Handeln für den Staat – aus Mitverantwortung

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Ulrich de Maizière

Handeln für den Staat – aus Mitverantwortung

Ansprache des Generalinspekteurs der Bundeswehr Ulrich de Maizière am 20. Juli 1969 in der Bonner Beethovenhalle

Ich bin gebeten worden, vor diesem Forum zum Gedenken an den 20. Juli 1944 zu sprechen. Heute treten aus der Erinnerung die Gestalten der Männer hervor, mit denen zusammen ich in den Jahren 1942 und 1943 im Oberkommando des Heeres Dienst tat. Ich denke auch an andere Kameraden und Vorgesetzte, denen ich als junger Offiziere begegnet bin und deren Namen mit dem Widerstand in der Wehrmacht verknüpft sind.

Aus der Vergangenheit tritt die strahlende Gestalt des Grafen Claus von Stauffenberg heraus. Ich sehe Albrecht Mertz von Quirnheim über den Flur gehen. Ich stehe meinem damaligen Chef Oberst Helmut Stieff gegenüber. Bernhard Klamroth tritt mir entgegen und Robert von Bernadis. Ich erlebe noch einmal die Zeiten gemeinsamer Arbeit mit General Paul von Hase, dessen Adjutant ich mehr als zwei Jahre sein durfte.

Wenn ich hier nur die Namen von Offizieren nenne, so deshalb, weil es eben in erster Linie Soldaten waren, mit denen ich – selbst ein junger Offizier – in nähere Berührung kam. Die historische Wahrheit aber gebietet es, hier mit Dankbarkeit und Bewunderung festzustellen, dass es Männer aller Schichten des deutschen Volkes waren, die sich im Willen zum Widerstand zusammenfanden, seien es nun Konservative, Liberale, Sozialisten, Männer der Kirchen, der Gewerkschaften, Diplomaten, Beamte, Soldaten, Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

25 Jahre liegen zwischen dem Attentat und dieser Stunde der Erinnerung. Die Tat kam nicht als ein Blitz aus heiterem Himmel. Ein jahrelanges Ringen ging ihr voraus. In dem Rücktritt Ludwig Becks vom Amt des Chefs des Generalstabes des Heeres im August 1938 hatte sich bereits der Konflikt wissender Offiziere mit der Führung des Staates dokumentiert. In Zeitmaßstäben der Geschichte war es eine nicht zu lange Zeit, bis die Qual der Gewissensnot sich über vergebliche Anläufe hinweg in der Tat entlud, die ein Zeichen setzen sollte.

Wie viele Diskussionen, wie vieles Forschen und Suchen nach anderen Wegen und Möglichkeiten, wie viel innerer Kampf standen vor dem schließlich gefassten Entschluss zum Attentat als der einzig noch verbliebenen Handlungsmöglichkeit.

In die deutsche Geschichte ist dieses Zeichen eingeprägt. Wir sind heute hier nicht zusammengekommen, um Tat und Männer zu rechtfertigen. Dessen bedarf es nicht. Wir wollen uns besinnen auf die moralischen Kräfte, die in dunkler Zeit eine Fackel zündeten.

Gedenktage sind oft ein recht unbeholfenes Mittel, das Wissen um Not, um Zweifel und um das allmähliche Bewusstwerden nicht nur des Wollens, sondern auch des Sollens weiterzutragen. Gedenktage laufen Gefahr, in Routine zu erstarren, zu verblassen.

Bei fragendem Tasten nach der rechten Form können wir dankbar sein dafür, dass der Zentralverband demokratischer Widerstandskämpfer und Verfolgtenorganisationen sich die Aufgabe gestellt hat, am 20. Juli vom Erbe der Männer und Frauen des deutschen Widerstandes in rechter Weise zu sprechen.

