Prinzipien unseres Handelns

Karl Meyer

Prinzipien unseres Handelns

Predigt von Pater Provinzial Dr. Karl Meyer am 20. Juli 1985 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

„Darauf ging Jesus in die Synagoge der Pharisäer. Dort saß ein Mann, dessen Hand verdorrt war. Sie fragten ihn: Ist es am Sabbat erlaubt zu heilen? Sie suchten nämlich einen Grund zur Anklage gegen ihn. Er antwortete: Wer von euch wird, wenn ihm am Sabbat sein Schaf in eine Grube fällt, es nicht sofort wieder herausziehen? Und wie viel mehr ist ein Mensch wert als ein Schaf! Darum ist es am Sabbat erlaubt, Gutes zu tun. Dann sagte er zu dem Mann: Streck deine Hand aus! Er streckte sie aus, und die Hand war wieder ebenso gesund wie die andere. Die Pharisäer aber gingen hinaus und fassten den Beschluss, Jesus umzubringen.

Als Jesus das erfuhr, ging er von dort weg. Viele folgten ihm, und er heilte alle Kranken. Aber er verbot ihnen, in der Öffentlichkeit von ihm zu reden. Auf diese Weise sollte sich erfüllen, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist: Seht, das ist mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem ich Gefallen gefunden habe.

Ich werde meinen Geist auf ihn legen, und er wird den Völkern das Recht verkünden. Er wird nicht zanken und nicht schreien, und man wird seine Stimme nicht auf den Straßen hören.

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen, bis er dem Recht zum Sieg verholfen hat. Und auf seinen Namen werden die Völker ihre Hoffnung setzen.“

(Mat.12,9b -21; Evangelium vom Samstag der 15. Woche)

I.

Was soll ich tun? Das ist eine Grundlage des Menschen. Viele Bücher sind darüber geschrieben worden. Philosophen haben versucht, die Prinzipien unseres Handelns aufzudecken und festzulegen, damit wir von dort aus sicher die richtigen Folgerungen ziehen können. Aber die Quellen unserer Handlungen sind tiefer als theoretische Prinzipien. In unseren Handlungen ahmen wir die Vorbilder nach und gewinnen darin Sicherheit, wir schöpfen Kraft aus der lebendigen Gemeinschaft mit unseren Eltern und Familien und unseren tieferen Ursprüngen.

Für uns Christen ist Jesus Christus das Vorbild, seine Nähe ist unsere letzte Kraftquelle.

Jesus: Auf ihn schauen wir und an ihm nehmen wir Maß. Heute zeigt die Kirche uns ihn durch diese Geschichte. Was mag sie uns sagen?

1. Wenn Jesus einen Menschen sieht, der der Hilfe bedarf, dann tritt für ihn alles zurück hinter dem liebenden Willen Gottes für diesen Menschen.

Jesus kommt hier in eine schwierige Situation: Er ist in die Synagoge derer gegangen, die sich bereits als seine Gegner formieren. Und da: ein Mann mit einer verdorrten Hand. Es sieht so aus, als hätten sie ihn geholt, um Jesus eine Falle stellen zu können. Dem armen Kerl ist dafür vielleicht eine Belohnung versprochen worden, und er kann es sich nicht leisten, anständig zu sein. Jesus sieht den Mann, und er sieht die Falle, aber noch mehr sieht er diesen armen Menschen, und die übrige Welt scheint in den Hintergrund zu treten. Der Vergleich, den Jesus im Gespräch bringt, legt das nahe: „Wer von euch, der ein einziges Schaf hat, ...“ sagt er. Hören wir nicht Jesu anderes Gleichnis: Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Mann, der 100 Schafe hat und eines davon verliert. Er lässt die 99 in der Wüste und geht dem verlorenen nach – als ob es die 99 nicht gäbe.

„Ich habe mein Schaf wiedergefunden, das ich verloren hatte“, sagt er zu seinen Freunden, nachdem er dieses 100. Schaf wiedergefunden hat. Das Schaf unter vielen wird zum einzigen Schaf durch den liebenden Blick des Hirten.

