wurde. Jene Männer, die am 20. Juli 1944 handelten, jene, die aus allen Kreisen unseres Volkes gemeinsam endlich zur Waffe griffen, jene Edelsten unseres Volkes, sie standen und stehen für ungezählte Namenlose, die vor 1933 und nachher ihr Leben opferten für die Freiheit, für die Menschenwürde, für das Recht. Denn dieser 20. Juli wird zum Symbol des Widerstandes gegen das Unrecht und den Terror überhaupt. Dieser Tag wird durch die Tat zur leuchtenden Flamme, in derer Widerschein die Konturen des endlosen Zuges jener sichtbar werden, die in den Jahren des Grauens ihr Leben der Freiheit opferten. In den 12 Jahren des Schreckens wütete die Mordmaschine des Hitler-Regimes unerbittlich und unermüdlich. Tausende von Menschen wurden in jedem Jahr auf dem Schafott und am Galgen hingerichtet, in Konzentrationslagern zu Tode gepeinigt, in sadistischer Weise gemartert und gequält. Das unfassbare Grauen dieses Mordsystems, begleitet von den Jubelschreiben einer hysterischen Masse, die Degradierung des Menschen und die Vergötzung des Wahnsinns, alles das war und bleibt der Hintergrund, auf dem sich die Tragödie des 20. Juli abspielte. Ohne diese Erkenntnis verliert diese Tat ihren Sinn. Als isoliertes Ereignis bleibt sie ihrer Bedeutung entkleidet.

Der Aufstand führender Offiziere und kühner Bürger aus allen Kreisen unseres Volkes wird nur dann sinnvoll und verständlich, wenn er auf diesem Hintergrund gesehen wird. – Es waren Männer aus Familien ältester Tradition – Männer und Frauen aus der Arbeiterschaft – Männer und Frauen aus allen Schichten des Bürgertums – Männer der Kirchen und Männer des Geistes, ein Querschnitt durch die wirkliche Elite unseres Volkes, der sich vor dem 20. Juli fand und am 20. Juli handelte. Sie gingen gemeinsam in den Kampf für die Freiheit – sie endeten gemeinsam nach verlorenem Kampf. Das war kein isoliertes Geschehen. Dieser 20. Juli war sichtbares Symbol für eine furchtbare, großartige, schauriggewaltige, trotzige Behauptung menschlicher Verantwortung inmitten einer entmenschten Welt.

Wie hatte das alles begonnen? „Die restlose Mobilisierung der Dummheit“, wie es der junge Reichstagsabgeordnete Kurt Schumacher nannte, war einer fanatischen Horde gelungen. Der Ungeist und die Brutalität, die Feigheit und der dazu gehörige Terror hatten ein Volk erfasst, und alles, was menschlich fühlte, gerecht empfand und freiheitlich dachte, zum Untergang verurteilt. Ethisches Gesetz und göttliches Gebot, Moral und Recht, alles, was die Menschheit in ihrem Leidensweg in den Jahrtausenden aus dem Gesetz des Urwalds befreit hatte, galt nichts mehr. Mystische Zauberformeln und Kulte der Medizinmänner, Götzen und Götzendienst verlangten Blutopfer und schufen einen Rückfall in eine Barbarei, wie sie in der Geschichte der Menschheit in diesem Ausmaß unbekannt war. Und so geschah das Furchtbare: Ein verblendetes Volk jubelte den Götzen zu. Eine entmenschte Horde trieb mit Entsetzen Spott. Und die Menschen sahen zu, wie zahllose Mitmenschen in den Konzentrationslagern verschwanden, wie Hunderttausende ermordet wurden, wie das Henkerbeil stumpf wurde vom Blut der Ermordeten. Sie wandten sich ab, sie wollten nichts wissen, sie waren hart und kalt gegenüber den Qualen ihrer Mitmenschen, sie waren durch Terror und Furcht zu willenlosen Werkzeugen des Wahnsinns geworden. Sie berauschten sich an scheinbaren Erfolgen, sie wollten nicht wahrhaben, dass das alles ihren eigenen Untergang vorbereitete – sie waren wie mit Blindheit geschlagen!

Wenn wir heute die alten Filme sehen, die aus jenen Tagen stammen, wir können es nicht mehr verstehen, so wie wir es damals verstanden. Nicht einmal die Wut packt uns mehr wie in jenen Tagen, wenn wir die kreischende Stimme des wahnsinnigen Verführers und die hysterisch jubelnden Menschen sehen. Alles erscheint uns so fremd, vieles beinahe lächerlich, und doch – alles das war einmal furchtbare Wirklichkeit! Die Gespenster dort auf den Bildschirmen waren schreckliche Wirklichkeit. Der Jubel war tatsächlich! Die Angst war wahrhaftig! Das Grauen war lebendig! Wer kennt noch ihre Namen, wer weiß noch, wer sie waren und wo sie starben?

