Rebellion des deutschen Adels
Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Walter von Cube
Rebellion des deutschen Adels
Gedenkrede von Rundfunkintendant Walter von Cube am 20. Juli 1954 im Herkulessaal der Residenz, München
Meine Damen und Herren, die Kundgebung, die uns heute hier vereint, gilt den Männern, den Opfern, dem Geist des 20. Juli 1944. Sie ist in vieler Hinsicht von besonderer Art: nicht nur der Beteiligten wegen, deren Herkunft und Rang, deren Lebensart und innere Ordnung den verschiedensten politischen und sozialen Kategorien angehören und die gleichwohl keine Versammlung von Ständen oder Parteien, vielmehr eine tausendfältige Gemeinde einzelner darstellen; nicht nur der schönen Freiheit wegen, mit der sie einem Ruf gefolgt sind, der weder Vorteile noch Kurzweil noch patriotisches Ereifern verspricht - sondern vor allem: weil wir die Melodien nicht spielen, die üblicherweise auf des deutschen Volkes Wunderhorn geblasen werden.
Revolutionären und Märtyrern singt man keine Lieder und im deutschen Pantheon herrscht Ruhe und Ordnung. Unsere großen Geister, gemeinhin als „Dichter und Denker“ zu einer Art Stabreim-Slogan für vaterländischen Gebrauch verstümmelt, sind selten oder nie zu wirkenden Paten unserer politischen Bildung geworden; Goethes europäische Humanitas, Schillers prachtvoll-pathetischer Freiheitsatem, Mörikes stiller Glanz, Hölderlins marmorner Sprachaufruhr, Heines nächtlich leuchtende Verse - all das ist ins deutsche Staatsbewusstsein nicht gedrungen und wenn es, wie bei Theodor Heuß, zum Besitz einiger weniger gehört, so bestaunen wir’s als Ausnahme, und es mischt sich in unseren Stolz ein ganz klein wenig Zweifel, ob Ebert oder Hindenburg, Hindenburg vor allem, nicht doch eigentlich besser wären. Ein Journalist, ein Literat, ein Professor als Präsident - das ist ja beinahe ein deutsches Wunder. Nun, da er’s war, ist er’s geblieben, Gott sei Dank.
In keinem Land der Welt hat das Bestehende, nur weil es besteht, so viel Autorität wie bei uns. Nicht immer, meine Damen und Herren, dürfen wir in dieser Erfahrung einen Vorzug erkennen. Das bis-zuletzt-Festhalten an Zuständen, die längst der Reform bedürfen, die eigensinnige Taubheit für das Grollen des Schicksals, das überwunden oder erlitten werden will, auch das resignierte Warten auf das, was höheren Orts geschieht - dieser ganze Mangel an Mut und Einsicht dem politischen Geschehen gegenüber hat 1918 die Monarchie und 1933 die Republik zugrunde gehen lassen; beide hätten gerettet werden können, würden sie ihre Autorität nicht aus dem Sein sondern aus dem Handeln bezogen haben. Hatte sich dergestalt die Politik immer mehr dem Geist entfremdet, der zuerst neben ihr und schließlich gegen sie stand, hatte sie weiter in einer seltsamen Erstarrung weder das Königtum noch die Weimarer Demokratie mit dem Volk des 20. Jahrhunderts zu vermählen vermocht, auf dass neues und künftiges Leben erblühe, so hatte sie drittens - und das war vielleicht das Schlimmste - die Beziehung zur Sittlichkeit verloren. Nicht nur in Deutschland, aber am Auffallendsten in Deutschland, hatte man schon Jahrzehnte vor Hitler begonnen, in der Politik Macht mit Recht, Erfolg mit Verdienst, Gewissen mit Schwäche zu identifizieren. Es waren diese Fehler, vermehrt um die Brutalität der Dummheit, die der Nationalsozialismus zu einem einzigen Frevel steigerte. Und es sind die ihnen entgegengesetzten Tugenden, die die Männer des 20. Juli noch im Tode auszeichnen. Wenn nichts anderes, dann müsste der Sinn für menschliche Größe und menschliche Würde jenen den Lorbeer flechten, denen ihn die Geschichte versagt hat.
Aber was ist’s? Der Lorbeer gedeiht nicht. Keine Hand will ihn recht pflegen, jede reicht ihn weiter, der Nächste möge die Toten bekränzen.
