Opfer für die Ehre des deutschen Volkes

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Heinrich von Brentano

Opfer für die Ehre des deutschen Volkes

Gedenkrede des Bundesministers des Auswärtigen Dr. Heinrich von Brentano am 20. Juli 1961 anlässlich der Einweihung einer Gedenktafel für die im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 hingerichteten Angehörigen des Auswärtigen Dienstes im Auswärtigen Amt, Bonn

Es ist nicht leicht, den 20. Juli 1944 heute, nach 17 Jahren, zu deuten und zu verstehen. Am 20. Juli 1954 war ich in Berlin. Damals sprach der Bundespräsident Theodor Heuss und zu Beginn seiner Rede sagte er, dass uns nichts tiefer bewegen könne als das Bewusstsein: an diesem Tage bekennen zu dürfen und danken zu können.

Wir, die wir diesen Tag und das, was ihm vorausging und was ihm folgte, erlebten und überlebten, sollten vielleicht schweigen. Denn wir waren Zeugen dieses inneren Konfliktes zwischen Pflicht und Gewissen, zwischen Gehorsam und Ehre, der die Menschen zum Aufstand trieb, derer wir heute in tiefer Achtung gedenken. Ich wage es nicht, auch nur den Versuch zu unternehmen, mich heute und hier mit diesem Widerstreit der Gefühle auseinander zu setzen, der die Männer und Frauen des 20. Juli innerlich quälte und zerriss. Die Staatsführung, die sich anmaßt, im Namen des deutschen Volkes zu sprechen, hatte dieses Volk in beispiellose Verbrechen und die Welt in namenloses Unglück gestürzt. Trotzdem forderte sie von den Deutschen blinden Gehorsam.

Diese Forderung zu erfüllen, bedeutete nichts anderes als zum Mitschuldigen an Verbrechen und Mord zu werden. Den Gehorsam zu verweigern konnte bedeuten, das deutsche Volk dem Untergang auszuliefern. Denn die ganze Welt hatte sich zusammengeschlossen, um das deutsche Volk zu bestrafen für das, was unter Missbrauch seines Namens an Unrecht und Verbrechen geschehen war. Und unter denen, die diese Strafe forderten, waren auch die, denen das sittliche Recht und der politische Auftrag fehlten, diese Aufgabe zu erfüllen.

Das ist es, was uns so tief bewegen und erregen muss: dass die Frage damals nicht nur lautete, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Zwang und Freiheit zu wählen. Die schicksalhafte Verstrickung, in die das deutsche Volk hineingeführt war, und die geradezu diabolische Fragestellung an das deutsche Volk erheben den Konflikt, in dem diese Menschen sich befanden, aus dem Bereich des Politischen in den der sittlichen Verantwortlichkeit. Wir wissen, dass die Menschen, derer wir heute gedenken, sich dieser Fragestellung nicht entzogen haben. Das, was sie gedacht, das, was sie gesagt und was sie geplant haben, ist gottlob erhalten geblieben.

Ich will nicht den Versuch unternehmen, mit eigenen unzulänglichen Worten auszudrücken, was sie bewegte. Ich möchte sie selbst sprechen lassen. Einer von ihnen, Pater Delp, schrieb nach seiner Verhaftung: „In diesen Wochen der Gebundenheit habe ich dies erkannt, daß die Menschen immer verloren sind und dem Gesetz ihrer Umwelt, ihrer Verhältnisse, ihrer Vergewaltigungen verfallen, wenn sie nicht einer großen inneren Weite und Freiheit fähig sind. Wer nicht in einer Atmosphäre der Freiheit zu Hause ist, die unantastbar und unberührbar bleibt allen äußeren Mächten und Zuständen zum Trotz, der ist verloren. Die Geburtsstunde der menschlichen Freiheit ist die Stunde der Begegnung mit Gott.“