An dem natürlichen Verhalten der Menschen zu den Tieren nun zeigt Jesus den Sachverhalt auf: An den Tieren übt der Mensch „Barmherzigkeit“, eine Barmherzigkeit aus dem sicheren Gefühl der Überlegenheit, eine Barmherzigkeit auch als versteckte Wahrnehmung der eigenen Interessen. Jesus stellt das Mitleid mit der armen Kreatur in die Mitte, gesteht seinen Gegnern ein von Natur aus mitleidiges Herz zu und kommt erst dann auf den springenden Punkt: Und wie viel mehr wert ist ein Mensch als ein Schaf?! Ihm muss man sofort Gutes tun! Und damit setzt er all die ‚edlen’ Argumente für die Heiligkeit des Sabbats schachmatt, die Gott nicht entsprechen, die Argumente, die ein Desinteresse am Menschen im Namen Gottes erlauben und es am Tag des Herrn geradezu garantieren. JESUS heilt den Menschen aus der Souveränität der Liebe Gottes sofort. „Wie viel mehr wert ist ein Mensch als ein Schaf:“ Der johanneische Christus sagt: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen Sohn dahingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern das ewige Leben habe.“ Jesu Anwesenheit in der Welt ist die Verkörperung des Satzes:

„Wie viel mehr wert ist ein Mensch als ein Schaf!“

2. Ein Zweites zeigt uns die Geschichte:

Wenn Jesus mit Menschen zu tun hat, die ihn und seine Sendung ablehnen, dann tritt er selbst ganz zurück, um nicht im Wege zu stehen, nicht unnötig Eifersucht zu wecken. Er beweist sich nicht selbst. Er ist der Mittler des Göttlichen, indem er möglichst am Rand steht. Die einzige Grenze seiner Zurückhaltung ist die Ehre des Vaters – und die ist der lebendige Mensch. So wird er aus Vorsicht nicht untätig, sondern er heilt die vielen, die ihm folgen, legt ihnen aber Schweigen auf, und mit den anderen hat er die Geduld seines Vaters, der die Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse. Er löscht den glimmenden Docht nicht aus, er bricht nicht das geknickte Rohr. Er spricht mit ihnen, er wirbt um ihr Herz.

So bringt er die Menschen zu ihrem Recht, bringt ihr Ureigenes zur Geltung. Der Evangelist weiß: Sie bringen ihn an den Rand, nach Golgatha, sie bringen ihn um, an den Rand der Unterwelt, aber Gott erweckt ihn von den Toten, und der Auferstandene ergreift mit seinem Geist die Herzen der Menschen. Heilung geht weiter, und Recht auf Leben wird weiter durchgesetzt.

3. Da Jesus so handelt und so unabwendbar bei ihnen ist, merken die Menschen: hier geht es um sie selbst. Darum wird Jesus, der stille, der an den Rand geht, die Mitte und das Ziel der Herzen. Jesu Fülle, seine Macht zu heilen, sein gutes Wort, seine Weise zu leben und zu handeln, sind einfach für Menschen interessant. Und da er jeden angeht, gewinnt er eine umfassende Perspektive. Matthäus sieht deswegen in Jesus die Weissagung des Jesaja erfüllt: Auf seinen Namen hoffen die Völker.

II.

Jesus das Ziel und die Mitte der Seelen, die Hoffnung aller Völker, das bedeutet nun auch:

Durch alle Jahrhunderte geht es darum, ihm nachzufolgen, an ihm zu bleiben, auf ihn zu schauen, wie er zu leben.

Viele haben das getan, bekannte und unbekannte Christen. Heute, unter diesem Galgen, schauen wir auf die Christen aus dem Widerstand gegen Adolf Hitler, die hier ihr Leben lassen mussten, aber auch auf die, die in dieser Stadt anderswo standrechtlich oder meuchlings erschossen wurden, auf die, die hier in Berlin, damals ein Zentrum der Macht des Bösen, für Recht und Freiheit gearbeitet haben und von hier deportiert wurden, auch auf die, die der Bedrohung ihres Lebens gerade noch entkamen. Wen soll ich in diesem Jahr nennen, wen als Beispiel der Nachfolge vorstellen? Alle sind sie verschieden, und die Spielarten der Nachfolge sind verschieden:

Ein Militär reagiert anders als ein Zivilist, der Laie anders als der Priester und Theologe, der Arbeiter anders als der Intellektuelle, der Katholik anders als der Protestant. Und alle sollen nach Gottes Plan zum Wohl der Menschen und Völker Verschiedenes beisteuern. Schaue ich von heute und von außen auf ihr Leben, so meine ich sagen zu dürfen: Es sind häufig Menschen mit einer umfassenden Herzensbildung, einer fröhlichen Liebe zu allen Wesen der Schöpfung, aber mit dem klaren Wissen, das sich in Jesu Wort ausdrückt: Wie viel mehr ist ein Mensch wert als ein Schaf!

Auch der andere Zug der Nachfolge ist ihnen eigen: Man darf Gott nicht im Wege stehen mit seinem Eigenwillen, mit kurzatmigen Perspektiven, die nur zu oberflächlichen Ordnungen führen, ohne dass die Herzen bekehrt werden, man muss Gottes Wegen nachspüren und alle Dinge zum Guten zu lenken versuchen. Aber wo es um die Ehre Gottes geht – und das ist immer auch der lebendige Mensch, gibt es Punkte, wo man den Gottlosen und Mächtigen und ihren Gedankenkonstellationen im Wege stehen muss.