Der 20. Juli ist ein umstrittenes Datum geblieben, ein Datum, etwas Gegebenes im wahrsten Sinne, etwas Auferlegtes. Uns, die wir hier sind, gilt das Wort im Verstande einer Prüfung, eines reinigenden, eines einigenden Gedenkens an die Flamme des edlen Widerstandes in der deutschen Finsternis. Sie war entzündet - ich zitiere Dr. Gerstenmaier, den einzigen Überlebenden aus dem engeren Kreis um den Grafen Moltke - sie war entzündet „zur Rettung Deutschlands, zur Rettung seines Blutes und seiner Erde, zur Rettung seiner Freiheit und zur Rettung seiner letzten Würde in der Weltgeschichte“. Etwas Auferlegtes - nun, anderen ist dies Auferlegte lästig, weil sie nicht hineinhorchen wollen in die Vergangenheit, die so viel Schuld so vieler birgt oder weil sie sich das große Vergessen zu erhalten wünschen, welches ihnen erlaubt, unverändert, ungestört und undankbar weiterzuleben als hätten sie nie gelobt, tätige Einkehr zu halten, wenn nur endlich die Bomben, der Krieg, das Hungern vorbei seien. Wieder andere sehen das Auferlegte überhaupt nicht; für sie, die Törichten, die Gehässigen, die Unbelehrbaren, die angesichts eines Ozeans von Blut weder den Teufel noch einen Gott spüren, waren die 4980 Opfer des 20. Juli - 4980 Erschossene, Gehenkte oder zu Tode Gemarterte - für sie sind diese vom Schicksal furchtbar Auserlesenen nicht einmal die kleinste Münze des Gewissens, nämlich vergessen zu wollen, wert. Dietrich Bonhoeffer, Pfarrer der Bekennenden Kirche, ermordet im Konzentrationslager Flossenbürg, hat folgende Aufzeichnung hinterlassen: „Die Frechheit, die ihr Wesen in der Mißachtung aller menschlichen Distanzen hat, ist eben so sehr das Charakteristikum des Pöbels wie die innere Unsicherheit und das Sich-gemein-Machen. Wo man nicht mehr weiß, was man sich und anderen schuldig ist, wo das Gefühl für menschliche Qualität und die Kraft, Abstand zu halten, erlischt, dort ist das Chaos vor der Tür.“ Chaos und millionenfacher Tod - ihnen Einhalt zu bieten, war den Deutschen des 20. Juli versagt. Der Satan vollendete sein Werk. In den neun Monaten von Stauffenbergs Tat bis zur Kapitulation kamen mehr Menschen ums Leben als in den 59 vorangegangenen Monaten des Kriegs.
Die Erhebung des 20. Juli wurde nicht von einer Volksmasse getragen sondern - und hier hat das Wort seinen echten Gehalt - von einer Elite. Von jener Elite zunächst, die einst bestimmt hatte, was im besten Sinne „preußisch“ zu nennen war. Ihre Liste ist eine erschütternde und stolze Sammlung historischer Geschlechter: Bernstorff, Dohna, Kleist, Moltke, Oertzen, Schulenburg, Schwerin, Tresckow, Uexküll, Yorck. Zu diesem altpreußischen Kreis trat ein württembergischer: Stauffenberg, Hofacker, Rommel, Speidel. Ihnen gesellten sich Männer aus allen deutschen Ländern zu; aus Bayern war der Bedeutendste Franz Sperr, der letzte Gesandte in Berlin. Jeder, der Geschichte nicht bloß zu wissen sondern zu empfinden vermag, muss das Strahlende fühlen, das dieser letzten Rebellion des deutschen Adels eigen ist; noch einmal finden große Namen ihre große Stunde und sühnen, was an Trägheit und Verfall, an Überhebung und Schwäche, an Kastengeist und Vorurteil unter den ihren brütet. Der 20. Juli war - und hierin liegt seine Bestimmung, sein Platz im Ablauf der Historie, sein eigentlich deutscher Wert - der 20. Juli war die Begegnung der Vergangenheit mit einer möglichen Zukunft, eine Begegnung der verpflichtenden Tradition aristokratischen Staatsbewusstseins mit der Auslese der Demokratie, freilich einer Demokratie, die sich nicht, nach den Worten des großen Sozialisten Mierendorff, in einem „mut- und phantasielosen, wie Pech an seinem Posten klebenden Parteibeamtentum“ erschöpft. Die Vorstellungen, welche die Sozialdemokraten Wilhelm Leuschner und Julius Leber, die katholischen Arbeiterführer Prälat Müller und Bernhard Letterhaus, der konservative Leipziger Oberbürgermeister Karl Goerdeler und der Zentrumsmann Josef Wirmer sich von einem neuen Deutschland machten, zielen gewiss nicht auf die Zahlendemokratie von heute, jedenfalls nicht auf deren Allmacht. Wenn Demokratie eine Quantitätsfrage ist statt einer Qualitätsfrage, dann wäre ja auch das Dritte Reich demokratisch gewesen; nein, es kommt auf den Geist an und wie man ihn vor der Tyrannei eines einzelnen oder einer Majorität schützt. Elite kommt von eligere: auslesen; die Auswahl, die Auslese - wie sie zu bewerkstelligen sei, damit die Besseren unter den Guten, die Besten unter den Besseren zur Verantwortung im Staate gelangen, das sollte unsere Demokratie zu ihrer ersten Sorge machen.
Ich sagte, meine Damen und Herren, der 20. Juli stelle sich mir dar als eine Begegnung der Vergangenheit und der Zukunft in einem Augenblick, in dem beide verloren gegangen schienen, als das Kontinuum der deutschen Geschichte, als eine Klammer, die über den reißenden Abgrund der Katastrophenzeit hinweg das Deutschland von gestern mit dem Deutschland von heute zusammen hält. Die altpreußische Auffassung von Ehre und Soldatentum, von Anstand und Gerechtigkeit, von Adel und Würde, wie sie Generalfeldmarschall von Witzleben und Generaloberst Beck vertreten - ich hätte an ihrer Stelle auch hundert andere nennen können - verband sich mit dem sozialen Ethos, dem hohen Bild der Freiheit, dem echten Wissen um die Sehnsüchte des Volkes, welches die linken Männer des Widerstands in sich trugen. So hätte der 20. Juli zum Brennspiegel deutscher Erneuerung werden und eine Flamme entfachen können, in der unser politisches und wirtschaftliches Denken, unser religiöses und künstlerisches Fühlen geläutert und zu innerer Größe erhoben worden wäre. Stattdessen sitzen wir jetzt um ein demokratisches Lagerfeuer, das mit Stimmzetteln geschürt und von Funktionären bewacht wird, indes in Bonn die Interessentenvertreter aller Arten und Gewerbe ihr Beefsteak daran braten. Immerhin, wir wollen nicht unzufrieden sind: was an heiligem Idealismus, was an geistigem Sturm, was an Gesinnung und Buße, an Wiedergutmachung und Bescheidenheit fehlt, haben wir an Fleiß und Geschick, an Glück und Gründlichkeit, an Aufbaufreude und Sparsinn wettgemacht. Die Toleranz des Wohlstands, welche sich behäbig um uns breitet, bringt eine gewisse demokratische Loyalität mit sich - Besitz verpflichtet, auch dem Staat gegenüber.
