"Lasst uns abwehren den Untergang unseres Volkes und streiten für unser Volk und Heiligtum."

Ernst Wirmer

„Lasst uns abwehren den Untergang unseres Volkes und streiten für unser Volk und Heiligtum.“

Ansprache des Ministerialdirektors Ernst Wirmer, Mitglied des Kuratoriums der Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“, am 20. Juli 1964 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Meine lieben Freunde!

Auf den Totenzettel für meinen Bruder, der am 8. September 1944 an dieser Stätte hingerichtet wurde, haben seine Freunde ein Jahr später, als der böse Spuk verflogen war, das Losungswort der Juden aus den Makkabäerkriegen anderthalb Jahrhunderte vor Christi Geburt schreiben lassen: „Lasst uns abwehren den Untergang unseres Volkes und streiten für unser Volk und Heiligtum.“

Bei sicher jeder Ansprache, die bisher an dieser zentralen Gedenkstätte zu Ehren der Widerstandskämpfer vor allem des 20. Juli 1944 gehalten wurde, hat es angeklungen oder konnte doch nicht verschwiegen werden, dass letztlich religiöser Glaube die häufigste und tiefste Rechtfertigung war, der die Männer und Frauen des Widerstandes ihr Leben gegen das verbrecherische Regime der Ungerechtigkeit einsetzen ließ, das damals in Deutschland herrschte. Die Größe und – hier ist das Wort am Platze – Heldenhaftigkeit des Widerstandes lag vor allem darin, dass Menschen ohne Aussicht auf greifbaren Erfolg oder Belohnung, ja in der Erwartung, für sich und ihre nächsten Angehörigen, denen ihre Liebe galt, Unehre zu erwerben, trotzdem ihrem Gewissen folgten und sich wirklich für Recht und Sitte und den guten Namen ihres Volkes opferten. Diese Haltung und ihr stolzer Gang in den ihnen zugedachten erbärmlichen Tod konnte die notwendige Kraft nicht mehr nur aus politischer Gegnerschaft beziehen, sondern brauchte den Glauben an Gott und seine Gesetze. Es ist darum auch richtig und keine Anmaßung, dass Sie, wie alljährlich, von einer kirchlichen Organisation aufgerufen wurden, am Abend des 20. Juli hierher zu kommen, und dass Sie sich in frommer Stimmung und ehrfurchtsvoller Haltung dieser Stätte nahen. Denn hier hat das deutsche Volk in Wahrheit seine hervorragendsten Streiter für Gerechtigkeit und christliche Freiheit und Sitte verloren. Sie sind hier als Blutzeugen einer christlichen Erneuerung ihrer deutschen Heimat gestorben, wie es ebenfalls auf dem Totenzettel für meinen Bruder heißt, den seine Freunde drucken ließen.

Der zitierte Spruch aus dem ersten Makkabäerbuche gibt Anlass noch zu einem anderen Gedanken, und ich bitte um Entschuldigung, wenn mir verständlicherweise an dieser Stätte immer das Geschick meines Bruders vor Augen steht, und wenn ich an ihm zu exemplifizieren versuche, was auszudrücken mir am Herzen liegt: Der von Anfang an aktivste und am stärksten zur Tat drängende Kern des Kreises, der schließlich am 20. Juli 1944 zum Versuch eines Staatsstreiches schritt, hatte fast spontan und aus instinktivem politischen Widerwillen gegen das politische Konzept des Nationalsozialismus schon vor 1933 gegen das Aufkommen Hitlers gestanden. Als dann am Abend des 30. Januar 1933 SA-Stürme bis zu sechsmal und mehr mit Fackeln durch die Wilhelmstraße marschierten, um dem Volk und dem gering gesagt nicht mehr voll begreifenden, darum aber nicht unschuldigen Reichspräsidenten Macht vorzutäuschen, an diesem Abend wurde im Ekel und Zorn der Gedanke an aktiven Widerstand geboren.