Daher die langen Überlegungen, was denn zu tun richtig und verantwortbar sei.

Von daher gab es aber auch deutliche Zeichen, so deutlich, wie sie in einem totalitären Staat möglich sind.

Klaus von Dohnanyi hat letztes Jahr erzählt, wie seine Mutter mit ihm in Berlin an der Straßenbahnhaltestelle stand. Vor ihnen kehrte ein alter jüdischer Mann die Straße, und er versuchte vergeblich, die volle Karre auf den Bürgersteig zu schieben. Da setzte seine Mutter, „die deutsche Frau“ (im Sinne der Naziideologie), die Einkaufstaschen, die sie in ihrer Hand hielt, ab und schob für den jüdischen Mann die Karre auf das Trottoir. Oder denken wir an Dompropst Bernhard Lichtenberg: Täglich betete er öffentlich für die verfolgten Juden.

Sie alle kennen eine Vielzahl großer und kleiner derartiger Geschichten, die Sie berichten könnten.

Da diese Zeugen auf diese Weise mit Christus verbunden sind; mit ihm gleichsam einen Leib bilden, sind sie in die Hoffnung der Völker, die auf Seinen Namen gerichtet ist, mit eingeschlossen.

III.

Wir heute stehen in anderen Zusammenhängen, in anderen Entscheidungen als im Dritten Reich. Was ist für uns zu tun? Auch für uns gibt es keine Rezepte. Jeder hat seinen eigenen Weg. Er ist anders für den, dem die Vaterlandsliebe selbstverständlich ist, als für den, dem sie ausgetrieben wurde, anders für den Menschen, dem Opfer während eines Krieges auferlegt werden als für den, der die Opfer suchen oder gar hochstilisieren muss, der Weg ist ein anderer für den, dem die Jugend genommen und das junge Glück zerschlagen wurde durch den Wahnsinn der Mächtigen oder den Untergang Deutschlands, als für den, dem das Glück selbstverständlich und einforderbar erscheint, anders ist der Weg für den, der unter der Arbeitslast stöhnt, als für den, der aussichtslos arbeitslos ist. Es gibt nur das klare Programm:

In seine Nachfolge eintreten. Lernen, diesen Satz nachzusprechen: „Wie viel mehr ist ein Mensch wert als ein Schaf! „ Jeden Tag neu bei der Begegnung mit Menschen sagen: „Wie viel mehr ist ein Mensch wert als ein Schaf! Wie unendlich wertvoll ist dieser Mensch, der mir gerade begegnet, vor Gott!“

Dafür bedarf es der Vorbereitungen, denn es führt zu nichts, wenn man sich diesen Gedanken einredet und sich wie ein Prinzip vor das geistige Auge hält. Wenn dieses Wort nicht aus dem Herzen kommt und die Fähigkeiten des Herzens ergreift, heilt es die Menschen nicht. Zur Vorbereitung gehört: Lernen, an den Rand zu treten, am Rande zu stehen, so dass die Sache Gottes Vorrang hat, sich an den Rand stellen zu lassen. Wir sollen nicht irgendwie am Rande stehen, sondern so, wie es das Gedicht „Am Rande“ von Christine Busta („Unterwegs zu älteren Feuern“, Gedichte, Salzburg, Otto Müller 1965) sagt:

„Manchmal auf einer Schwelle sitzen,

ausruhn vom Gehn, das nicht ankommt,

die Tür hinter dir und nicht klopfen.

Alle Geräusche wahrnehmen

und keines verursachen.

Das Leben, das dich nicht annimmt, erhören:

im Haus, auf der Straße,

das Herz der Maus und des Motors,

die Stimmen von Luft und Wasser,

die Schritte des Menschen, der Sterne,

das Seufzen von Erde und Stein.

Manchmal setzt sich das Licht zu dir

und manchmal der Schatten,

treue Geschwister.

Staub will nisten auf dir und

unbetretbarer Schnee.

Langsam unter der Zunge

wärmt sich dein letztes Wort.“

Nur in dieser Geistesgegenwart offenbart sich jedem der Ort und die Zeit, da er in Gottes Namen in die Mitte zu treten und im Wege zu stehen hat. Nur in dieser Geistesgegenwart bildet sich das entscheidende Wort, das zum letzten werden kann, ein Vermächtnis voll Menschlichkeit und Wärme.

Gott gebe uns durch sein Wort und sein heiliges Sakrament seine Gnade dazu.

Amen.






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