Es kommt immer, meine Damen und Herren, auf das Maß der Dinge an. Die innere Kraft, der Stolz und die Würde, die Hoheit der Haltung, mit der die Deutschen des 20. Juli in den Tod gingen, gefoltert und geschunden, verleumdet und niedergebrüllt, fordert einen anderen Maßstab, einen anderen Meilenstein an der Straße der Geschichte als wir ihn unserer Demokratie zubilligen, die nicht, wie jene, nach den Sternen greifen durfte. Aber alle, die heute in verantwortungsvoller Stellung sind, Minister und Manager, Publizisten und Professoren, Männer der Kirche und der Kultur, die wir diesen Staat, jeder zu seinem Teil, mit einigem Anstand und viel gutem Willen nach den Plänen einer Imitationsarchitektur wieder errichtet haben - wir sollten uns nicht darüber täuschen, dass er nicht viel mehr als die materiellen und funktionellen Bedürfnisse des Volkes erfüllt. Er ist noch weit davon entfernt, typenbildend im guten Sinn zu sein, etwa derart, dass er wenigstens Verwaltung und Justiz, wie es früher der Fall war, in den Bereich unumstrittener Respektiertheit gehoben hätte. „Wer anständig ist, ist heutzutage der Dumme“ - solange diese Meinung im Volk verbreitet bleibt, hat der Staat eine seiner wichtigsten Aufgaben noch vor sich. Und fragen Sie bitte einen jungen Menschen, wie er sich den sogenannten guten Deutschen vorstellt: er wird nicht antworten können, nicht einmal annähernd. Der Mercedes-300-Deutsche ist es nicht und der Fußball-Deutsche wahrscheinlich auch nicht. Früher einmal sollten wir zäh sein wie Leder, hart wie Kruppstahl und noch ich weiß nicht wie; so erleichtert ich darüber bin, mich selbst und meine Kinder einer so industriellen Qualifikation nicht mehr ausgesetzt zu wissen, so beunruhigt mich doch die Tatsache, dass es nicht gelungen ist, der Jugend ein staatsbürgerliches oder charakterliches oder geistiges Ideal zu geben; die Liste der Ausnahmen bestätigt die Regel.
Aber wie kann es anders sein, wenn bisher weder Volk noch Führung ein Geschehen gleich dem des 20. Juli, das in anderen Nationen das Bild einer ganzen Generation geformt hätte - ich spreche nicht vom äußeren Hergang, vom Attentat oder der Rebellion als solcher sondern vom Kampf des Gewissens, von der Macht höherer Sittlichkeit, vom Mut des Aufbruchs gegen Wahnsinn und Niedertracht - wie kann es anders sein, wenn das Volk nicht bereit ist, ein solches Geschehen zu seiner eigenen Sache zu machen oder doch zur Sache seiner Erzieher. Tua res agitur - wie oft wird Menschen dieses Wort zugerufen und wie selten nehmen sie es auf. Warum sind nach 1945 so viele Zeitstücke des Films und des Theaters auf mangelndes Verständnis, ja auf Ablehnung gestoßen? Weil das Publikum nicht wahrhaben wollte, dass es seine Sache, seine Schuld, sein Leben war, um die es ging. Es wollte sich nicht mit dem Bösen und es konnte sich nicht mit dem Guten identifizieren. Es erkannte sich nur in den Randfiguren, die Hauptperson, Held oder Unhold, blieb ausgespart. Eine ähnliche Einstellung - und das macht viel begreiflich - eine ähnliche Einstellung begegnet dem Phänomen des 20. Juli. Das Unbeteiligt-sein-wollen an etwas, worin einen die Geschichte verstrickt hat - war es Hochverrat? War es Heroismus? - der Gedanke, nachträglich eine Entscheidung treffen zu müssen, der man damals nicht gewachsen gewesen wäre und die, welcher Art auch immer, mit dem Tode hätte enden können, die Unlust, als Entronnener noch Rechenschaft abzulegen, überhaupt sich nicht festzulegen - all das entschuldigt nicht, aber erklärt die Indolenz, das Abschütteln, den Lass-mich-in-Ruh’-Standpunkt selbst von Menschen, die sonst empfindlich und empfänglich sind. Sonst: das heißt in ihrem Privatleben. Wo aber der Staat nach ihm greift oder die Apparaturen der großen Organisationen, da werden sie zu Befehlsvermittlern, zu Befehlsempfängern, zu Maschinenteilchen. Das ist eine Erbschaft der Diktatur und eine Folge jener Jahre, da fünfzehn Millionen Deutsche in der Wehrmacht den unbedingten Gehorsam als oberstes Gebot zu achten oder als Notwendigkeit hinzunehmen gelernt hatten. Zu welch gespenstischen Situationen eine solche synthetische Ordnung, ein solches außermenschliches Bezugssystem führen kann, zeigen gewisse ihrem Wesen nach roboterartige Vorgänge des 20. Juli im Reichskriegsministerium in Berlin. Dort ersetzte der vollendete Automatismus eines zentralisierten Apparates jeden Aufwand an Gesinnung, jeden Zwang zu Parteinahme, jedes Entweder-Oder. Der Apparat konnte ohne Schaden auf Entweder und Oder geschaltet werden, es kam nur darauf an, wer an den