Seit den ersten Tagen dieses Wahnsinns bluteten Tausende und aber Tausende für die Freiheit und die Menschlichkeit. Es waren zuerst und vor allem jene, die aus innerster Tradition und tiefster Überzeugung nie und niemals Frieden mit Unrecht machen wollten. Es waren vor allem und zuerst jene, die in der Arbeiterbewegung schon vor 1933 im Reichsbanner, in den Gewerkschaften, in den Parteien mit heiligem Hass gegen die Bestialität und die Unmenschlichkeit gekämpft hatten. Viele von ihnen waren schon vor dem 30. April 1933 Opfer des Naziterrors geworden. Viele hatten wir schon zu Grabe getragen, erschossen, ermordet und geschunden von den Banden der so genannten nationalen Erhebung. Und in den düsteren Jahren des tausendjährigen Reiches waren es immer wieder – und vor allem – Arbeiter, Angestellte und Beamte, Männer und Frauen des werktätigen Volkes, die den Hauptteil der Blutzeugen für die Freiheit und das Recht stellen mussten.

In diesem furchtbaren Staat, in dem man nicht ermordet wurde, ohne vorher registriert zu werden, in dieser Maschinerie des Abscheulichen, registriert ein Gestapo-Bericht vom 10. April 1939, dass an diesem Tage wegen politischer Vergehen in Haft waren:

162.734 Schutzhäftlinge (in Konzentrationslagern)

27.369 politisch Angeklagte

112.432 politisch Verurteilte.

Und ferner wird berichtet, dass 66,5 Prozent der so genannten Illegalen aus der Arbeitnehmerschaft stammen. Sie, die Illegalen, waren jene, von denen Otto Wels in seiner letzten großen Rede im Reichstag sagte: „Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.“

An jenem 23. März 1933 konnte er noch nicht ahnen, welches Schicksal den „Verfolgten und Bedrängten“ bevorstand. Das Unmaß von Unmenschlichkeit und Verbrechen war tatsächlich damals unvorstellbar. Der Schrei „Freiheit“, der Zehntausende Mal von den Stufen des Schafotts erscholl, sollte trotzdem nicht erstickt werden. Immer wieder in hunderttausendfacher Gestalt fanden sich Männer und Frauen aus der Arbeiterschaft in Gruppen und Grüppchen zum Widerstand zusammen – immer wieder wurden sie Opfer des Verrats und der Häscher des Regimes. Aber das Wunder des Gewissens offenbarte sich immer erneut. Tausende fielen in diesem furchtbaren Kampf, Tausende traten in Lücken, die der Henker schuf. Immer erneut, immer in anderer Form – immer mit dem gleichen festen Glauben an das Recht und den schließlichen Sieg des Rechts nahmen sie den aussichtslosen Kampf auf.

Hier zeigte sich in großartiger Weise, was eine beinahe hundertjährige Tradition des Kampfes für Freiheit und Recht vermag. Hier offenbarte sich das Edelste und Größte, was die Arbeiterbewegung in allen diesen Jahrzehnten geschafften hatte. Hier zeigte sich, was Gewerkschaftler aus allen Gruppen – ob christlich – ob sozialistisch – ob Hirsch-Dunker – für immer und ewig verbindet, der Glaube an das Recht und die Menschenwürde, die heilige Liebe zur Menschheit, der Hass gegen jedes Unrecht und jede Gewalt, der unbeugsame Geist der Freiheit!

Wie erbärmlich, diese Menschen – diese Edlen, diese Braven – als Materialisten zu beschimpfen, wie es jene taten, die sich am Gut der Ermordeten bereicherten, die als staatlich bestellte Leichenfledderer das ekelhafteste Geschäft betrieben, das es jemals unter Menschen gab. Wenn es in dieser Zeit, in der man an der Menschheit verzweifeln konnte, überhaupt etwas gab, das uns den Glauben an das Gute, das Unsterbliche in der Menschheit erhalten konnte, so waren es diese Helden, die in Schlichtheit und ohne Pathos ihrem Gewissen folgten, ohne zu fragen, welcher furchtbare Lohn sie erwartete. Sie, die selbst bedrängt und in Gefahr, den Bedrängten und Gefährdeten halfen, sie, die inmitten des Wahnsinns ihrem Gewissen treu blieben, sie, die unerschüttert ihren Weg bis zum bitteren Ende gingen – sie sind die wahren Helden jener 12 Jahre! So fanden sie sich, die Arbeiter und Angestellten mit den Bürgern und Kirchenmännern, die Sozialisten und Christen, die Gläubigen und die Ungläubigen im gemeinsamen Glauben an das Recht, an die Freiheit, an die Menschenwürde. Wie lächerlich wurde da auf einmal alles das, was sie bisher trennte, wie gut verstanden sie sich, die sich vorher so töricht bekämpft hatten.