Die Zahl derjenigen, die den 20. Juli 1944 als erwachsene Menschen miterlebt haben und deshalb damals persönliche Stellung zu dem Ereignis nehmen mussten, wird immer kleiner. Die Zahl derjenigen, für die der 20. Juli 1944 nur ein historisches Ereignis ohne eigenes Erleben bedeutet, wird größer. Ihr Urteil mag bestimmt sein von größerer Objektivität, von größerem Abstand, aber auch von weniger Emotion, von weniger innerer Spannung und Anteilnahme. Beiderlei Betrachtungsweisen sind heute miteinander zu verbinden, um den rechten Weg in die Zukunft zu weisen. Für den Soldaten schien das Ereignis unlösbare Widersprüche zu seinem Berufsethos zu enthalten. Es enthielt die Gefahr, die Soldaten in zwei Lager zu trennen, und zwar, in jene, die durch das vom Wissen unruhig gemachte Gewissen bis hin zur letzten Konsequenz des Attentats auf Adolf Hitler und zum Bruch mit dem Staat, wie er damals war, getrieben wurden, und in jene, die gerade im Kriege es als erste Aufgabe des Soldaten sahen, die physische Existenz der Nation nach besten Kräften zu retten oder es jedenfalls doch zu versuchen.

Durch menschliches Richten wird hier nichts ausgerichtet. Schon in dem nun 25 Jahre alten Entwurf der Regierungserklärung der Männer des Widerstandes heißt es: „Die einzige Scheidung, die zu vollziehen ist, liegt zwischen Verbrechen und Gewissenlosigkeit auf der einen und Anstand und Sauberkeit auf der anderen Seite.“ Der 20. Juli stellt daher jedem Menschen, nicht nur in unserem Land, die Frage, welche Antwort sein Gewissen ihm unter denselben persönlichen und äußeren Umständen gegeben hätte. Die Frage ist unbequem. Sie geht vielleicht an die Grenze der Vorstellungskraft, die wir gemeinhin voraussetzen dürfen. Wir müssen daher so wahrhaftig und aufrichtig wie menschenmöglich die Umstände und Motive beschreiben, aus denen heraus das Außergewöhnliche geschah.

Wenn wir vom Außergewöhnlichen und Außerordentlichen des 20. Juli 1944 sprechen, werden wir leicht missverstanden. Uns erscheint der 20. Juli 1944 außergewöhnlich, weil wir die soldatischen Pflichten zum Gehorsam und zur Treue nur in einer bestimmten Wertordnung richtig verstehen können, die wir als Regel setzen. Das Außerordentliche des 20. Juli besteht darin, dass damals die Wertordnung, aus der heraus Treue und Gehorsam erst ihren Sinn erhalten, im Bewusstsein der Handelnden nicht mehr mit den Vorstellungen in Einklang zu bringen war, die dem Handeln der Staatsführung zugrunde lag. Wenn wir von einer Ausnahmesituation sprechen, so liegt darin der Wunsch und der Wille, dazu beizutragen, dass in einem deutschen Staat ein solcher Konflikt nicht wieder entstehen kann.

Unsere Verfassung spricht von der Würde des Menschen, von unveräußerlichen Menschenrechten und von Grundrechten des Menschen. Diese Begriffe machen den Menschen zu einem Staatsbürger, der mehr ist als eine Nummer in einer Organisation, als ein Rädchen in der Wirtschaft, als ein Gegenstand der Manipulation.

Wir verstehen auch den Soldaten als Staatsbürger und meinen damit nicht nur, dass er die staatsbürgerlichen Rechte wahrnehmen kann, soweit nicht die Erfüllung des militärischen Auftrages vom Gesetzgeber festgelegte Einschränkungen verlangt. Wir meinen, dass der Staatsbürger auch als Soldat in der Mitverantwortung für unseren Staat bleibt. Wir erwarten, dass der Soldat, dem Verantwortung im militärischen Bereich übertragen worden ist, diese Pflicht zum verantwortlichen Handeln ernst nimmt, erster jedenfalls, als derjenige, dem es unsere Gesellschaft überlässt, primär dem Gewinn nachzustreben. Es wird leicht der Fehler gemacht, hohe Maßstäbe der Verantwortung an zu viele zu legen. In der nüchternen Wirklichkeit versagt sich mancher dem Anruf zu mitverantwortlichem Handeln.

Der Lohn mag ihm zu gering oder die Beteiligung zu mühsam erscheinen; die Kraft mag nicht reichen. Um so wichtiger ist es für unseren Staat, vorhandene Bereitschaft nicht zu enttäuschen; dabei sollte durchaus die Unbequemlichkeit der Verantwortung deutlich werden als ein Anreiz, sich an den Forderungen zu messen, sich den Unwägbarkeiten zu stellen, die den belasten, der in sittlicher Verantwortung entscheidet und handelt.