Knöpfen saß. So kam es, dass in dem Haus an der Bendlerstraße, in dem an die tausend Offiziere, Unteroffiziere, Mannschaften und Wehrmachtshelferinnen Dienst tun und in dessen Nachrichtenbunker zweihundert Angestellte arbeiten - dass in diesem Haus eine Handvoll Männer in der funktionellen Einsamkeit der Befehlsträger ohne zündende Parole, ohne flammende Ansprache, ohne Degen und Pistole nur durch Fernschreiber und Telefon einen Staatsstreich ins Werk zu setzen imstande sind, den zu beginnen in einer anderen Epoche Regimenter nötig gewesen wären. Regimenter und eine fanatische Anhängerschaft. Die Leute in der Bendlerstraße waren niemandes fanatische Anhänger. Sie waren Maschinenteilchen, sie waren dem Apparat gehorsam. Am Nachmittag des 20. Juli arbeitet die große Kommandozentrale ohne zu stocken für die Verschwörer, am späten Abend gibt sie eben so selbstverständlich die Gegenbefehle Remers und Keitels weiter. Die Wachabteilung am Haupttor wird nicht abgelöst. Es sind die Soldaten des selben Bataillons, die um 17 Uhr gegen die SS vorgehen und die um Mitternacht Oberst Stauffenberg, General Olbricht, Oberst Mertz und Oberleutnant Haeften an die Wand stellen. Der Apparat denkt nicht, fühlt nicht und handelt nicht. Er funktioniert.
Hier bin ich, meine Damen und Herren, bei einem Punkt, der auch der modernen Demokratie immer wieder gesetzt ist. Auch sie bedarf ja der Apparate: des Parteiapparats, des Gewerkschaftsapparats, des Beamtenapparats. Je reibungsloser sie laufen, um so verdächtiger sind sie. Reibung: das bedeutet Diskussion, Meinungsaustausch, Stellungnahme. So gut kann eine Demokratie gar nicht sein, dass sie darauf verzichten darf. Einstimmigkeit im Parlament ist entweder der Ausdruck eines Notstandes oder eine Demonstration. Wir sollten uns keines von beiden wünschen. In manchen Ratsversammlungen des alten Griechenlands war ein besonders kluger Mann bestellt, „Nein“ zu sagen, wenn alle „Ja“ sagten: ein Pflichtverteidiger des Widerspruchs. Gelegentlich möchte man ihn im Bundestag sehen und nicht nur dort. Freilich kommt es auch darauf an, Widerspruch zu ertragen. Ob und wie weit ein Regime dazu willens ist, kennzeichnet untrüglich das Maß seiner Freiheit.
War es Freiheit, wonach die Deutschen des 20. Juli dürsteten? Die Freiheit auch, aber die Freiheit zuletzt. Vorher das Recht. Erst wenn das Recht wiederhergestellt war, würde das kämpfende Reich die Aussicht haben, die Spur einer Aussicht, den Krieg ohne bedingungslose Kapitulation zu beenden. Denn Bedingungen, selbst die härtesten, sind ein Vertrag. Mit einem Staat ohne Recht, wie es das Deutschland Hitlers war, schließt niemand Verträge, es sei denn, er fürchtet Gewalt. Von dieser Furcht konnte im Sommer 1944 bei den Alliierten keine Rede mehr sein. So drückend sie im Land herrschte, von Monat zu Monat gesteigert durch neue Willkür, so sehr war die Welt von ihr erlöst worden in der Gewissheit des bevorstehenden Sieges. Wenn es aus solcher Lage je noch eine Möglichkeit der Rettung geben sollte, so musste sich das Reich von Hitler lösen. Die Männer, die den heroischen Versuch zur Befreiung machten, folgten ihrer sittlichen Verantwortung, ihrer soldatischen Pflicht und jenem natürlichen Gefühl, das ihnen sagte, lieber einen Mann opfern als die ganze Nation zugrunde gehen zu lassen. War denn nicht überdies sein Schicksal längst beschlossen? Tod an der Front, Selbstmord oder Hinrichtung - nur diese Wahl blieb Adolf Hitler, lange bevor die Bombe des Grafen Stauffenberg gezündet wurde. Als er ihr entkommen war, erklärte er dem deutschen Volk: „Ich fasse das als eine Bestätigung des Auftrags der Vorsehung auf“. Welch ein Auftrag konnte das sein, wenn nicht der teuflische, Chaos und Vernichtung zu vollenden? Der Gott, der den Tyrannen antwortet, wenn sie die Vorsehung rufen, ist immer der Satan.
Meine Zuhörer! Es gibt Menschen, die obgleich bedeutend und nobel an den Männern des 20. Juli Kritik üben, gewissermaßen revolutionäre Manöverkritik. Der Kontakt zum Volk habe gefehlt und auch im militärischen Ablauf sei dies und jenes stümperhaft gewesen. Wirklich? Wer die unendlichen Schwierigkeiten, die ständige Gefahr für die Beteiligten, wer den lähmenden Druck ermisst, der über Deutschland lag, der wird auch heute noch, nach zehn Jahren, seine Stimme dämpfen, wenn er über Fehler derjenigen spricht, denen er Ehre und Dank und höchste Achtung schuldet. Diese Deutschen sind nicht gestorben damit wir sagen, sie hätten ihr Werk schlecht getan. Nein, sie waren würdig der Besten unseres Volkes. Seien wir ihrer wert.
