Jede Generation bestimmt das Verhältnis von Gesetz und Freiheit für sich neu.

Eberhard Bethge

Jede Generation bestimmt das Verhältnis von Gesetz und Freiheit für sich neu.

Predigt von Prof. Dr. Eberhard Bethge am 20. Juli 1967 in der St. Annen-Kirche, Berlin

Matthäus 5,17:

„Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.“

Jede Generation bestimmt das Verhältnis von Gesetz und Freiheit für sich neu; wie immer es sich darstellen mag, sei es als das von Alt und Neu, von Tradition und Revolution, von Strukturerhaltung und Gesellschaftskritik, von Disziplin und Pflicht zum Ungehorsam. In Amerika erarbeiten Theologen jetzt eine „Theologie des zivilen Ungehorsams“.

Gesetz und Freiheit existieren nur in ständiger Spannung miteinander. Eins droht immer das andere zu verschlingen und der Überhang des einen vor dem anderen ruft nach der Gegenreaktion. Zuweilen geschieht es dann, dass in solcher Gegenreaktion ein Preis gezahlt werden muss, der uns erschrickt. Plötzlich erscheint der Wert des einen oder des anderen höher als das Leben, sei es der Wert der Freiheit, sei es der Wert des Gesetzes.

Wir versammeln uns in diesem Gottesdienst um unsere Toten wie auch um das Thema von Gesetz und Freiheit, so wie sie es damals haben artikulieren müssen und schließlich mit dem Leben bezahlten. Fast war zu jener Zeit das Opfer einfacher als das Artikulieren, als sich Gesetz und Freiheit ununterscheidbar ineinander zu verschlingen drohten. Ich erlebte, wie Freunde im Gefängnis vor ihrer Verurteilung voller Unruhe und Gewissensplage waren, aber nach dem Todesurteil Ruhe und Gewissheit auszustrahlen vermochten. Wie konnte ein Standort gefunden werden in jenem Dilemma zwischen Freiheit und Gesetz? In jenem verwirrenden Kampf: im Namen einer Verschwörung für oder wider die Staatsräson – im Namen einer Staatsräson für oder wider die Verschwörung?, im Namen eines Umsturzes für oder wider den Gehorsam – im Namen eines Gehorsams für oder wider den Umsturz?

Wer fand hier einen Weg? Einige Christen und einige Nichtchristen fanden ihn und wir segnen sie heute beide. Wir segnen sie im Namen dessen, der in dieser Sache den Weg wusste und voranging.

Die Identitätsbedrohung

Es bleibt eine merkwürdige Tatsache – vielleicht eine, die unsere innere Trägheit bloßlegt –, dass derjenige, in dessen Namen so oft und so viele Revolutionäre verurteilt worden sind, von den Zeitgenossen als Revolutionär par excellence empfunden und aus diesem Grunde beseitigt worden ist. In der Formulierung dieses Matthäustextes nimmt er die Sorge der Zeitgenossen auf. Es klingt fast apologetisch, wie er den Vorwurf seiner Umwelt beantwortet: „Ihr sollt nicht denken, dass ich...“. Natürlich „dachten“ sie.

Sie dachten, dass hier im Namen eines schwer greifbaren Neuen das geheiligte Alte verlassen, die „Thora“ gestürzt und verworfen werde. In wem regt sich nicht ein gesundes Misstrauen, wenn die Thora des Bewährten allzu schnell über Bord geworfen wird? Wer sich zu bereitwillig neuer Mode und neuen Herren anpasst, den halten wir nicht für besonders brauchbar, vielleicht sogar für gefährlich. Wer die Thora zerbricht, der zerbricht einer ganzen Lebensgemeinschaft das Rückgrat; er zerstört ihr den Boden, auf dem sie leben und atmen kann. Ja, er vergreift sich an ihrem Wesen und ändert ihr Gesicht.

