Inbegriff und Symbol des deutschen Widerstands

Rudolf Scharping

Inbegriff und Symbol des deutschen Widerstands

Gedenkrede des Bundesministers der Verteidigung Rudolf Scharping am 20. Juli 1999 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

der 20. Juli bedeutet für uns heute mehr als bloßes Erinnern, er bedeutet Gedenken. Wir haben den Auftrag, dieses Gedenken für die Zukunft zu erhalten.

I.

Vom Widerstand führt eine gerade Linie zur Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Die Tat des 20. Juli 1944 unterstreicht den Vorrang der Rechtsstaatlichkeit gegenüber der Gewaltherrschaft, den Respekt vor anderer Auffassung und Pluralismus, vor allem aber unser Verständnis von der Würde des Menschen.

Der 20. Juli 1944 ist zum Inbegriff und Symbol des deutschen Widerstands geworden. Er fand an diesem Tag seinen tragischen Höhepunkt, aber er fand nicht nur hier statt.

Es gab ihn an vielen Orten. Er hatte viele Gesichter und erschütternde Einzelschicksale. Er wurde seit 1933 von Gruppen aus allen Schichten der Bevölkerung getragen. Arbeiter, Bürgerliche und Adelige, Gewerkschafter, Wissenschaftler und Geistliche, Offiziere und Diplomaten - sie fanden ihm Kampf gegen die Herrschaft des Verbrechens zusammen.

Es waren nicht viele. Aber die Beteiligten haben unserem Land Würde und Ehre bewahrt, die uns das nationalsozialistische Regime geraubt hatte.

Ihr mutiges Eintreten war wesentliche Voraussetzung für die Rückkehr des deutschen Volkes in die Gemeinschaft der demokratischen Nationen nach dem Krieg.

II.

Heute, am 20. Juli, ehren wir alle Opfer des deutschen Widerstandes gegen eine Willkürherrschaft. Und wir gedenken ihrer Angehörigen, die Last und Leid mitgetragen und die mit ihnen gelitten haben.

Plötzensee führt uns vor Augen, wie sehr sich der nationalsozialistische Vernichtungswille auch gegen das eigene Volk richtete. Die Mauern der Gedenkstätte legen ein erschütterndes Zeugnis davon ab, wie ein verbrecherisches System Menschen willkürlich drangsalierte, quälte und ermordete.

Der Name der Straße, die nach Plötzensee führt, Emmy Zehden, gibt der Willkür ein Gesicht. Karlrobert Kreiten ist ein weiteres. Eine einfache Hausfrau und ein vielversprechender Pianist. Beide wurden Opfer eines Unrechtregimes, das nicht erst mit dem Überfall auf Polen, sondern viel früher sein wahres Wesen offenbarte.

Aber - so Stefan Zweig in „Ein Gewissen gegen die Gewalt“ - „... darin liegt ja alle Zeit der zeitliche Vorteil einer Diktatur ..., daß ihr militärischer Wille einheitlich geschlossen und organisiert in Erscheinung tritt, während der Gegenwille, von verschiedenen Seiten kommend und aus verschiedenen Motiven wirkend, sich nie oder erst spät zu wirklicher Stoßkraft zusammenschließt.“

Am 27. Februar 1933 brannte nicht weit von hier der Reichstag. Die tags darauf erlassene Reichstagsbrandverordnung beendete die Herrschaft des Rechts in Deutschland. Sie höhlte die elementaren Grundrechte aus, die schon der Weimarer Verfassung enthalten waren und entwickelte sich zur neuen faktischen Verfassung der Nationalsozialisten.

Der Wiederaufbau des Reichstags ist deshalb weit mehr als die Errichtung eines Sitzes für den Deutschen Bundestag. Er steht für das Wiedererstehen der verfassungsmäßigen Ordnung in Deutschland. Er ist das Symbol für den Sieg des Rechts.

III.

Hier in Plötzensee gedenken wir auch der Frauen und Männer, die für ihren Mut, ihre Zivilcourage und ihre Bereitschaft, persönliche Verantwortung zu übernehmen, ihr Leben lassen mußten.

Sie haben ihre Augen nicht vor dem Unrecht verschlossen. Sie waren davon überzeugt, daß es ein grundlegendes Recht aller Menschen auf Würde gibt, das der Staat nicht antasten darf.

Viele von ihnen standen in einem besonderen Treueverhältnis zum Staat. Manche lehnten Gewalt aus Überzeugung ab. Die Erkenntnis, daß Widerstand eine moralische Pflicht und Tyrannenmord der letzte Ausweg war, hat viele schmerzlich und über lange Zeit mit ihrem Gewissen ringen lassen.

Sie wußten, wie gering die Erfolgsaussichten und wie hoch zugleich das persönliche Risiko für jeden einzelnen - und dennoch sind sie nicht zurückgeschreckt.

