Ihr Gewissen machte ihnen Widerstand zur Pflicht

Richard Schröder

Ihr Gewissen machte ihnen Widerstand zur Pflicht

Gedenkrede von Prof. Dr. Richard Schröder, Humboldt-Universität zu Berlin, am 20. Juli 1993 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Das Gedenken der Männer und Frauen des 20. Juli 1944 in Anwesenheit der Überlebenden, der Angehörigen und ihrer Nachkommen ist in der Bundesrepublik eine feste Tradition geworden. Was sie gedacht und gewollt haben, ist zu einem Teil in die Diskussion eingegangen, die zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland führten.

Ganz anders in der DDR. In meiner Schulzeit, in den schlimmen fünfziger Jahren, kam das Ereignis offiziell gar nicht vor. Die Nazis, hieß es, haben vor allem die Kommunisten verfolgt, und die Rote Armee hat dem Spuk ein Ende gemacht. Die DDR stehe nun auf der Seite der Sieger der Geschichte, sie habe das Alte, die Nazis, die Kapitalisten und die Großgrundbesitzer zum Teufel gejagt. Jetzt sitzen sie in Westdeutschland, hieß es, und sinnen auf Revanche. Sie, die Kriegstreiber, wollen einen Dritten Weltkrieg vom Zaune brechen.

Ich verdanke es meinen Eltern, dass ich auf dies alles nicht hereingefallen bin. Zu den Massenaufmärschen der Kommunisten, den Hasstiraden des Propagandarummels, zu Behördenwillkür und Rechtsbeugung pflegten sie nur zu sagen: „Wie bei den Nazis!“ Etwa im Alter von zwölf Jahren hat mir mein Vater von Goerdeler und Stauffenberg und von der Bekennenden Kirche erzählt, und wir Kinder wussten damals: Dies Wissen müssen wir als unser Familiengeheimnis verwahren, als eine Wahrheit, die in einer Welt der Lüge und Verblendung nicht geduldet wurde.

Als meine Kinder in den achtziger Jahren zur Schule gingen, war das zum Glück anders geworden. Es durfte darüber gesprochen werden. Es konnten Bücher zum Widerstand des 20. Juli erscheinen.

Diese Gedenkstunde gilt nicht gefallenen Kameraden. „Eine Kugel kam geflogen, gilt sie mir oder gilt sie dir“, nein, es geht hier nicht um die Tragik des Soldatentodes, schon gar nicht geht es um den „Heldentod fürs Vaterland“ im Felde, der so oft mit falschem Pathos gefeiert worden ist. Hier waren Menschen, denen das Wort „Vaterlandsliebe“ ein unschuldiges und sehr ernstes Wort war, zu der bitteren Erkenntnis gekommen, dass das Vaterland nicht von äußeren Feinden, sondern von innen her zerstört wird, weil die elementarsten Regeln von Recht und Anstand schamlos mit Füßen getreten werden. Diese Männer und Frauen von sehr verschiedener Herkunft waren sich in einem jedenfalls einig: Der Nazistaat ist ein Unrechtsstaat. Die Nazis haben den guten Sinn von Staatlichkeit mit Füßen getreten, weil sie den Staat zum Instrument ihrer Verbrechen gemacht haben. Deshalb war für jene Männer und Frauen der Status Confessionis gegeben, nicht wegen irgendwelcher politischer oder gar bloß militärischer Meinungsunterschiede in Strategie und Taktik. Und deshalb mussten sie, denen die Worte Treue, Ehre und Pflicht etwas Erhabenes benannten, erkennen, dass sie den, dem Führer geleisteten, Treueid brechen mussten, um sich selbst treu zu bleiben, dass sie den unehrenhaften Tod riskieren mussten für einen letzten Versuch, Deutschlands Ansehen in der Welt, also seine Ehre zu retten; ihr Gewissen machte ihnen Widerstand zur Pflicht und nicht der Eigensinn oder Geltungsdrang.

Sein Leben für eine anerkanntermaßen gute Sache zu opfern, etwa als Lebensretter, das ist noch nicht das Schwerste, das Menschen auferlegt werden kann, denn solches Selbstopfer wird ja noch vom Trost einer dankbaren Mitwelt begleitet. Darauf konnten die Verschwörer des 20. Juli nicht rechnen, denn sie wussten, dass beim Misslingen ihr Richter Freisler heißen würde. Sie mussten mit Folter rechnen und der Zerstörung ihres Rufs, ausgeliefert noch radikaler als auf dem Schlachtfeld. Kaum jemand von uns wird in seinem Leben jemals vor einer solchen Entscheidung stehen. Kaum jemand von uns wird sagen können, wie er sich dann verhalten würde.