Das aber heißt, jemand um seine Identität zu bringen, die aus Tradition, bewährten Maßstäben und Regeln gewachsen ist. Für diese Identität gibt es eine legitime Verantwortung. Wehe dem, der sie bedroht. Ja, es gibt eine unmittelbare Angst, die heftig reagiert, wo immer eine Gruppe nicht mehr sein soll, was sie war. Diese Angst wird sich steigern, bis sie die Kaltstellung des Umstürzlers erreicht hat.

Aber was ist die Identität des Menschen denn in Wahrheit? Wann und wo steht sie wirklich auf dem Spiel? Ist sie da, ein für allemal? Oder wird sie vielmehr, in ständigen Brüchen und Erneuerungen? Kann man sie einfach für immer besitzen? Oder doch nur immer neu gewinnen?

„Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen bin, aufzulösen, ... vielmehr zu erfüllen.“

Die familia Dei und ihre Regeln

Jesus beschreibt sein Verhältnis zu dem Gesetz, das für die Kinder Gottes und ihre Identität eine so entscheidende Rolle spielt, mit einer sehr starken Vokabel: „erfüllen“. Die Vokabel sagt weit mehr, als „ein Soll zu erfüllen“. Sie spricht nicht nur die Ebene von Halten oder Übertreten des Gesetzes an, auch nicht von Gleichgültigkeit oder Festhalten. Jesus sagt nach dem Matthäustext also nicht nur: Ich bin nicht gekommen, das Gesetz zu übertreten, sondern es zu halten.

Das wäre ja schon etwas, wenn einer im Chaos des frechen und eigenmächtigen Nichtachtens den Buchstaben des Gesetzes Gottes ehrt. Aber war das genug? Waren wir nicht Zeuge jener Maskerade des Bösen, als die Verhörer in der verlogenen Position von Gesetzeshütern den Gefangenen ihre Bibel vorhalten konnten? Es waren nicht die Schlechtesten, die dann eine Unsicherheit befiel. Bonhoeffer schrieb damals in seiner Ethik: „Der einem ethischen Programm Verschriebene muss seine Energien sinnlos verpuffen und selbst sein Martyrium wird für seine Sache kein Quell der Kraft noch für die Bösen eine Bedrohung sein.“ Auf der Ebene, wo es um „Halten und Übertreten“ geht, schaut man noch gebannt zurück in die Vergangenheit; man verfällt einem Zählen von Quantitäten. Und das Resultat wird allzu leicht ein pharisäerhaftes Vergleichen mit anderen Menschen.

Jesus sagt aber auch nicht nur; ich bin nicht gekommen, das Gesetz gleichgültig zu machen, sondern daran festzuhalten.

Auch das wäre ja schon viel, wenn sich einer zum Festhalten entschließt in einer Umgebung, in der alle Maßstäbe flach, das Aristokratische gemein und das Gemeine dominant werden. Aber wie kann er sich wirksam dagegen wehren, nicht in eine unergiebige Privatheit seiner aristokratischen Fleckenlosigkeit abgedrängt zu werden? Auf der Ebene der Gleichgültigkeit oder des Festhaltens befindet man sich noch in einem Kampf um Wertskalen, um Werte, die sich lohnen oder nicht.

Jesus spricht hier aber noch auf einer ganz anderen Ebene. Er sagt – vielleicht etwas Unmögliches? Vielleicht etwas Mitreißendes? – Er sagt, dass er das im Gesetz gemeinte Leben zu seiner göttlichen, schöpferischen „Fülle“ bringen wird. Nein, nicht gekommen, Identität zu zerbrechen, sondern das altbezeugte Gesetz der familia Dei zu seiner wahren Wirklichkeit zu bringen. Jesus verlässt den Bereich einer ängstlichen Gebundenheit an Vergangenes. Er reißt die Verwirrten in die Vision der familia Dei, in welcher das Gesetz der Freiheit und die Freiheit vom Gesetz keine Gegensätze mehr sein werden.