Längst bevor die Verbrechen des Regimes bergehoch zu Tage lagen, längst bevor aus der Einsicht eines stümperhaft und verbrecherisch begonnenen und geführten Krieges und seines sicheren unehrenhaften Endes andere Kreise zum Widerstand stießen oder endlich die Notwendigkeit der Aktion einsahen, fanden sich Politiker, um Möglichkeiten aktiven Widerstandes zu schaffen. Mit dem Aufschrei meines Bruders am Abend des 30. Januar 1933 am Radioapparat: „Dieser Mann ist mein Feind“, begann der Widerstand, begann er zu gleicher Zeit und in ähnlicher Weise bei anderen anderswo.

Doch aus der politischen Gegnerschaft wurde mehr, als sich in den Geschehnissen der folgenden Jahre bewahrheitete, dass diese sogenannte nationalsozialistische Weltanschauung in der Tat antichristlich und verbrecherisch nicht nur in der Anlage und Konzeption, sondern auch in der Durchführung war. Es wurde klar, dass über nur politische Gegnerschaft hinaus die Frage gestellt war, ob man bereit und innerlich vorbereitet sei, einen Kampf auf Tod und Leben gegen die Verkörperung der Ungerechtigkeit, gegen eine Ausgeburt des Satans zu führen. Über die Kalkulation der Erfolgsaussichten in einem politischen Kampf hinaus geriet man zu der tödlich ernsten Frage, ob nicht ohne Rücksicht auf möglichen Erfolg, ja sogar bei sicherem Misserfolg die Pflicht entstanden war, sich den Forderungen des bösen Systems und seiner weiteren Existenz aktiv entgegenzustellen, nein zu sagen, sich zu opfern, um nicht mitschuldig zu werden. Das große Übel eines bösen Staates liegt ja darin, dass innerhalb eines solchen Staates die beruflichen und staatsbürgerlichen Leistungen der einzelnen Person ungewollt aber unausweichlich die doppelte Wirkung auch des Dienstes an den bösen Zwecken des schlechten Staates haben, auch wenn der einzelne Mensch weder diesem Staat noch dessen bösen Zweck einen Dienst erweisen will.

Und in dem Maße, in dem voll unterrichtete und der Aktion fähige Menschen zu Zeiten einer bösen Gewaltherrschaft die Situation unter diesem Gesichtspunkt begreifen, dass jede berufliche und private Handlung, ja sogar das Nicht-Tun, die doppelte Wirkung auch des Dienstes am schlechten Staat erhält, entwickelt sich die Überzeugung, zum Widerstand verpflichtet zu sein. Und so schritten die zunächst aus vielerlei verschiedenen Überlegungen sich zusammenfindenden Angehörigen des Widerstandes fort bis zur Einsicht, dass sie nicht mehr an irgendeiner politischen Front gegen eine Partei standen, sondern zum letzten Opfer aufgerufen waren gegen das in ihrem Volk sich manifestierende Böse. Sie erkannten, dass es galt, abzuwehren den Untergang ihres Volkes und zu streiten für ihr Volk und Heiligtum, zu streiten in den Formen und mit den Mitteln eines Krieges gegen eine fremde Macht.