Walter von Cube
Rebellion des deutschen Adels
Gedenkrede von Rundfunkintendant Walter von Cube am 20. Juli 1954 im Herkulessaal der Residenz, München
Meine Damen und Herren, die Kundgebung, die uns heute hier vereint, gilt den Männern, den Opfern, dem Geist des 20. Juli 1944. Sie ist in vieler Hinsicht von besonderer Art: nicht nur der Beteiligten wegen, deren Herkunft und Rang, deren Lebensart und innere Ordnung den verschiedensten politischen und sozialen Kategorien angehören und die gleichwohl keine Versammlung von Ständen oder Parteien, vielmehr eine tausendfältige Gemeinde einzelner darstellen; nicht nur der schönen Freiheit wegen, mit der sie einem Ruf gefolgt sind, der weder Vorteile noch Kurzweil noch patriotisches Ereifern verspricht - sondern vor allem: weil wir die Melodien nicht spielen, die üblicherweise auf des deutschen Volkes Wunderhorn geblasen werden.
Revolutionären und Märtyrern singt man keine Lieder und im deutschen Pantheon herrscht Ruhe und Ordnung. Unsere großen Geister, gemeinhin als „Dichter und Denker“ zu einer Art Stabreim-Slogan für vaterländischen Gebrauch verstümmelt, sind selten oder nie zu wirkenden Paten unserer politischen Bildung geworden; Goethes europäische Humanitas, Schillers prachtvoll-pathetischer Freiheitsatem, Mörikes stiller Glanz, Hölderlins marmorner Sprachaufruhr, Heines nächtlich leuchtende Verse - all das ist ins deutsche Staatsbewusstsein nicht gedrungen und wenn es, wie bei Theodor Heuß, zum Besitz einiger weniger gehört, so bestaunen wir’s als Ausnahme, und es mischt sich in unseren Stolz ein ganz klein wenig Zweifel, ob Ebert oder Hindenburg, Hindenburg vor allem, nicht doch eigentlich besser wären. Ein Journalist, ein Literat, ein Professor als Präsident - das ist ja beinahe ein deutsches Wunder. Nun, da er’s war, ist er’s geblieben, Gott sei Dank.
In keinem Land der Welt hat das Bestehende, nur weil es besteht, so viel Autorität wie bei uns. Nicht immer, meine Damen und Herren, dürfen wir in dieser Erfahrung einen Vorzug erkennen. Das bis-zuletzt-Festhalten an Zuständen, die längst der Reform bedürfen, die eigensinnige Taubheit für das Grollen des Schicksals, das überwunden oder erlitten werden will, auch das resignierte Warten auf das, was höheren Orts geschieht - dieser ganze Mangel an Mut und Einsicht dem politischen Geschehen gegenüber hat 1918 die Monarchie und 1933 die Republik zugrunde gehen lassen; beide hätten gerettet werden können, würden sie ihre Autorität nicht aus dem Sein sondern aus dem Handeln bezogen haben. Hatte sich dergestalt die Politik immer mehr dem Geist entfremdet, der zuerst neben ihr und schließlich gegen sie stand, hatte sie weiter in einer seltsamen Erstarrung weder das Königtum noch die Weimarer Demokratie mit dem Volk des 20. Jahrhunderts zu vermählen vermocht, auf dass neues und künftiges Leben erblühe, so hatte sie drittens - und das war vielleicht das Schlimmste - die Beziehung zur Sittlichkeit verloren. Nicht nur in Deutschland, aber am Auffallendsten in Deutschland, hatte man schon Jahrzehnte vor Hitler begonnen, in der Politik Macht mit Recht, Erfolg mit Verdienst, Gewissen mit Schwäche zu identifizieren. Es waren diese Fehler, vermehrt um die Brutalität der Dummheit, die der Nationalsozialismus zu einem einzigen Frevel steigerte. Und es sind die ihnen entgegengesetzten Tugenden, die die Männer des 20. Juli noch im Tode auszeichnen. Wenn nichts anderes, dann müsste der Sinn für menschliche Größe und menschliche Würde jenen den Lorbeer flechten, denen ihn die Geschichte versagt hat.
Aber was ist’s? Der Lorbeer gedeiht nicht. Keine Hand will ihn recht pflegen, jede reicht ihn weiter, der Nächste möge die Toten bekränzen.