Die Zivilisten und Soldaten, die Mut zum Widerstand fanden, waren eine Minderheit. Die Frauen und Männer waren sich bewußt, daß die große Mehrheit des Volkes ihr Handeln nicht verstehen würde. Auch deshalb zollen wir ihnen heute unseren Respekt. Gerade, weil sie den Mut und die Zivilcourage hatten, sich gegen den Strom zu stellen und die Menschenwürde zu verteidigen, sind sie Lichtpunkte in einer düsteren Zeit.

Immer wieder einmal werden in der öffentlichen Diskussion die Motive des Widerstands in Frage gestellt. Standen die Männer und Frauen wirklich für Demokratie, wie wir sie heute verstehen? Wollten Ulrich von Hassell und Julius Leber nicht doch ein größeres Deutschland? Wollten die Offiziere nicht vor allem ihre Privilegien verteidigen?

Wer so fragt, wird schnell ungerecht. Vor den maßlosen Verbrechen verstummt die Frage nach individuellen Motiven. Plötzensee ehrt die Frauen und Männer des Widerstands, weil sie dem Unrecht widerstanden und dafür mit ihrem Leben bezahlten.

So ehren wir auch Goerdeler und Leber, von Hassell und von Stülpnagel und viele andere, weil sie zu Opfern eines verbrecherischen Regimes wurden.

Die Frauen und Männer des Widerstands einte - bei aller Verschiedenheit der politischen Überzeugungen und der Auffassungen über das künftige Deutschland - der Wille und die Bereitschaft, Unrecht und Gewalt ein Ende zu bereiten.

Hierfür traten sie unbeugsam und aus tiefer innerer Überzeugung ein - selbst, wenn es die Hingabe des eigenen Lebens bedeutete.

Hans Mommsen hat dies einmal so zusammengefaßt: „Der deutsche Widerstand kämpfte für die Würde und christliche Bestimmung des Menschen, für Gerechtigkeit und Anstand, für Freiheit der Person vor politischer Gewalt und sozialem Zwang.“

Wir haben die Absicht, zum Gedenken an die Männer um Graf von Stauffenberg in unmittelbarer Nähe der Diensträume des Bundesministers der Verteidigung eine Ehrentafel mit den Namen jener Soldaten zu errichten, die am Umsturzversuch des 20. Juli 1944 beteiligt waren und die im Anschluß daran zu Tode kamen.

IV.

Wir haben in diesen Tagen feierlich den 50. Jahrestag unserer Verfassung begangen. Wer das Grundgesetz auf sich wirken läßt, dem springt auf jeder Seite, ja, in fast jedem Artikel ins Auge, daß hier die richtige Antwort auf die nationalsozialistische Diktatur entstanden ist.

Nie wieder Unterdrückung, nie wieder Diktatur! Das ist das geistige Fundament, auf dem unser Grundgesetz steht.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sei zu schützen und zu achten ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt. Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Dies ist die kompromißlose Distanzierung von der Phrase „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“.

Die Erfahrung des Leidens unter dem Unrechtsstaat einte die Väter des Grundgesetzes. Kurt Schumacher, Konrad Adenauer und Carlo Schmidt - sie alle hatten enge Freunde und Weggefährten hier in Plötzensee oder in einer der vielen Hinrichtungsstätten verloren.

Die nach dem Krieg eingeleitete außenpolitische Hinwendung der neu entstandenen Bundesrepublik zum Westen und Aussöhnung nach Osten entsprach nicht zuerst der Notwendigkeit gemeinsamer militärischer Sicherheit. Sie war eine Neuorientierung Deutschlands hin zu gemeinsamen kulturellen und demokratischen Werten.

Die Wiederaufnahme in den Kreis der freien Völker war Bestätigung und Anerkennung für unsere Anstrengungen, die Schrecken der Vergangenheit zu bewältigen. Rechtsstaat und demokratische Ordnung in Deutschland waren für unsere Nachbarn glaubwürdig und überzeugend.

Plötzensee ist daher mehr als ein Ort der stillen Einkehr. Die Gedenkstätte mahnt, staatliche Verbrechen und politisch gewollte Morde zu verhindern. Sie mahnt uns, Weitsicht zu bewahren, Tapferkeit zu zeigen und dem Gewissen zu folgen. Und sie mahnt, unsere freiheitlich demokratische Grundordnung als ein hohes Gut, das uns über 50 Jahre Freiheit und Wohlstand gebracht hat, zu achten und zu bewahren.

Von dem 1945 ermordeten Albrecht Haushofer ist das folgende Sonett überliefert:

„Ich klage mich in meinem Herzen an:

Ich habe mein Gewissen lang betrogen,

ich hab mich selbst und andere belogen -

ich kannte früh des Jammers ganze Bahn -

ich hab gewarnt - nicht hart genug und klar!

Und heute weiß ich, was ich schuldig war ...“

Demokratie ist verletzlich. Sie muß geschützt werden. Wo die Bürgerinnen und Bürger teilnahmslos zusehen und sich nicht mehr für die demokratische Ordnung einsetzen, können politischer Extremismus, Haß und Gewalt diese Ordnung unterwandern und zerstören.