Der Widerstand und die Tat des 20. Juli 1944, die nicht zuletzt auch den Zweck hatte, der übrigen Welt die Existenz eines anderen Deutschlands sichtbar zu machen, hat in diesen in zwei Sätzen zusammengezogenen Überlegungen eine ihrer Begründungen und Rechtfertigungen. Es wäre möglich, nunmehr zum wievielten Male, des Weiteren der theologischen und juristischen Begründung nachzugehen. Ohne Zweifel haben Sie schon manches dazu gehört und sicher Besseres, als ich jetzt noch sagen könnte. Da man bei diesen Überlegungen zu den fundamentalen Wahrheiten hinuntersteigen muss, auf denen unsere Existenz als Glieder einer Gemeinschaft beruht, ist es auch richtig, wenn der Einzelne sie von Zeit zu Zeit neu bedenkt und manchmal für sich neu entdeckt, damit sie im Allgemeinen und Besonderen für ihn ihre Fruchtbarkeit für sein Verhalten in dieser Welt nicht verlieren. Und sicher haben, dafür liegen zahllose Zeugnisse vor, die Männer des 20. Juli nicht ohne solche Überlegungen und ernsthafte Gewissensprüfungen gehandelt. Möchte jeder, der heute laut vom notwendigen Widerstand gegen den Staat dann schon schreit, wenn ihm der Staat nur Unbequemlichkeiten auferlegt, oder wo es nicht ganz nach seinen privatesten politischen oder quasi-politischen Ansichten geht, möchte jeder sich die Grenzen des erlaubten Widerstandes genauer überlegen. Widerstand ist ein hartes und nüchternes Geschäft, aber nicht Geschrei auf der Straße und nicht mit einem noch dazu durch die Pressefreiheit geschützten Leserbrief an eine Zeitung zu exerzieren.

Trotzdem gilt aber auch eine andere Überlegung, dass man sich nämlich durch die sehr subtilen, letzte Feinheiten und Situationsunterschiede berücksichtigenden Untersuchungen nicht das natürliche Gefühl dafür stören lassen sollte, wann es an der Zeit ist, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Das Gewissen – und das Gewissen ist nach dem bekannten Buch von Annedore Leber im Widerstand gegen Hitler aufgestanden – das Gewissen zeigt uns in der Regel schnell den Weg, wenn man es sich selber nicht nach dieser oder jener Seite systematisch verbogen und verdorben hat. Irgendwie hängt es auch mit der Machtfrömmigkeit, der Obrigkeitshörigkeit zusammen, zu der uns Deutschen die Last unserer Geschichte mit im Mittelalter über 350 absoluten Kaisern, Königen, Fürsten und Grafen erzogen hat, dass der Durchschnittsdeutsche nur schwer sich zu der Einsicht durchringen kann, dass eine Obrigkeit unrechtmäßig sei oder durch ihre Handlungen unrechtmäßig geworden ist. Daher erklärt sich zu einem Teil die manchmal tiefgründige, manchmal aber auch nur haarspalterische und schier endlose Auseinandersetzung um das Widerstandsrecht. Kaum eine andere Nation, nicht die Romanen und auch nicht die angelsächsischen Völker, würden sich mit diesem Streit so beladen. Sie würden die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit ihres Widerstandes getrost denen überlassen, bei denen sie hohe Absicht und Opfermut bereits erkannt und anerkannt haben.

Es hat in manchen der letzten Jahre eine erstaunliche Flut von Referaten, Vorträgen, Reden, wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen über den Widerstand, über Recht und Pflicht zum Widerstand, über Umfang und Grenzen des Widerstandes, über die Frage, ob Hochverrat noch, Landesverrat aber nicht mehr, oder ob beides erlaubt oder nicht erlaubt sei, gegeben. Dazu rechne ich vor allem auch das besonders in einigen Kreisen übliche und nach meiner Meinung schlicht dumme Gerede darüber, ob der Eid auf Adolf Hitler – wenn man ihn nicht leistete, kam man ins KZ, im Krieg an den Galgen – den anständigen Soldaten ohne jeden Ausweg bis zum siegreichen Rückzug in die tiefste Hölle gebunden habe. Ich habe diesem Aufwand immer mit einigem Misstrauen gegenübergestanden und fühle mich durch die Art und Weise, wie ausgerechnet in diesem Jahre der sogenannte Historiker Hoggan von bestimmten Kreisen herausgestellt wurde, bestätigt. Ein Professor, der an seiner Ursprungsuniversität in den USA nicht mehr zu Vorlesungen zugelassen ist, der in seinem Heimatland USA keinen Verleger gefunden hatte, dient in Deutschland als Zeuge für die friedliche Natur eines Systems, das Völkermord und Sklaverei als politische Ziele schon vor 1933 propagiert hatte. Mit manchen Darlegungen über die Berechtigung des 20. Juli, bei denen leichtfertig oder absichtlich zum Beispiel über die Abscheulichkeit von Millionen von Judenmorden hinweggesehen wurde, mit manchen dieser Darstellungen sollte doch nur der 20. Juli in das Licht einer höchst problematischen Angelegenheit gebracht werden, bis man dann mit Hilfe von Hoggan und Konsorten aus dem 20. Juli eine neue Dolchstoßlegende entwickeln könnte. Hüten wir uns, dass solches aus dem im Übrigen gerechtfertigten Anliegen entsteht, dem Umgang unserer Verpflichtungen als Bürger eines Staates mit ernsthaftem Studium nachzugeben.