Ich möchte aus zwei Vernehmungen vor dem Volksgerichtshof zitieren:

Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg: „Wir haben diese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor einem namenlosen Elend zu bewahren. Ich bin mir klar, daß ich daraufhin gehängt werde, aber ich bereue meine Tat nicht.“ Und Josef Wirmer zu Freisler: „Wenn ich hänge, Herr Präsident, habe nicht ich die Angst, sondern Sie.“

Die Verschwörer waren sich keineswegs sicher, dass der Sturz Hitlers gelingt. Berthold Schenk Graf von Stauffenberg war sich sogar sicher, dass das Unternehmen nicht gelingen kann. Zu seiner Frau sagte er sechs Tage vor dem Attentat: „Das furchtbarste ist, zu wissen, daß es nicht gelingen kann und daß man es dennoch für unser Land und unsere Kinder tun muß.“

Dieses „muss“ ist der höchstmögliche Ausdruck menschlicher Freiheit. Für den Christen stammt dieses „muss“ aus dem Satz: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, und dieser Satz erklärt keineswegs, wie heute manche wollen, den Ungehorsam als solchen zur Tugend.

In der DDR ist die Diktatur der Nazis abgelöst worden von der Diktatur der Kommunisten, die sie selbst „Diktatur des Proletariats“ nannten. Manchmal, scheint mir, liegt der Vorwurf in der Luft: „Und wo ist euer Stauffenberg? Ihr wart doch alle Opportunisten.“

Wilhelm Leuschner, als Sozialdemokrat und Gewerkschafter am 20. Juli beteiligt, schrieb am 20. August 1939: „Wir sind Gefangene in einem großen Zuchthaus. Zu rebellieren wäre genauso Selbstmord, als wenn Gefangene sich gegen ihre schwerbewaffneten Aufseher erheben würden.“ Dass Leuschner sich schließlich doch an der Planung eines Staatsstreiches beteiligte, war dadurch ermöglicht, dass er Verbindungen zu Hitler-Gegnern im Zentrum der Macht, nämlich bei der Wehrmacht, fand. In der DDR gab es die Möglichkeit solcher Verbindungen nicht. Das Entscheidungszentrum lag in Moskau, und die SED hatte die sogenannten Machtapparate fester im Griff als die NSDAP. Und: Spätestens als Hitler 1939 mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg vom Zaune brach, mussten die Wissenden sagen: „Schlimmer kann es nicht mehr kommen.“ In der DDR aber mussten wir Älteren jedenfalls sagen: „Es war schon einmal schlimmer, nämlich unter Stalin.“ Zuletzt war die SED-Diktatur eine Diktatur mit Samthandschuhen, die die Kalaschnikow in den Schrank gestellt, aber den Schrank nicht verschlossen hatte. Mitte 1989 hat ein Staatssekretär zu einem unserer Bischöfe gesagt: „Der Platz des Himmlischen Friedens ist näher, als manche denken.“ Sollte man antworten: „Lassen Sie doch die leeren Drohungen“? Woher sollten wir wissen, dass das leere Drohungen waren? Wusste es denn der Staatssekretär selbst ganz sicher?

Peter Graf Yorck von Wartenburg hat vor dem Volksgerichtshof gesagt: „Das Wesentliche ist der Totalitätsanspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung seiner religiösen und sittlichen Verpflichtungen vor Gott.“

Das hatten in der Tat beide Diktaturen gemeinsam, aber die SED hat keinen Krieg vom Zaun gebrochen, sondern mit dem „Klassenfeind“ schließlich verhandelt und damit ihren Untergang vorbereitet. Die SED hat viele verfolgt und noch mehr Bürger benachteiligt. Etwas, das mit der Judenverfolgung der Nazis vergleichbar wäre, hat sie sich nicht zu Schulden kommen lassen. Es ist am Ende den Deutschen im Dritten Reich nicht gelungen, Hitler zu stürzen. Sie mussten von den Alliierten tatsächlich befreit werden, weil sie sich nicht befreien konnten. Es ist aber der Bevölkerung der DDR gelungen, die SED zu stürzen, als Gorbatschow der SED die Unterstützung verweigerte.

Die Männer und Frauen des 20. Juli haben sich sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, was denn nach dem Ende der Diktatur kommen soll. Namentlich der Kreisauer Kreis hat sich fast ausschließlich mit diesen Fragen beschäftigt. Dabei wurden auch die Fragen berührt, die heute unter dem Titel „Vergangenheitsbewältigung“ verhandelt werden. Leitend war für den Kreisauer Kreis die westliche Idee des Rechtsstaats, die „Majestät des Rechtes“. Eben deshalb haben sie sich gegen jede „rückwirkende Gesetzgebung“ gewendet – nulla poena sine lege –, weil das Wichtigste die Rückkehr zur Rechtssicherheit und die Wiedererweckung der Rechtsüberzeugung sei. Dass es eben deshalb schwierig werde, die „Rechtsschänder“ zu bestrafen, haben sie gesehen. Die Lösung, die sie vorsahen, war die Einrichtung zweier grundsätzlich unterschiedlicher Verfahren. Für alle „hinreichend Verdächtigen“ sollte auch rückwirkend eine „deklaratorische Feststellung der Rechtsschändung“ durch ein Gericht erfolgen können, um den Sinn für Gerechtigkeit wiederzuerwecken. Strafprozesse dagegen sollten sich nur des zur Tatzeit geltenden Rechts bedienen, um Willkür und Rache auszuschließen. Für die völkerrechtlichen Verbrechen der Nazis war eine internationale Strafgerichtsbarkeit vorgesehen, nicht aber eine der Sieger. Auch der Kreis um Goerdeler hat sich mit diesen Fragen beschäftigt und ebenfalls rückwirkende Gesetze ausdrücklich ausgeschlossen. Denunziationen sollten strafbar sein, anonymen Anzeigen nicht nachgegangen werden, bloße Mitgliedschaft in einer der nationalsozialistischen Organisationen sollte nicht als Verbrechen gewertet werden.