Der 20. Juli ist ein umstrittenes Datum geblieben, ein Datum, etwas Gegebenes im wahrsten Sinne, etwas Auferlegtes. Uns, die wir hier sind, gilt das Wort im Verstande einer Prüfung, eines reinigenden, eines einigenden Gedenkens an die Flamme des edlen Widerstandes in der deutschen Finsternis. Sie war entzündet - ich zitiere Dr. Gerstenmaier, den einzigen Überlebenden aus dem engeren Kreis um den Grafen Moltke - sie war entzündet „zur Rettung Deutschlands, zur Rettung seines Blutes und seiner Erde, zur Rettung seiner Freiheit und zur Rettung seiner letzten Würde in der Weltgeschichte“. Etwas Auferlegtes - nun, anderen ist dies Auferlegte lästig, weil sie nicht hineinhorchen wollen in die Vergangenheit, die so viel Schuld so vieler birgt oder weil sie sich das große Vergessen zu erhalten wünschen, welches ihnen erlaubt, unverändert, ungestört und undankbar weiterzuleben als hätten sie nie gelobt, tätige Einkehr zu halten, wenn nur endlich die Bomben, der Krieg, das Hungern vorbei seien. Wieder andere sehen das Auferlegte überhaupt nicht; für sie, die Törichten, die Gehässigen, die Unbelehrbaren, die angesichts eines Ozeans von Blut weder den Teufel noch einen Gott spüren, waren die 4980 Opfer des 20. Juli - 4980 Erschossene, Gehenkte oder zu Tode Gemarterte - für sie sind diese vom Schicksal furchtbar Auserlesenen nicht einmal die kleinste Münze des Gewissens, nämlich vergessen zu wollen, wert. Dietrich Bonhoeffer, Pfarrer der Bekennenden Kirche, ermordet im Konzentrationslager Flossenbürg, hat folgende Aufzeichnung hinterlassen: „Die Frechheit, die ihr Wesen in der Mißachtung aller menschlichen Distanzen hat, ist eben so sehr das Charakteristikum des Pöbels wie die innere Unsicherheit und das Sich-gemein-Machen. Wo man nicht mehr weiß, was man sich und anderen schuldig ist, wo das Gefühl für menschliche Qualität und die Kraft, Abstand zu halten, erlischt, dort ist das Chaos vor der Tür.“ Chaos und millionenfacher Tod - ihnen Einhalt zu bieten, war den Deutschen des 20. Juli versagt. Der Satan vollendete sein Werk. In den neun Monaten von Stauffenbergs Tat bis zur Kapitulation kamen mehr Menschen ums Leben als in den 59 vorangegangenen Monaten des Kriegs.
Die Erhebung des 20. Juli wurde nicht von einer Volksmasse getragen sondern - und hier hat das Wort seinen echten Gehalt - von einer Elite. Von jener Elite zunächst, die einst bestimmt hatte, was im besten Sinne „preußisch“ zu nennen war. Ihre Liste ist eine erschütternde und stolze Sammlung historischer Geschlechter: Bernstorff, Dohna, Kleist, Moltke, Oertzen, Schulenburg, Schwerin, Tresckow, Uexküll, Yorck. Zu diesem altpreußischen Kreis trat ein württembergischer: Stauffenberg, Hofacker, Rommel, Speidel. Ihnen gesellten sich Männer aus allen deutschen Ländern zu; aus Bayern war der Bedeutendste Franz Sperr, der letzte Gesandte in Berlin. Jeder, der Geschichte nicht bloß zu wissen sondern zu empfinden vermag, muss das Strahlende fühlen, das dieser letzten Rebellion des deutschen Adels eigen ist; noch einmal finden große Namen ihre große Stunde und sühnen, was an Trägheit und Verfall, an Überhebung und Schwäche, an Kastengeist und Vorurteil unter den ihren brütet. Der 20. Juli war - und hierin liegt seine Bestimmung, sein Platz im Ablauf der Historie, sein eigentlich deutscher Wert - der 20. Juli war die Begegnung der Vergangenheit mit einer möglichen Zukunft, eine Begegnung der verpflichtenden Tradition aristokratischen Staatsbewusstseins mit der Auslese der Demokratie, freilich einer Demokratie, die sich nicht, nach den Worten des großen Sozialisten Mierendorff, in einem „mut- und phantasielosen, wie Pech an seinem Posten klebenden Parteibeamtentum“ erschöpft. Die Vorstellungen, welche die Sozialdemokraten Wilhelm Leuschner und Julius Leber, die katholischen Arbeiterführer Prälat Müller und Bernhard Letterhaus, der konservative Leipziger Oberbürgermeister Karl Goerdeler und der Zentrumsmann Josef Wirmer sich von einem neuen Deutschland machten, zielen gewiss nicht auf die Zahlendemokratie von heute, jedenfalls nicht auf deren Allmacht. Wenn Demokratie eine Quantitätsfrage ist statt einer Qualitätsfrage, dann wäre ja auch das Dritte Reich demokratisch gewesen; nein, es kommt auf den Geist an und wie man ihn vor der Tyrannei eines einzelnen oder einer Majorität schützt. Elite kommt von eligere: auslesen; die Auswahl, die Auslese - wie sie zu bewerkstelligen sei, damit die Besseren unter den Guten, die Besten unter den Besseren zur Verantwortung im Staate gelangen, das sollte unsere Demokratie zu ihrer ersten Sorge machen.
Ich sagte, meine Damen und Herren, der 20. Juli stelle sich mir dar als eine Begegnung der Vergangenheit und der Zukunft in einem Augenblick, in dem beide verloren gegangen schienen, als das Kontinuum der deutschen Geschichte, als eine Klammer, die über den reißenden Abgrund der Katastrophenzeit hinweg das Deutschland von gestern mit dem Deutschland von heute zusammen hält. Die altpreußische Auffassung von Ehre und Soldatentum, von Anstand und Gerechtigkeit, von Adel und Würde, wie sie Generalfeldmarschall von Witzleben und Generaloberst Beck vertreten - ich hätte an ihrer Stelle auch hundert andere nennen können - verband sich mit dem sozialen Ethos, dem hohen Bild der Freiheit, dem echten Wissen um die Sehnsüchte des Volkes, welches die linken Männer des Widerstands in sich trugen. So hätte der 20. Juli zum Brennspiegel deutscher Erneuerung werden und eine Flamme entfachen können, in der unser politisches und wirtschaftliches Denken, unser religiöses und künstlerisches Fühlen geläutert und zu innerer Größe erhoben worden wäre. Stattdessen sitzen wir jetzt um ein demokratisches Lagerfeuer, das mit Stimmzetteln geschürt und von Funktionären bewacht wird, indes in Bonn die Interessentenvertreter aller Arten und Gewerbe ihr Beefsteak daran braten. Immerhin, wir wollen nicht unzufrieden sind: was an heiligem Idealismus, was an geistigem Sturm, was an Gesinnung und Buße, an Wiedergutmachung und Bescheidenheit fehlt, haben wir an Fleiß und Geschick, an Glück und Gründlichkeit, an Aufbaufreude und Sparsinn wettgemacht. Die Toleranz des Wohlstands, welche sich behäbig um uns breitet, bringt eine gewisse demokratische Loyalität mit sich - Besitz verpflichtet, auch dem Staat gegenüber.