Kehren wir zurück. Ich habe das Regime, gegen das die kämpften, zu deren Ehren wir heute zusammengekommen sind, das verbrecherische Regime der Ungerechtigkeit genannt. Gerechtigkeit aber, d.h. die Zuteilung des jedem im Verhältnis zum Ganzen Zustehenden und der Schutz der Gerechtigkeit im Zusammenleben der Einzelmenschen untereinander, ist die Aufgabe jeder Herrschaft. Die Machtausübung im Staate durch die Inhaber der Herrschaft hat den Sinn, die Gerechtigkeit, das suum cuique, zu verwirklichen. Wenn aber die Inhaber der Macht die Gerechtigkeit nicht ausüben, dann geschieht wirklich heillos Unrecht. Es gibt kein schlimmeres Übel als ungerechte Herrschaft, die sich keiner Korrektur unterwirft. Durch sie wird zum Schluss auch die privateste Beziehung korrumpiert und vom Bazillus der Ungerechtigkeit angesteckt. Der Hl. Augustinus sagte: „Gerechtigkeit ist jene Ordnung der Seele, wodurch es geschieht, dass wir niemandes Knecht sind – es sei denn Gottes allein.“ Unter Hitlers Herrschaft aber waren wir zu dessen Knechten degradiert. Uns war die Möglichkeit genommen, Gott zu geben, was Gottes ist. Wer kann da noch zweifeln, dass es rechtens war, den Versuch zu machen, diesen Ursprung des Ungerechten, des Bösen wegzuräumen und wieder die Möglichkeit gerechter Machtausübung und damit von echter Politik zu schaffen, insoweit Politik der Verwirklichung der Gerechtigkeit dient? Ich glaube, das ist die Definition des Wortes „Politik“, die ihr ihre wirklich letzten Aufgaben stellt. Und in diesem Sinne haben die Männer des 20. Juli 1944 trotz des Misslingens ihrer Tat ein Recht darauf, dass sie bewusst zu Vorbildern für das politische Leben unseres neuen Staates erklärt wurden. Sie sind die Vorbilder für eine Politik aus dem Gewissen zur Verwirklichung der Gerechtigkeit im Leben ihres Volkes, das sie liebten und das auch heute wieder zu lieben trotz aller Untaten, die in seinem Namen geschahen, sie und erst ermöglichten.

Lassen Sie mich zusammenfassen, was mir am Herzen lag, heute am 20. Jahrestag des 20. Juli 1944 zum Ausdruck zu bringen: Es gibt keinen Grund, ja nicht den geringsten Anlass mehr, über den Charakter des nationalsozialistischen Regimes zu zweifeln. Es war eine Herrschaft des Unrechts und des Verbrechens, eine Herrschaft der Ungerechtigkeit, die im Widerspruch zu Gottes Gebot, die Gerechtigkeit zu hüten, stand. Daran ändern angebliche gute Seiten oder gute Arbeiten nichts, die letzten Endes nur der wirksameren Durchführung böser Absichten dienten. Daran ändern sicher auch politische oder sonstige Fehler der Gegner dieses Regimes innen oder außen nichts. In diesem Fall gibt minus mal minus eben nicht plus.