Es ist ein hohes Ziel der Erziehung in der Bundeswehr, ihre Offiziere für solche Belastungen vorzubereiten. Der 20. Juli 1944 lässt uns über verantwortliches Handeln nachdenken. Er wirft auch die Frage nach dem Gehorsam des Soldaten auf. Wir müssen uns dabei vor der Unredlichkeit eines Denkens hüten, das Gehorsam nur von anderen erwartet und das die eigenen Interessen und Vorurteile als Maßstab der Verpflichtung zum eigenen Gehorsam ansieht.

Jede soldatische Institution bedarf – auch im Zeitalter der Technik und gesellschaftlicher Wandlungen – zur Eröffnung ihrer Aufgabe einer hierarchischen Ordnung. Es müssen Befehle erteilt, es muss gehorcht werden. Dabei gilt der Gehorsam für alle, vom obersten Soldaten bis zum jüngsten Mann. Einer muss sich auf den anderen verlassen können. Der Kamerad auf den Kameraden. Der Vorgesetzte auf den Untergebenen. Der Untergebene auf den Vorgesetzten. Eine solche Verlässlichkeit untereinander wurzelt in dem Vertrauen darauf, dass der Befehlende wie der Gehorchende sich gleichen sittlichen Prinzipien unterworfen sieht.

Unser Soldatengesetz zieht dem Befehl wie dem Gehorsam Grenzen. Ein Befehl darf nur zu dienstlichen Zwecken gegeben werden. Damit wird dem Missbrauch der Autorität für persönliche Zwecke eine Schranke gesetzt. Befehle, die gegen die Menschenwürde verstoßen, brauchen nicht befolgt zu werden. Befehlen, deren Befolgung ein Verbrechen oder ein Vergehen mit sich bringen würden, darf nicht gehorcht werden. In diesen beiden letzten Bestimmungen werden der Vorgesetzte und der Untergebene an sittliche Wertstellungen gebunden.

Es gibt manches geschichtliche Beispiel – auch in der Geschichte der Wehrmacht – dafür, dass die innere Bindung an sittliche Werte den Soldaten in Gewissenskonflikte gegenüber Befehlen gestürzt hat. Wer den Gehorsam ernst nimmt und bereit ist, auch in kleinen Dingen selbst gehorsam zu sein, dem erschließt sich die Größe und Schwere der Entscheidungen des 20. Juli 1944. Er vermag sich in die Not derjenigen hineinzudenken, die erkennen mussten, dass die Führung des Staates moralische Maßstäbe missachtete, da sie Freiheit, Recht und Würde des Menschen leugnete, dass sie sogar den tausendfachen Mord zu rechtfertigen suchte. Er wird dem unter diesen Umständen gefassten Entschluss zum Ungehorsam seine Hochachtung nicht versagen.

Verantwortung und Gehorsam werden vom Soldaten verlangt. Eine dritte Forderung ist die Treue. In ihr sind Verlässlichkeit und Gehorsam eingeschlossen. Aber sie will mehr; sie will die innere Hinwendung zum Ganzen, dessen Verteidigung dem Soldaten aufgetragen ist. Wir erleben heute oft Ratlosigkeit darüber, wie in einer Welt, die nach rationaler Organisation drängt, etwas benannt oder bekundet werden könnte, was sich der Organisationskunst entzieht. Aber die Vorstellung ist lebendig geblieben und muss erhalten bleiben, dass Hingabe im Kleinen wie im Großen als etwas dem Menschen Gemäßes anerkannt werden sollte.

Das Gesetz verpflichtet den Soldaten der Bundeswehr zum treuen Dienen und zur Verteidigung von Recht und Freiheit des deutschen Volkes; es bindet ihn an die sittlichen Grundlagen unseres Staates. Der 20. Juli 1944 sagt uns, dass Gesetz und Gewissen den Soldaten zu eigener Entscheidung mahnen können, wenn die Staatsführung ihrerseits die Grundlagen der Treue gegenüber dem Staatsdiener bewusst verletzt.