Vielleicht muss man von der Realität dieses „Erfüllens“ mit altmodischen Worten alttestamentlicher Geschichte reden. Die „Kabod” Gottes, Jahwes Fülle, wohnte in Salomons Tempel; sie ruhte auf der Bundeslade und schuf Distanzen, so dass Menschen an dieser Lade umkamen oder auch mit ihr siegten: Ihr Glanz, ihre Heiligkeit, ihre Würde repräsentierte und schützte die Mitte der alten Thora-Gemeinde. Moderner, aber auch viel abstrakter müssten wir von dem „eigentlichen Sinn“, der „göttlichen Intention“ des Gesetzes reden, deren Realität für alles Leben in diesem „Erfüllen“ Jesu versprochen wird. Innerhalb dieses Bereiches, aus dem und für den Jesus spricht, werden Fragen des „Haltens“ und „Festhaltens“ mager. Die Sache selbst, die familia Dei ist das Thema: „Ich bin gekommen, dem alten und immer gänzlich neuen Gesetz der familia Dei seinen Glanz, seine Würde und seine Realität und damit dieser familia ihr wahres Leben zu schaffen“. Damit spricht Jesus aber vom Gesetz und von der Freiheit in einem: von der kommenden großen Freiheit der Kinder Gottes und von den Regeln ihrer weltweiten Gemeinschaft, die sie nicht knechtisch, sondern souverän macht – und das schon jetzt.

Das könnte heißen, dass sich das Verhältnis von Alt und Neu noch mal aufs Äußerste verschärft; das könnte aber auch heißen, dass ihr Gegensatz in nichts zerfällt. Verschärft, weil die verwirrende Quantität der Hunderte von Regeln und Geboten beiseite getan und von einem Einheitspunkt abgelöst wird; nämlich davon, dass es gar nicht mehr darauf ankommt, was einer alles für sich an Geboten erfüllt, sondern allein darauf, zu wem er gehört, diesem einen Haupt einer Weltfamilie. In nichts zerfällt, weil in diesem Gemeinschaftsverband, in dieser Zugehörigkeit alle die einzelnen Regeln nun doch wieder sinnvoll werden, indem sie das reale Leben dieser Familie repräsentieren und spiegeln.

Die Macht und die Wahrheit dieses Tatbestandes bezeugen sogar auch moderne Clans und „Kommunen“ – wie verzerrt auch immer die mitten im Anrennen gegen hergebrachte Gesetzlichkeit und autoritäre Disziplin ihr inneres Gruppenleben alsbald rigoros Regeln unterwerfen. In ihrer Weise erfahren sogar sie die merkwürdige Verschärfung von Alt und Neu, ebenso wie seine Aufhebung.

Der Souverän des Gesetzes

Wer aber darf so anspruchsvoll und versprechend von der Fülle der familia Dei und ihren Regeln sprechen? Dieser Satz des Matthäus im Munde Jesu klingt in der Tat sehr aufreizend formuliert. Er hätte ja lauten können: „Ihr sollt nicht wähnen, dass ich das Gesetz auflösen will, ich will es erfüllen“. Er heißt jedoch gespreizt: „...dass ich gekommen bin .., ich bin gekommen, nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen“. Zweimal: „Ich bin gekommen.“

Das ist die Redeweise eines ausgeprägten Sendungsbewusstseins. Vielleicht gestehen wir solch Sendungsbewusstsein mit einem Lächeln Jugendlichen zu, welche die Welt messianisch erst mit sich beginnen lassen und die Realitäten ihrer Gebundenheiten und ihrer Umwelt noch zu harmlos einschätzen. Wir mussten einst mit Schrecken solch Sendungsbewusstsein Männern wie Hitler zugestehen, in welchem sich ein Mensch titanisch und gotteslästerlich mit dem Gesetz verschmolz – „mein Wort ist Gesetz“ –. Wer aber entmachtet den Verführer, wenn er zu seinem Anspruch auch noch die Mittel der Führung und der Gewalt in die Hände bekommt?