Ein solches ungerechtes Regime ist das schlimmste und heilloseste Übel hier auf Erden, da es nur mit Gewalt oder nur mit eigenem Einverständnis des Herrschers zum Besseren gewandt werden kann. Außerdem ist das besondere Übel eines schlechten Staates, dass ihm auch gute Leistungen seiner gut gesinnten Staatsbürger zur Stärkung seiner Macht und damit auch zur Stärkung der Potenz des Bösen dienen. Es war daher nicht nur unbedenklich oder der anzuerkennenden Beweggründe wegen noch gerade achtbar, was an Widerstand besonders in Vorbereitung und Durchführung des 20. Juli 1944 geschah. Es war, solange das Regime von außen nicht gestürzt war – höchstes Recht, soweit Einsicht, volle Kenntnis des Bösen und Handlungsfähigkeit vorhanden war – sogar höchste Pflicht, mit allen Mitteln den Sturz und die Beseitigung der Inhaber dieser Herrschaft des Bösen in Deutschland zu betreiben.

Unsere Aufgabe ist es in bezug auf den 20. Juli nicht mehr, etwa nur zugunsten der Feststellung der historischen Wahrheit den Gründen zum 20. Juli und insgesamt zum Widerstand gegen Hitler nachzugehen, oder die Männer des 20. Juli noch nachträglich vor den Richtertisch der Verfassungsjuristen und Moraltheologen zu fordern. Unsere Aufgabe ist es auch nicht, in sehr durchsichtiger Kritik festzustellen, wo man doch hätte viel früher und auch viel schneller handeln können und müssen, wo der Graf Stauffenberg oder ein anderer doch hätte einfach die Pistole ziehen sollen oder wo dieser oder jener die ganze Sache so einfach dadurch hätte erledigen können, dass er sich mit Hitler und einer viel besser ausgewählten reichhaltigeren Umgebung zusammen in die Luft sprengte. Seien wir gewiss, dass sowohl die praktischen wie die theoretischen Fragen des Aufstandes mit ungleich tieferem Ernst von den unmittelbar Beteiligten geprüft wurden. Denn für sie ging es um ihr und häufig auch noch das Leben ihrer Angehörigen, für uns nur noch darum, wer heute politisch Recht hat. Lesen wir die juristischen und theologischen Darlegungen über den Widerstand, von denen es viele und gute gibt, nicht, um den Menschen, die hier starben, nachzurechnen, wo sie fehlten. Sondern studieren wir, die wir zu einem freiheitlichen Leben entschlossen sind, was unsere Aufgabe ist, damit ein solches Leben uns und jedem Nachbar möglich sei oder bleibe. Hier liegt die Bedeutung des 20. Juli, dass sich in diesem Aufstand des Gewissens viele Linien freiheitlichen Denkens aufzeigen, die sich weit zurückverfolgen lassen und zur Nachfolge aufrufen. Unfreiheit, Diktatur und Schreckensherrschaft können viele Ursachen, viele Formen und Gesichter haben, nicht nur die des Nationalsozialismus oder der sowjetischen Diktatur. Und die Arbeit für das eigene Wohlergehen schützt in unserer Zeit, da Menschen und Völker aufeinander rücken, nicht davor, ungewollt schuldig zu werden auch am Nachbarvolk. Was früher für das Geschehen innerhalb eines bösen Staates galt, dass in ihm auch gute und aus guter Gesinnung kommende Leistung die Potenz dieses Bösen steigerte, gilt heute schon für das Leben der Völkerfamilien untereinander. Ich erinnere nur, dass Entwicklungshilfe weithin heute bereits als Verpflichtung und nicht mehr nur als freiwillig gute Tat aufgefasst wird. Insgesamt also sind wir aufgerufen, im höchsten Sinn und Auftrag der Politik politisch zu werden, nämlich alles in Gerechtigkeit einzurichten, das heißt für die Durchführung des Grundsatzes „suum cuique“ mit zu sorgen, der übrigens ja einmal der Wahlspruch eines preußischen Königs hier in Berlin war.