Es kommt immer, meine Damen und Herren, auf das Maß der Dinge an. Die innere Kraft, der Stolz und die Würde, die Hoheit der Haltung, mit der die Deutschen des 20. Juli in den Tod gingen, gefoltert und geschunden, verleumdet und niedergebrüllt, fordert einen anderen Maßstab, einen anderen Meilenstein an der Straße der Geschichte als wir ihn unserer Demokratie zubilligen, die nicht, wie jene, nach den Sternen greifen durfte. Aber alle, die heute in verantwortungsvoller Stellung sind, Minister und Manager, Publizisten und Professoren, Männer der Kirche und der Kultur, die wir diesen Staat, jeder zu seinem Teil, mit einigem Anstand und viel gutem Willen nach den Plänen einer Imitationsarchitektur wieder errichtet haben - wir sollten uns nicht darüber täuschen, dass er nicht viel mehr als die materiellen und funktionellen Bedürfnisse des Volkes erfüllt. Er ist noch weit davon entfernt, typenbildend im guten Sinn zu sein, etwa derart, dass er wenigstens Verwaltung und Justiz, wie es früher der Fall war, in den Bereich unumstrittener Respektiertheit gehoben hätte. „Wer anständig ist, ist heutzutage der Dumme“ - solange diese Meinung im Volk verbreitet bleibt, hat der Staat eine seiner wichtigsten Aufgaben noch vor sich. Und fragen Sie bitte einen jungen Menschen, wie er sich den sogenannten guten Deutschen vorstellt: er wird nicht antworten können, nicht einmal annähernd. Der Mercedes-300-Deutsche ist es nicht und der Fußball-Deutsche wahrscheinlich auch nicht. Früher einmal sollten wir zäh sein wie Leder, hart wie Kruppstahl und noch ich weiß nicht wie; so erleichtert ich darüber bin, mich selbst und meine Kinder einer so industriellen Qualifikation nicht mehr ausgesetzt zu wissen, so beunruhigt mich doch die Tatsache, dass es nicht gelungen ist, der Jugend ein staatsbürgerliches oder charakterliches oder geistiges Ideal zu geben; die Liste der Ausnahmen bestätigt die Regel.
Aber wie kann es anders sein, wenn bisher weder Volk noch Führung ein Geschehen gleich dem des 20. Juli, das in anderen Nationen das Bild einer ganzen Generation geformt hätte - ich spreche nicht vom äußeren Hergang, vom Attentat oder der Rebellion als solcher sondern vom Kampf des Gewissens, von der Macht höherer Sittlichkeit, vom Mut des Aufbruchs gegen Wahnsinn und Niedertracht - wie kann es anders sein, wenn das Volk nicht bereit ist, ein solches Geschehen zu seiner eigenen Sache zu machen oder doch zur Sache seiner Erzieher. Tua res agitur - wie oft wird Menschen dieses Wort zugerufen und wie selten nehmen sie es auf. Warum sind nach 1945 so viele Zeitstücke des Films und des Theaters auf mangelndes Verständnis, ja auf Ablehnung gestoßen? Weil das Publikum nicht wahrhaben wollte, dass es seine Sache, seine Schuld, sein Leben war, um die es ging. Es wollte sich nicht mit dem Bösen und es konnte sich nicht mit dem Guten identifizieren. Es erkannte sich nur in den Randfiguren, die Hauptperson, Held oder Unhold, blieb ausgespart. Eine ähnliche Einstellung - und das macht viel begreiflich - eine ähnliche Einstellung begegnet dem Phänomen des 20. Juli. Das Unbeteiligt-sein-wollen an etwas, worin einen die Geschichte verstrickt hat - war es Hochverrat? War es Heroismus? - der Gedanke, nachträglich eine Entscheidung treffen zu müssen, der man damals nicht gewachsen gewesen wäre und die, welcher Art auch immer, mit dem Tode hätte enden können, die Unlust, als Entronnener noch Rechenschaft abzulegen, überhaupt sich nicht festzulegen - all das entschuldigt nicht, aber erklärt die Indolenz, das Abschütteln, den Lass-mich-in-Ruh’-Standpunkt selbst von Menschen, die sonst empfindlich und empfänglich sind. Sonst: das heißt in ihrem Privatleben. Wo aber der Staat nach ihm greift oder die Apparaturen der großen Organisationen, da werden sie zu Befehlsvermittlern, zu Befehlsempfängern, zu Maschinenteilchen. Das ist eine Erbschaft der Diktatur und eine Folge jener Jahre, da fünfzehn Millionen Deutsche in der Wehrmacht den unbedingten Gehorsam als oberstes Gebot zu achten oder als Notwendigkeit hinzunehmen gelernt hatten. Zu welch gespenstischen Situationen eine solche synthetische Ordnung, ein solches außermenschliches Bezugssystem führen kann, zeigen gewisse ihrem Wesen nach roboterartige Vorgänge des 20. Juli im Reichskriegsministerium in Berlin. Dort ersetzte der vollendete Automatismus eines zentralisierten Apparates jeden Aufwand an Gesinnung, jeden Zwang zu Parteinahme, jedes Entweder-Oder. Der Apparat konnte ohne Schaden auf Entweder und Oder geschaltet werden, es kam nur darauf an, wer an den Knöpfen saß. So kam es, dass in dem Haus an der Bendlerstraße, in dem an die tausend Offiziere, Unteroffiziere, Mannschaften und Wehrmachtshelferinnen Dienst tun und in dessen Nachrichtenbunker zweihundert Angestellte arbeiten - dass in diesem Haus eine Handvoll Männer in der funktionellen Einsamkeit der Befehlsträger ohne zündende Parole, ohne flammende Ansprache, ohne Degen und Pistole nur durch Fernschreiber und Telefon einen Staatsstreich ins Werk zu setzen imstande sind, den zu beginnen in einer anderen Epoche Regimenter nötig gewesen wären. Regimenter und eine fanatische Anhängerschaft. Die Leute in der Bendlerstraße waren niemandes fanatische Anhänger. Sie waren Maschinenteilchen, sie waren dem Apparat gehorsam. Am Nachmittag des 20. Juli arbeitet die große Kommandozentrale ohne zu stocken für die Verschwörer, am späten Abend gibt sie eben so selbstverständlich die Gegenbefehle Remers und Keitels weiter. Die Wachabteilung am Haupttor wird nicht abgelöst. Es sind die Soldaten des selben Bataillons, die um 17 Uhr gegen die SS vorgehen und die um Mitternacht Oberst Stauffenberg, General Olbricht, Oberst Mertz und Oberleutnant Haeften an die Wand stellen. Der Apparat denkt nicht, fühlt nicht und handelt nicht. Er funktioniert.