Es hat manche verletzt, dass ihnen später vorgeworfen worden ist, sie hätten sich missbrauchen lassen. Ich verstehe diese Gefühle, waren doch viele Soldaten aus der Sicht ihres Verantwortungsbereichs überzeugt, nur im Interesse ihres Volkes Leib und Leben eingesetzt zu haben. Aber auch sie werden heute erkennen, dass Treue tatsächlich missbraucht werden kann und dass ihre Treue missbraucht worden ist. Jeder hat sich selbst zu erforschen: Hast du, nach dem, was du damals wusstest und beurteilen konntest, anständig gehandelt, ohne Rücksicht auf die eigene Person, selbst wenn die Erfolgsaussichten gering waren?

Überwinden wir jede Form von Selbstgerechtigkeit, und machen wir uns unsere Antwort nicht zu leicht.

Als Generalinspekteur der Bundeswehr stehe ich ebenso in der Verpflichtung, unserem Staat treu zu dienen wie der jüngste Soldat. Wir stehen gemeinsam in der Pflicht zum Gehorsam. Das Gesetz verpflichtet jeden Soldaten der Bundeswehr, für die freiheitliche demokratische Grundordnung unseres Staates einzutreten. Er kann dies ruhigen Gewissens tun. Er ist in unserem Staat dazu da, zu verhindern, dass die Regierung sich der Anwendung von Gewalt durch einen Angreifer beugen müsste. Er dient einem Staat, einem Parlament und einer Regierung, die dem Frieden verpflichtet sind. Unsere staatliche Ordnung ist auf Menschenwürde und Menschenrecht begründet.

Darum aber sollten wir uns heute das Recht zum Widerstand nicht zu einfach machen. Warum haben wir die Männer des Widerstandes in die Tradition der Bundeswehr aufgenommen, warum werden sie verehrt und zum Vorbild genommen?

Sie haben die Unmoral, ja das Verbrecherische des nationalsozialistischen Regimes erkannt.

Die diktatorische Regierungsform verwehrte es ihnen, ihre Erkenntnisse der Öffentlichkeit deutlich zu machen.

Sie stellten ihr Gewissen über einen missbrauchten Gehorsam.

Und sie waren bereit, für ihre Entscheidungen mit dem Leben einzustehen.

Was haben wir für unser zukünftiges Verhalten aus dem 20. Juli zu lernen?

Hier gibt uns der schon vorhin erwähnte Entwurf einer Regierungserklärung wichtige Hinweise:

Wir wollen die Grundlagen der Sittlichkeit erhalten.

Wir haben die Macht des Rechtes zu stärken.

Wir haben uns für die Sicherung des Friedens einzusetzen.

Hierbei ist Frieden nicht allein auf die eigene Person zu beziehen. Gute Demokraten, so sagte Fritz Erler vor drei Jahren von diesem Platz aus, treten nicht nur für die eigene Freiheit, sondern für die Freiheit aller ein.

Und schließlich sollten wir alles tun, um zu versöhnen. Die Männer des 20. Juli sagten: „Verwundete Seelen heilen und Leid mildern.“

Lassen Sie mich zusammenfassen mit dem, was ich schon vor drei Jahren an das Ende meiner Ansprache gesetzt habe. Ich habe seitdem nichts Besseres gefunden. Der französische Rechts- und Staatsphilosoph Charles de Montesquieu hat es schon im 18. Jahrhundert im „L’esprit des lois“, Buch 11, Kapitel 3, klassisch formuliert:

„La liberté politique ne consiste point à faire de que l’on veut. Dans un Etat, c’est-à-dire dans une sociéte ou il y a des lois, la liberté ne peut consister qu’à pouvoir faire ce que l’on doit vouloir, et à n’être point contraint de faire ce que l’on ne doit pas vouloir.»

„Die politische Freiheit besteht nicht darin, zu machen, was man will. In einem Staat, d.h. in einer Gesellschaft, in der es Gesetze gibt, kann die Freiheit nur darin bestehen, dass man tun kann, was man wollen muss, und nicht gezwungen zu sein, zu tun, was man nicht wollen darf.“

In diesem Sinne hat die Tat des 20. Juli 1944 ein Zeichen dafür gesetzt, was eine Gruppe des Widerstandes „Das andere Deutschland“ genannt hat. Wenn wir dieses Zeichen recht verstehen und danach handeln, dann gehören die Männer, deren wir gedenken, heute nicht zu einem anderen, sondern zu unserem Deutschland.