Niemals in Finsternis

Odilo Braun

Niemals in Finsternis

Predigt von Pater Odilo Braun beim ökumenischen Gottesdienst am 20. Juli 1971 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Meine Freunde!

Es sind jetzt 16 Jahre her, da hatte ich ein Erlebnis. Im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde erschienen unter vielen anderen Flüchtlingen ein Mann und eine Frau. Sie waren Deutschungarn und waren nach dem Zusammenbruch in Ungarn nach Sibirien verschleppt worden. Hier im Notaufnahmelager gab es ein erstes Wiedersehen. Sie waren Eheleute, waren bei der Gefangennahme auseinander gerissen worden und hatten mehr als zehn Jahre lang nichts voneinander gehört. Nun führte sie hier ein „Zufall“ wieder zusammen. Viele, die dieses Wiedersehen miterlebten, sprachen von einem Wunder. Der Mann war schon etwas älter. Ihm hatte das, was hinter ihm lag, schwer zugesetzt. Die Frau dagegen sah einen mit hellen, fröhlichen Augen an und war sofort im Bilde, wenn man ihr etwas erklärte, was sie und ihren Mann anging. Als es für die beiden zum Abflug ins Bundesgebiet kam, suchten sie mich noch einmal auf, um sich zu verabschieden. Ich wollte die Frau – sie hatte zehn Jahre lang Hunderte von Metern unter der Erde in einem Bergwerk arbeiten müssen – darauf hinweisen, dass nun nach einem langjährigen Leben in der Finsternis ein besseres und helleres Leben anfange. Da fiel sie mir ins Wort und sagte: „Pater, ich war niemals in Finsternis, in mir war immer ganz helles Licht, denn Er war da.“ Ich war, ich muss es gestehen, zunächst etwas betroffen und dann stieg in mir eine ganz große Dankbarkeit auf, angesichts dieses Wunders der göttlichen Liebe.

Unwillkürlich stand der Prolog des Johannisevangeliums vor mir: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott, alles ist durch dasselbe geworden, und ohne dasselbe ist nichts geworden, was geworden ist, In Ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht erfasst.“ Hier begegnete mir nun eine schlichte einfache Frau, die das Licht erfasst hat. Sie hat es so erfasst und war so von ihm erfüllt, dass auch das furchtbarste Erleben und Erleiden, Hungersnot und Bedrängnis ihr nicht das Licht rauben konnte.

Meine Freunde, ich habe viel darüber nachgedacht. Da ist vieles aus unserer Notzeit in mir wieder lebendig geworden. Ich musste daran denken, wie viele unserer Kampf- und Notgefährten auch dieses Lichtwunder erleben durften. Wenn, verursacht durch die zugefügte Qual und Bedrängnis, Kleinmut und Verzagtheit zu einer neuen Qual werden wollten – dann war urplötzlich der Gedanke da an den Sinn und Zweck das Unterfangens, das all das Schwere über sie gebracht hatte. Und die Finsternis musste dem Licht weichen, denn um den Brüdern und Schwestern das Licht zu bewahren, waren sie ja zum Kampf und zum Opfer angetreten.

Heute scheint es mir, leben wir in einer Zeit, in der die Feigheit und Erbärmlichkeit vorherrschend sind. Herrschsucht, Eitelkeit, Ehrsucht, Bequemlichkeit bestimmen das Leben der Menschen, auch derer, die nicht in der Finsternis leben wollen.

Eucharistie-Feier begehen wir, Christus will zu uns kommen, um in uns zu leben, um zu helfen, dass in uns immer mehr das Licht zur Geltung kommen kann. Dazu gehört Mut, den der Herr durch Sein Leben in uns geben will.

Lassen Sie mich berichten aus der schlimmsten Zeit, in der sich so viele gleichschalten ließen und Diener der Finsternis geworden sind. Auch in dieser Zeit gab es mutvolle, gnadenerfüllte Lichtträger. Da war in der Zeit der schmachvollsten Unterdrückung ein schlichter, einfacher Metzgermeister. Er fuhr eines Tages, im Jahre 1943, in seinem Pferdewagen über Land, um Vieh einzukaufen. Da kam er an einer Straßenbaustelle vorbei und er sah ausgemergelte Gestalten in gestreifter Kleidung, die mit letzter Kraft, dem Zusammenbrechen nah, Steine schleppten. Zunächst war bei ihm ein großes Erschrecken, dann das Erkennen, was da vor sich ging. Ohne lange zu überlegen, griff er in ein Fach seines Wagens, fand da ein Butterbrot. Und nachdem er links und rechts Ausschau gehalten hatte, warf er dieses Butterbrot einem dieser erbarmungswürdigen Menschen zu. Und die Folge dieses Erlebnisses war, dass er drei- und viermal wöchentlich mit seinem Wagen – mit Butterbroten bestückt – diesen Weg nahm, um Brüdern, die in letzter Not sich befanden, barmherziger Samariter zu sein.

Ein zweites Erlebnis: Eine junge Jüdin war in Gefahr, eine junge Frau, der man ihre jüdische Abstammung ansehen musste. Man hatte sie verborgen. Geld und Lebensmittel waren kein Problem. Die Schwierigkeit lag in der Bleibe. Immer wieder musste die Herberge gewechselt werden, weil immer wieder neue Gefahr auftrat. Als wieder einmal die Not und Gefahr riesengroß wurde, ging ich zu dem damaligen Domprediger, der in der Nähe des Anhalter Bahnhofes wohnte. Wir beratschlagten lange. Plötzlich sagte er: „Kommen sie mit.“ Wir gingen in die Stresemannstrasse zur Clemenskirche, wo er in seinem Beichtstuhl erwartet wurde. Wir gingen in die Kirche hinein. Vor seinem Beichtstuhl standen einige Männer und Frauen. Er winkte einer Frau. Wir gingen zusammen hinaus. Draußen machte er uns miteinander bekannt und ging wieder hinein. Wir standen draußen, und ich machte nun diese mir fremde Frau mit meinem Anliegen vertraut. Als ich ihr sagte, worum es ginge, sagte sie sofort, ohne lange zu überlegen ja. Ich fragte sie nach dem Beruf ihres Mannes. – Hoher Ministerialbeamter! – Ich fragte nach der Zahl der Kinder – es waren fünf! – Ich fragte nach dem Alter des jüngsten Kindes. Die Antwort lautete: fünf Jahre. Darauf bedankte ich mich für die Bereitschaft, erklärte aber, dass die Gefahr zu groß sei.

Warum bringe ich diese Erlebnisse? – Die Menschen, die ohne Bangen und Zagen bereit waren, zu helfen, obgleich sie genau wussten, welchen Gefahren sie sich damit aussetzten, wollten und konnten nicht feige sein, weil sie im Licht bleiben wollten.

Ihrer und unserer Toten gedenken wir in dieser Stunde. Sie leben im Lichte des Herrn und sind vor dem unendlichen Gott unsere Fürbitter, dass Seine Gabe der heiligen Eucharistie uns die Kraft und den Mut schenken möchte, in der Finsternis, die uns umgibt, mutige und selbstlose Diener des Lichtes zu sein.

Amen.