Der Opfergeist dieser Menschen, die selbstverständliche Bereitschaft, Mensch zu sein und trotz allem zu bleiben – dieses Erlebnis darf nicht vergessen werden, es muss ewig Beispiel bleiben für jeden Alltag unseres Lebens. Denn nicht nur in Zeiten des Grauens sollten wir erkennen, was uns eint, nicht nur hinter Gittern und Stacheldraht sollten wir unser gemeinsames Sehnen und unsere gemeinsame Verpflichtung erleben, sondern täglich und überall – in unseren Auseinandersetzungen und unseren Streitigkeiten ebenso, wie in unserem Tun und Lassen. Denn die Verketzerung des anderen ist der erste Schritt zur Barbarei und das Wort: „Sei Freund dem Andern – er ist wie du!“ mehr als nur ein schöner Spruch. Der Offizier aus altem Adelsgeschlecht wusste plötzlich, wo er allein wahre Freunde fand, wenn es um das ewige Recht und die wirkliche Wahrung der Ehre ging. Der Bürger entdeckte das Gemeinsame, das ihn mit dem anderen im Kampf um jene Werte verbindet, die nicht in Zahlen und Prozenten auszudrücken sind. Der Arbeiter entdeckte den Menschen in jenen, die er oft nur als Gegner und nie als Partner sah. Und der Priester fand in dem Ungläubigen mehr Glauben als in so manchem seiner Brüder. Diese große, herrliche Gemeinschaft, die den Begriff des Menschen im besten Sinne darstellt, sie wuchs in den Konzentrationslagern, den Zuchthäusern und Widerstandsgruppen – sie war das großartigste Erlebnis dieser dunklen Zeit. Sie war und bleibt die strahlende Fackel inmitten der Finsternis.

Wenn hier nur diese wenigen Namen genannt werden, so deshalb, weil der Versuch, alle uns auch nur bekannten Namen aufzuzählen, hier ein unmögliches Beginnen wäre. Es sind ihre Tausende und aber Tausende; und allein jene, die in führenden Stellungen in den Gewerkschaften tätig waren und ihre Treue mit dem Leben bezahlten, kann man hier unmöglich bei Namen nennen. Sie stehen in einer Reihe mit denen, die das Schicksal vor dem letzten Opfer bewahrte, mit Jakob Kaiser und Hans Böckler, und jenen vielen, die in der Zeit des Naziregimes erbittert den Widerstand organisierten, immer wieder in Zuchthäuser und Konzentrationslager kamen und doch – wie durch ein Wunder – dem letzten Schrecken entgingen. Sie alle, die in diesen Jahren das Opfer für die Freiheit wagten, sind uns Vorbild und Ansporn zugleich. Ihre Namen zu nennen, ist nicht möglich; denn es sind Zahllose, oft Namenlose, die in diesen Jahren still und ohne Aufsehen das höchste Opfer brachten. Nur wenige sind es, deren Namen für immer als Märtyrer für alle jene genannt werden, die aus der Arbeiterschaft ihr Leben für Recht und Freiheit gaben. Sie kamen aus allen gewerkschaftlichen Gruppen, die Sozialisten Wilhelm Leuschner, Carlo Mierendorf, Julius Leber, Theodor Haubach und Fritz Husemann, die christlichen Gewerkschafter Bernhard Otte, Bernhard Letterhaus, Max Habermann, Franz Leuninger und Heinrich Körner.

Sie und ihre ermordeten Freunde waren es, die in ständiger Verbindung mit den in der Emigration lebenden Kameraden Pläne für den Aufbau einer neuen, geeinten und wahrhaft freien Gewerkschaftsbewegung entwarfen, die dann schließlich nach dem Ende des Schreckens Wirklichkeit werden konnte. Sie sind die eigentlichen Väter des stolzen, freien und unabhängigen Deutschen Gewerkschaftsbundes, der zur starken Stütze dieses jungen demokratischen Staates wurde. Er wurde in jenen Tagen, in Kümmernis und Dunkelheit geboren – er ist das heilige Vermächtnis jener Märtyrer der Freiheit.