Er sagte das, was die anderen dachten, auch die, die er nicht kannte und die ihn nicht kannten. Denn gerade das ist das Geheimnis des 20. Juli, dass Menschen, die aus verschiedener politischer Vergangenheit, aus verschiedener sozialer Herkunft, aus verschiedener politischer Zielsetzung handelten, sich zu dem gemeinsamen Auftrag und zur gemeinsamen Verpflichtung bekannten. Sie taten es, ohne sich zu kennen, und sie taten es, wenn sie sich kennen lernten. Einer von denen, dessen Name auf der Tafel steht, die heute von mir enthüllt werden soll, Adam von Trott zu Solz, schrieb am Tage seiner Verurteilung zum Tode: „Es war alles ein aus der Besinnung und Kraft unserer Heimat aufsteigender Versuch, ihr in allen modernen Wandlungen und Erschwerungen unwandelbar bleibendes Recht und ihren tiefen unentbehrlichen Beitrag gegen den Übergriff fremder Mächte und Gesinnungen zu erhalten und zu vertreten.“

Das dachten sie, als sie sich zusammenschlossen zunächst im lautlosen Aufstand ihrer inneren Not und getrieben von der Unruhe ihres Gewissens. Und so kamen sie zusammen zu dem Entschluss, in Deutschland das zertretene Recht wiederaufzurichten und über alle Ordnungen des menschlichen Lebens wiedereinzusetzen: Gottesfurcht an Stelle von Gewalt und Terror, Wahrheit und Sauberkeit an Stelle von Lüge und Eigennutz zurückzugewinnen, weil die Lebensordnung eines Volkes wie die des Einzelnen der absolut gültigen Normen ebenso bedarf wie der Rechtfertigung vor Gott. Und was sie wollten, haben sie auch uns hinterlassen. In dem Aufruf an das deutsche Volk steht ein Satz, den ich wiederholen möchte: „Unserer Väter wären wir nicht würdig, von unseren Kindern müßten wir verachtet werden, wenn wir nicht den Mut hätten, alles, aber auch alles zu tun, um die furchtbare Gefahr von uns abzuwenden und wieder Achtung vor uns selbst zu erringen.“

Aus allen Teilen des deutschen Volkes, aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens schlossen sich die Menschen zusammen, die am 20. Juli vom Bekenntnis zur Aktion schritten. Sie folgten denen, die vor ihnen gehandelt hatten und sie gaben denen ein Beispiel, die nach ihnen Freiheit und Leben hingaben, um die Überlebenden freizumachen und ihnen die Verstrickung in das Handwerk des Mordes zu ersparen. Auch die Namen zahlreicher Angehöriger des Auswärtigen Amtes stehen auf dieser Ehrentafel des deutschen Volkes. Ich bin stolz darauf, ihr Andenken heute zu ehren, und ich verneige mich vor diesen Männern und vor ihren Angehörigen, die in dieser Stunde unter uns sind. Ich nenne die Namen, die auf dieser Tafel eingegraben sind: Albrecht Graf von Bernstorff, Eduard Brücklmeier, Herbert Gollnow, Hans-Bernd von Haeften, Ullrich von Hassell, Otto Kiep, Richard Kuenzer, Hans Litter, Herbert Mumm von Schwarzenstein, Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg, Adam von Trott zu Solz.

Niemand sollte an dieser Tafel gleichgültig vorübergehen. Aber besonders für die jungen Angehörigen des Auswärtigen Dienstes muss die Erinnerung an diese Männer wachgehalten werden. Ihnen blieb es erspart, die Zeit des Dritten Reiches bewusst und in der Verantwortung mitzuerleben. Sie waren dem tragischen Konflikt zwischen Pflicht und Gewissen nicht ausgesetzt. Der gemeinsame entschlossene Wille des deutschen Volkes mag uns davor bewahren, dass noch einmal Ähnliches in Deutschland geschieht. Sie, die in die Verantwortung hineinwachsen, haben die Pflicht der Wachsamkeit. Sie werden dieser Pflicht gerecht, wenn sie sich immer bewusst bleiben, dass Gehorsam und Freiheit ihre Begrenzung finden in der sittlichen Bindung des Einzelnen vor dem eigenen Gewissen, und was ist das Gewissen anderes als der Anruf Gottes an den Menschen. Der Gewissenlose ist nicht gehorsam sondern unterwürfig, er ist nicht frei sondern hemmungslos. Wenn wir diese Maßstäbe anerkennen, dann erfüllen wir das Vermächtnis der Toten, die um der Freiheit und der Ehre des deutschen Volkes willen ihr Leben gaben.