Und denken Sie zum Schluss ab und zu trotz unseres materiellen Wohlergehens und trotz der Erfolge und des Ansehens sowohl der Bundesrepublik als auch besonders der Stadt Berlin daran, dass wir zwar in den Kreis der freien Völker aufgenommen sind, dass aber noch nicht der ganze Berg des Misstrauens gegen unser Volk abgetragen ist, den die Untaten des untergegangenen Regimes aufgehäuft haben. In einer Sammlung von Darstellungen ehemaliger, von Hitler aus ihrer deutschen Heimat vertriebener Deutscher heißt es an einer Stelle: „Kein Ressentiment und kein Hass, sagte ich – was also trennt mich von Deutschland? Eine Trauer, so grenzenlos, dass das Leben einer Generation nicht lang genug sein kann, sie auszuschöpfen. Und die peinigende Erinnerung an die systematische Entwürdigung, an die unsägliche Erniedrigung, in der meinesgleichen leben und sterben musste – überall, wo zwischen 1933 und 1945 im Namen der Deutschen regiert wurde.“

Lesen Sie in den schriftlichen Nachlässen unserer toten Freunde und hören Sie auch dort den Ton tiefer Trauer über Beschmutzung des Namens ihres geliebten Vaterlandes; lesen Sie von der Scham, die diese Männer und Frauen empfanden, dass damals alles Unheil der Welt mit dem Namen deutsch bezeichnet wurde.

Als die Lage Deutschlands immer verzweifelter wurde und auch ein geglückter Staatsstreich die äußere Lage nicht mehr hätte zum Guten wenden können, haben sie ihren Widerstand und endlich die Aktionen des 20. Juli vor 20 Jahren im Grunde nur noch durchgehalten und durchgeführt, um durch ihre Tat den Namen ihres Vaterlandes wieder reinzuwaschen. Sie haben sich geopfert und die Erniedrigung des Gerichtsverfahrens und des sicheren und grausamen Todes auf sich genommen, um mit dem sichtbaren Beweis für die Existenz des Widerstandes auch die Existenz eines anderen, besseren Deutschland vor der Welt aufzuzeigen.

In der Überwindung der Schatten der Vergangenheit, mit denen wir, ob mitschuldig oder nicht, konfrontiert bleiben, kann uns die Pflege des Andenkens an den opfervollen Widerstand in Deutschland am sichersten helfen. Nicht kleinliche oder sogar feindliche Splitterrichterei ihrer einzelne Figuren oder Aktionen des Widerstandes, sondern Achtung des großen Beispiels der tapferen Befolgung der Befehle des Gewissens wird uns unsere Vergangenheit überwinden lassen. Der 20. Juli ist uns bei der Bewältigung unserer Geschichte und unserer Zukunft zur Prüfung gesetzt. Wer sich gegen ihn stellt, wählt, welchen Grund er auch habe, im Effekt das alte deutsche Elend der Vergötzung der Macht, auch wenn sie Unrecht tut, der Abdankung des Gewissens und des Fehlens jeglicher Zivilcourage. Er verwechselt Knechtsein mit bewusstem, frei gewählten Dienst für etwas als gut Erkanntes. Wer sich aber zum 20. Juli bekennt, mag er auch Bedenken im Einzelnen haben, bekennt sich zur Ordnung einer oft mühevollen Freiheit unter Gottes Recht. In diesem Sinne verbeugen wir uns an dieser Stelle vor dem Andenken großer Deutscher, wahrer Blutzeugen für eine christliche Erneuerung ihrer Heimat.