Was aber – so fragen wir uns – bedeutet uns alles das heute? Ist es nur großartige und furchtbare Geschichte? Hat es uns heute noch etwas zu sagen? Ist es etwa vergleichbar mit den Totenfeiern, die man so oft an den Stätten der Kriegsopfer abhält, wo leider so selten von der Zukunft und so oft von der glorreichen Vergangenheit gesprochen wird? Ist dieses Heldentum des 20. Juli und das, wofür es Symbol sein kann, mehr als nur einer der vielen Gedenktage? Wehe uns, wenn diese Opfer und die Ursachen dieser Opfer vergessen werden! Wehe uns, wenn sich dieser Tag in die Reihe der üblichen Gedenktage einreiht! Wir wären der Opfer nicht würdig, die in Strömen von Blut die Freiheit – unsere Freiheit – zu erkaufen suchten. Nicht die Tatsache, dass Ungezählte ihrem Gewissen bis in den Tod treu geblieben sind, ist das Entscheidende an diesem Tag; er muss uns mahnen, dass niemals wieder das furchtbare Blutopfer für die Freiheit gefordert werden darf. Er muss unser Gewissen wach halten, bevor es zum Märtyrertum gezwungen wird. Er muss uns gegenwärtig sein, jeden Tag, jede Stunde, überall und jederzeit!

Denn die Organisierung der Dummheit ist immer wieder möglich. Die Barbarei ist auf dieser Erde längst nicht ausgestorben. Und schon erheben sich Propheten des Ungeistes und des Hasses, die uns glauben machen wollen, dass ja alles gar nicht so schlimm war. Sie handeln mit den Millionen Toten, wie sie früher mit den geraubten Uhren der Ermordeten handelten. Sie berufen sich auf Befehle, die ihnen der Teufel gab, und wer wagt zu beschwören, dass es nicht wieder Menschen geben könnte, die im Befehlsnotstand zu allem fähig wären?

Mit der Beseitigung der Herrschaft des Grauens ist die Möglichkeit des Grauens nicht aus der Welt geschafft. Nur wird die Freiheit täglich verteidigt, nur wer bereit ist, der Schlange der Unmenschlichkeit jeden Tag und überall beim ersten Erscheinen den Kopf abzuschlagen, kann der Menschheit die furchtbare Größe der Märtyrer für die Freiheit ersparen. Nicht Hass zu predigen ist unser Anliegen. Wachsamkeit aber ist das, was diese Erfahrung lehren muss. Denn der Mensch ist nicht geboren, um Märtyrer zu sein. Was uns jene Männer und Frauen an Mut und Gesinnung am 20. Juli und den Jahren vor- und nachher gezeigt haben, ist nicht das Verhalten des durchschnittlichen Menschen. Eben darum ist es ja bewundernswert und so achtungsgebietend. Der Mensch ist nicht zum Helden geboren. Er ist nicht geschaffen, ständig vor Entscheidungen gestellt zu werden, die ihn zwischen Ehrlosigkeit und Tod wählen lassen. Ist erst die Bestie der Unmenschlichkeit entfesselt, herrscht erst der Terror und die Grausamkeit umgehemmt, so ist es zwar leicht, Heldentum zu verlangen, aber recht schwer, ein Held zu sein.

Es kann auch nicht der Sinn der Geschichte sein, immer wieder Märtyrer und Blutopfer zu fordern. Und es darf gewiss nicht die Regel sein, dass die nachfolgenden Geschlechter im wieder aus den furchtbaren Erlebnissen erneut die alte Lehre zu ziehen haben, dass es besser ist, Unrecht zu verhindern, als Unrecht zu erleiden. Wenn dieser Tag mehr sein soll als nur einer von vielen Gedenktagen, so muss er uns aufrufen, alles zu tun, damit dieses oder ähnliches niemals wieder möglich wird. Die Toten, deren Namen wir in Ehren halten, die Opfer, vor denen wir uns in Ehrfurcht beugen, wären umsonst gestorben, wenn wir nicht aus ihrem Aufstand des Gewissens die Lehre zögen, dass unser Gewissen immer und jederzeit hellwach bleibe, damit den Anfängen gewehrt werde! Nicht Kränze und Gedenkreden sind es, die wir diesen mutigen Männern und Frauen schulden. Wir schulden ihnen einen wachsamen Geist und unerschrockenen Mut, ein lebendiges Gewissen, das uns drängt, Freiheit, Menschenwürde und Recht jederzeit und rücksichtslos gegen uns selbst und gegen andere zu verteidigen – ehe es zu spät ist.







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