Wer heute konsequent unsere freiheitliche Demokratie verteidigt, wird morgen nicht Widerstand leisten müssen. Nur eine wehrhafte Demokratie wird auf Dauer Bestand haben.

V.

Freiheit, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit sind gewachsene Tradition der Bundesrepublik Deutschland - auch der Bundeswehr.

Die Bundeswehr ist fest in unserer Demokratie verankert - anders als die Wehrmacht, die auch deshalb keine Tradition für die Bundeswehr begründet. Die Konzeption der Inneren Führung hat daran entscheidenden Anteil. Dieses Reformwerk ist in einer Zeit entstanden, als wir Deutsche den tiefsten Umbruch in unserer Geschichte zu bewältigen hatten.

Der geistige Vater der Konzeption Innere Führung, Wolf Graf Baudissin, kam aus dem Kreis der Menschen, die der nationalsozialistischen Diktatur Widerstand geleistet hatten.

In seiner Person werden zwei Traditionslinien der Bundeswehr deutlich: die bleibenden Ideen der preußischen Staats- und Heeresreformer von 1806 und die verpflichtenden Ideale des deutschen Widerstands.

Die preußischen Reformer stehen beispielhaft für die besten Überlieferungen des alten Preußen - bevor wilhelminische Schneidigkeit und kurzsichtiger Nationalismus einen Grund legten für die moralische, die politische und letztlich auch militärische Katastrophe von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg.

Diese Reformer zeichneten sich durch Loyalität ohne Willfährigkeit aus. Sie stehen für das weltoffene Preußen, das die besten Köpfe Deutschlands und Europas nach Berlin zog und von ihnen profitierte - für das Preußen aus Vernunft geborener praktischer Toleranz, das Menschen, die um ihres Glaubens willen verfolgt wurden, Zuflucht gewährte.

Ihre Grundgedanken haben nichts an Aktualität verloren: Freiheit verteidigen kann nur, wer selbst frei ist.

In der Tradition der preußischen Heeresreformer stehen auch die Offiziere des 20. Juli 1944. Sie haben bewußt „Ungnade gewählt, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.“ (von der Marwitz)

Über die Auswahl zeitgemäßer Traditionen muß immer wieder gestritten werden - in der Sache hart, in der Form mit jener Mäßigung, die uns der Respekt vor Menschen einer anderen Zeit und auch vor Menschen anderer Überzeugungen gebietet.

Wir sind unfrei in der Wahl der Geschichte; aber frei in der Entscheidung darüber, was wir als Tradition pflegen wollen.

Es gab und gibt gute Überlieferungen in unserer Geschichte - aber wir müssen auch sehen: Sie waren nicht stark genug, die moralische und politische Katastrophe der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu verhindern.

Zu unserer Geschichte gehört die Einsicht, daß zu viele den Drohungen und Verlockungen der Diktatur erlagen - und zu wenige die Kraft zum Widerstand fanden.

Erinnern heißt, sich der Erfahrung zu vergewissern und die Zukunft zu gestalten.

VI.

Recht und Menschenwürde lassen sich nicht mehr allein national verwirklichen. Europäische Integration und demokratischer Wandel sind unauflöslich miteinander verbunden.

Die Einsicht, daß ein Regime nicht unbehelligt unter dem Deckmaterial der inneren Angelegenheiten Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen darf, beginnt Eingang in das Völkerrecht zu finden.

Es wäre unmoralisch, in Plötzensee der Opfer von Gewaltherrschaft zu gedenken und zugleich die Opfer anderswo in Europa sich selbst zu überlassen.

Wir dürfen Massenmord und ethnische Säuberungen nicht hinnehmen, wie es die internationale Gemeinschaft im Zweiten Weltkrieg lange Zeit tat.

Die Bundeswehr steht in der Tradition der Ideale des deutschen Widerstands, wenn sie gemeinsam in der internationalen Zusammenarbeit mit unseren Freunden und Partnern dem Recht aller Menschen auf Würde und Freiheit zum Durchbruch verhilft.

Mich bewegt in diesen Stunden, was Julius Leber einmal treffend in die Worte gefaßt hat:

„Nicht immer braucht sich die Geschichte zu wiederholen. Im Laufe der Jahrtausende bricht ein Ideal vielleicht dreimal zusammen, und eines Tages bleibt es doch siegreich. Man darf sich durch die Geschichte nicht jeden Glauben an eine bessere Menschheitszukunft rauben oder verleiden lassen. Im Gegenteil, man muß sich zu solchem Glauben überreden, man muß sich selbst zu überzeugen suchen.“

Deutschland hat sich überzeugt. Unser Land ist ein verläßlicher Partner der freiheitlich demokratischen Rechtsstaaten in Europa. Es steht für Menschenwürde, Recht und Freiheit.

Die Geschichte des Unrechts im zu Ende gehenden Jahrhundert wird uns Deutsche auf Dauer begleiten. Das Vermächtnis des gesamten Widerstandes in Deutschland wird helfen, einen menschlichen Weg in die Zukunft zu gestalten.






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