Hier bin ich, meine Damen und Herren, bei einem Punkt, der auch der modernen Demokratie immer wieder gesetzt ist. Auch sie bedarf ja der Apparate: des Parteiapparats, des Gewerkschaftsapparats, des Beamtenapparats. Je reibungsloser sie laufen, um so verdächtiger sind sie. Reibung: das bedeutet Diskussion, Meinungsaustausch, Stellungnahme. So gut kann eine Demokratie gar nicht sein, dass sie darauf verzichten darf. Einstimmigkeit im Parlament ist entweder der Ausdruck eines Notstandes oder eine Demonstration. Wir sollten uns keines von beiden wünschen. In manchen Ratsversammlungen des alten Griechenlands war ein besonders kluger Mann bestellt, „Nein“ zu sagen, wenn alle „Ja“ sagten: ein Pflichtverteidiger des Widerspruchs. Gelegentlich möchte man ihn im Bundestag sehen und nicht nur dort. Freilich kommt es auch darauf an, Widerspruch zu ertragen. Ob und wie weit ein Regime dazu willens ist, kennzeichnet untrüglich das Maß seiner Freiheit.
War es Freiheit, wonach die Deutschen des 20. Juli dürsteten? Die Freiheit auch, aber die Freiheit zuletzt. Vorher das Recht. Erst wenn das Recht wiederhergestellt war, würde das kämpfende Reich die Aussicht haben, die Spur einer Aussicht, den Krieg ohne bedingungslose Kapitulation zu beenden. Denn Bedingungen, selbst die härtesten, sind ein Vertrag. Mit einem Staat ohne Recht, wie es das Deutschland Hitlers war, schließt niemand Verträge, es sei denn, er fürchtet Gewalt. Von dieser Furcht konnte im Sommer 1944 bei den Alliierten keine Rede mehr sein. So drückend sie im Land herrschte, von Monat zu Monat gesteigert durch neue Willkür, so sehr war die Welt von ihr erlöst worden in der Gewissheit des bevorstehenden Sieges. Wenn es aus solcher Lage je noch eine Möglichkeit der Rettung geben sollte, so musste sich das Reich von Hitler lösen. Die Männer, die den heroischen Versuch zur Befreiung machten, folgten ihrer sittlichen Verantwortung, ihrer soldatischen Pflicht und jenem natürlichen Gefühl, das ihnen sagte, lieber einen Mann opfern als die ganze Nation zugrunde gehen zu lassen. War denn nicht überdies sein Schicksal längst beschlossen? Tod an der Front, Selbstmord oder Hinrichtung - nur diese Wahl blieb Adolf Hitler, lange bevor die Bombe des Grafen Stauffenberg gezündet wurde. Als er ihr entkommen war, erklärte er dem deutschen Volk: „Ich fasse das als eine Bestätigung des Auftrags der Vorsehung auf“. Welch ein Auftrag konnte das sein, wenn nicht der teuflische, Chaos und Vernichtung zu vollenden? Der Gott, der den Tyrannen antwortet, wenn sie die Vorsehung rufen, ist immer der Satan.
Meine Zuhörer! Es gibt Menschen, die obgleich bedeutend und nobel an den Männern des 20. Juli Kritik üben, gewissermaßen revolutionäre Manöverkritik. Der Kontakt zum Volk habe gefehlt und auch im militärischen Ablauf sei dies und jenes stümperhaft gewesen. Wirklich? Wer die unendlichen Schwierigkeiten, die ständige Gefahr für die Beteiligten, wer den lähmenden Druck ermisst, der über Deutschland lag, der wird auch heute noch, nach zehn Jahren, seine Stimme dämpfen, wenn er über Fehler derjenigen spricht, denen er Ehre und Dank und höchste Achtung schuldet. Diese Deutschen sind nicht gestorben damit wir sagen, sie hätten ihr Werk schlecht getan. Nein, sie waren würdig der Besten unseres Volkes. Seien wir ihrer wert.