Doch nur der, welcher eben ganz anders „kommt“, „gekommen ist“, und welcher sein Sendungsbewusstsein ganz anders begründen kann. Er kann sagen: „ich bin gekommen, die Fülle zu bringen“ und in geheimnisvoller Einheit zugleich totalen Gehorsam üben und die Macht der Machtlosigkeit mit seinem reinen Opfer ausbreiten. Die Warner und die Ängstlichen haben ganz recht: „Ich bin gekommen, zu erfüllen“, das ist eine umstürzlichere Redeweise, aber es ist mit allen Konsequenzen und mit dem Tod verantwortete Rede. Und sie schafft die mächtige Familie der Machtlosen und erneuert ihre Regeln. Er weiß zu brechen und zu erfüllen und er lehrt zu übertreten und zu halten. In Ihm kommen die Gemeinschaft der Kinder Gottes und das Gesetz zu ihrem rechten Verhältnis.

Das Gesetz dient in Ihm der lebendigen Gottes- und Menschengemeinschaft. Und diese Gemeinschaft hat in Ihm ihr Gesetz, ihre Regeln. Deshalb muss es aber auch umgekehrt heißen: Das Gesetz ohne die Hinwendung zur Gemeinschaft bedeutet tödliche Verlassenheit; es schafft nichts und bleibt eine sinnlose Sammlung von Regeln. Ebenso: Eine Gottes- und Menschengemeinschaft ohne Gesetz bedeutet tödliche Täuschung; sie schafft noch weniger als nichts und dient einem Gotte des Chaos. Das ganze Geheimnis dieses Verses vom Gesetz liegt in der Gemeinschaft mit Ihm, dem Gekommenen und Kommenden, und seiner Gemeinschaft mit uns.

Unter denen, derer wir heute gedenken, sind manche um des schlichten Gehorsams willen gegenüber Gottes Geboten in den Tod gegangen. Einige aber wurden tiefer in das Geheimnis von Freiheit und Gesetz hineingezogen. Sie drangen vor zu der Souveränität des Brechens und Erfüllens. Sie wurden gewürdigt, Zeugen für den zu werden, der dazu kam, dass neue Gemeinschaft von Gerichteten und Geopferten, von Schuldigen und Unschuldigen in der einen Familie Gottes errichtet wurde. Sie haben den unheimlichen Augenblick durchgestanden, in dem der Gehorsame und Korrekte zum Umstürzler wird. Das ist der Augenblick, in dem die chaotischen Umstürzler ihre teuflische Korrektheit entdecken; in diesem Augenblick verlangen sie dann von allen anderen dieselbe Korrektheit, mit der sie schon fertig werden wollen.

Das aber ist der Augenblick, in dem es nicht mehr auf vielfältige Regeln, auf das „Halten“ von Quantitäten, auf ein „Was“ ankommt, sondern in dem alles an dem „Wer“ hängt, dem „Erfüller”, welcher die eine notwendige Gewissheit gibt und alle Rechtfertigung verleiht. Es ist der Augenblick, in welchem das Starren auf die Menge der Gesetze die Identität des Menschen gerade vernichtet, in dem aber das Brechen und das Opfer seine Identität in Freiheit erneuert. In Ihm, dem großen Erfüller, haben unsere Toten die Sterilität und die Tyrannis eines losgelösten Gesetzes von neuem vor uns enthüllt. In Ihm haben sie aber ebenso das Chaotische und Angsterregende einer losgelösten Freiheit gebannt. In Ihm schafft ihr Opfer neues Leben in Gehorsam und Freiheit und macht es erfahrbar: „Ich bin gekommen, nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen.“

Kierkegaard rührte einmal an die Kostbarkeit und die Gabe dieser seltenen Erfahrung, von der wir auch heute leben, als er einmal sagte: „Es wird aber, um die Ewigkeit wiederzubekommen, Blut gefordert werden, aber Blut von einer anderen Art; nicht jenes der tausendweis totgeschlagenen Schlachtopfer, nein, das kostbare Blut der Einzelnen, – der Märtyrer; dieser mächtigen Verstorbenen, die vermögen, was kein Lebender, der Menschen tausendweis niederhauen lässt, vermag; was diese mächtigen Verstorbenen selbst nicht vermochten als Lebende, sondern nur vermögen als Verstorbene: eine rasende Menge in Gehorsam zu zwingen.”