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer, der auch an der Verschwörung des 20. Juli beteiligt war, hat in einem Brief von 1943 geschrieben: „Wahrhaftigkeit heißt eben doch nicht, dass alles, was ist, aufgedeckt wird. Gott selbst hat dem Menschen Kleider gemacht, d.h. in Status Corruptionis sollen viele Dinge im Menschen verhüllt bleiben, und das Böse, wenn man es schon nicht ausrotten kann, soll jedenfalls verhüllt werden; Bloßstellung ist zynisch; und wenn der Zyniker sich auch besonders ehrlich vorkommt oder als Wahrheitsfanatiker auftritt, so geht er doch an der entscheidenden Wahrheit, nämlich dass es seit dem Sündenfall auch Verhüllung und Geheimnis geben muss, vorbei.“

In einem der Entwürfe Goerdelers für eine Rundfunkansprache nach Hitlers Sturz heißt es: „Das deutsche Volk muss durch allen Propagandanebel hindurch die Wahrheit und nichts als die Wahrheit erfahren.“

Wer hat denn nun recht: Bonhoeffer oder Goerdeler, verhüllen oder offenbaren? Das deutsche Wort „Wahrheit“ hat etwas mit „bewahren“ zu tun. Was bloß schadet, kann nicht wahr sein. Wahr ist das, was Lebensmöglichkeiten bewahrt und eröffnet. Wer in diesem Sinne wahrhaftig ist, kann auch verdeckt lassen, was aufgedeckt nicht heilt.

Es soll nichts von dem vernebelt werden, was in diesen vierzig Jahren DDR geschehen ist. Aber es darf mit dem, was geschehen ist, auch nicht zynisch oder exhibitionistisch umgegangen werden. Bonhoeffer schreibt: „Der Zyniker will sein Wort dadurch wahrmachen, daß er jeweils das Einzelne, das er zu erkennen glaubt, unter Nichtbeachtung des Wirklichkeitsganzen ausspricht, und gerade dadurch zerstört er das Wirkliche völlig und sein Wort wird, auch wenn es den oberflächlichen Schein der Richtigkeit hat, unwahr.“

Wer soeben noch seine Vertrauenswürdigkeit verspielt hat, kann jetzt keine Vertrauensstellung anvertraut bekommen. Aber wer sich geirrt hat, wer eine grundverkehrte Sache für eine gute Sache hielt und das jetzt weiß, wer einmal in eine tragische Verwicklung geraten ist, der muss seinen Platz unter uns ungekränkt finden können. Gerechtigkeit soll wiederhergestellt werden, soweit das möglich ist. Aber zum gläsernen Menschen soll keiner gemacht werden. Wo es ohne Schaden möglich ist, sollten wir barmherzig sein.

Was die Männer und Frauen des 20. Juli vor allem und zuerst erreichen wollten, den Rechtsstaat, das ist in der Bundesrepublik Deutschland erreicht und durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes auch für uns aus der DDR. Das heißt ja nicht, dass alles in Ordnung ist im vereinten Deutschland. Probleme gibt es mehr als genug, nationale und internationale und globale. Aber wir dürfen doch nicht unsere unerfüllten Erwartungen und Hoffnungen, unsere persönlichen und globalen Ängste gegen das Gute im Bestehenden wenden, das es jedenfalls auch gibt. Hegel nannte das: die Rose im Kreuz der Gegenwart, in Auslegung von Luthers Wappen. Ich jedenfalls nehme mir die Freiheit, mich an Einigkeit und Recht und Freiheit zu freuen und bin mir sicher: Die Männer und Frauen des 20. Juli hätten ebenfalls ihre Kritik am Bestehenden mit dieser Freude verbinden können.

In Brechts „Leben des Galilei“ sagt der vom Widerspruch des Lehrers enttäuschte Schüler: „Wehe dem Land, das keine Helden hat!“ Galilei wendet sich ihm zu und korrigiert: „Wehe dem Land, das Helden nötig hat.“







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