Selbst die größte Wucht des Bösen vermochte es nicht, die Kraft des Gewissens bei allen Menschen zu unterdrücken.

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Jürgen Gansäuer

Selbst die größte Wucht des Bösen vermochte es nicht, die Kraft des Gewissens bei allen Menschen zu unterdrücken.

Begrüßungsansprache des Landtagspräsidenten Jürgen Gansäuer am 15. Juli 2004 im Plenarsaal des Niedersächsischen Landtages, Hannover

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich heiße Sie herzlich willkommen zum Festakt anlässlich des 60. Jahrestages der Ereignisse des 20. Juli 1944. Noch nie in der Geschichte des Niedersächsischen Landtages hat eine vergleichbare Vortragsveranstaltung so viel Resonanz gefunden wie diese. Deshalb bitte ich um Nachsicht für manche Unzulänglichkeit, die durch die begrenzte Zahl der Sitzplätze im Plenarsaal gleichsam unvermeidlich ist.

Meine Damen und Herren, aufgrund der großen Zahl von Anmeldungen haben wir zwei Außenübertragungen, nämlich in die Wandelhalle und in den Repräsentantensaal vorgesehen. Daraus können Sie entnehmen, wie groß das Interesse an der Beschäftigung mit diesem Datum ist.

Angesichts der großen Zahl der Besucherinnen und Besucher, die heute den Weg in den Landtag gefunden haben, muss ich davon absehen, alle Ehrengäste namentlich zu begrüßen. Doch einige wenige Ausnahmen seien mir erlaubt:

Begrüßen möchte ich besonders herzlich die Mitglieder des Landtagspräsidiums und die Abgeordneten des Niedersächsischen Landtages. Stellvertretend für alle begrüße ich die Vizepräsidentinnen Astrid Vockert und Silva Seeler und den Vizepräsidenten Ulrich Biel, die Fraktionsvorsitzenden David McAllister für die CDU, Minister a. D. Wolfgang Jüttner für die Fraktion der SPD, Dr. Philipp Rösler für die FDP und Stefan Wenzel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie Abgeordnete des Deutschen Bundestages.

Ich begrüße den ehemaligen Ministerpräsidenten von Niedersachsen Dr. Ernst Albrecht und Prof. Rolf Wernstedt, meinen Vorgänger, also den ehemaligen Landtagspräsidenten.

Ich begrüße für die Landesregierung den stellvertretenden Ministerpräsidenten Walter Hirche, Kultusminister Bernd Busemann und Frau Staatssekretärin Dr. Gabriele Wurzel und zudem den Präsidenten des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes Herrn Prof. Dr. Manfred-Carl Schinkel.

Ich begrüße die Mitglieder der Kommission „Landesgeschichte im Landtag“ unter Vorsitz von Prof. Dr. Ernst Schubert.

Ich begrüße den Ratsvorsitzenden der Konföderation der Evangelischen Kirchen in Niedersachsen Bischof Peter Krug, den Präsidenten des Landeskirchenamtes der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover Dr. Eckhard von Vietinghoff und Frau Ingrid Willing von der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover.

Nicht zuletzt begrüße ich General Detlef Bartvogt mit Offiziersanwärtern der 1. Panzerdivision sowie Soldatinnen und Soldaten weiterer Einheiten unserer Bundeswehr.

Ein besonderer Gruß verbunden mit einem herzlichen Dank gilt den Studentinnen und Studenten der Hochschule für Musik und Theater in Hannover, die mit dem Divertimento des jüdischen Komponisten Gideon Klein den heutigen Festakt musikalisch umrahmen. Gideon Klein - lassen Sie mich das ergänzen und erläutern - wurde 1941 von den Nationalsozialisten im Konzentrationslager Theresienstadt interniert. 1944 wurde er über Auschwitz nach Fürstengrube deportiert, wo er im Januar 1945 im Alter von nur 25 Jahren starb. Das Divertimento gehört zu Kleins Werken aus der Zeit vor Theresienstadt. Durch einen ausgesprochen glücklichen Zufall wurden seine Kompositionen aus der Zeit vor dem Krieg zusammen mit Werken, die er noch in Theresienstadt komponiert hat, 1990 wieder entdeckt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch nie haben sich mehr Menschen in diesem Hause zusammengefunden, um über ein Ereignis nachzudenken, mit dessen Bewertung sich viele Deutsche bis heute außerordentlich schwer getan haben.

Marion Gräfin Dönhoff hat in ihrem Buch „Um der Ehre willen“ in diesem Zusammenhang einmal geschrieben:

„Für viele von uns ist unverständlich, dass der 20. Juli 1944, der als moralisch-politische Tat weit herausragt aus der deutschen Geschichte, nie wirklich in das Bewusstsein der Deutschen eingegangen ist.“

Heute nun, etwa zehn Jahre nachdem Gräfin Dönhoff diesen Satz schrieb, hat sich, so glaube ich, etwas verändert, und das Interesse an dieser Veranstaltung ist, neben vielen anderen Indikatoren, für mich eben auch ein Beweis dafür, dass wir mit diesem Tag - ich will es einmal so sagen - ins Reine kommen wollen: jeder für sich und, wie ich hoffe, wir Deutschen als Ganzes.

Heinrich Böll hat aus dem Krieg einmal einen Brief nach Hause geschrieben, in dem es heißt:

„Ich werde nie mehr so sein wie ich war, aber ich möchte soviel Leben haben wie ich hatte, und dann will ich - nicht die Toten begraben - nein, den Ermordeten will ich ein Lied singen.“

„Den Ermordeten ein Lied singen“, das hieß für Böll nicht nur, sich zu erinnern, sondern es hieß für ihn, die Ideale der Ermordeten lebendig zu halten und sie der Zukunft nutzbar zu machen. Und genau darum geht es auch im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 heute: den Toten des Widerstandes im übertragenen Sinne ein Lied zu singen und sie nicht der Vergessenheit anheim fallen zu lassen. Denn das Wissen um die Ereignisse ist ohne Zweifel wichtig, aber es ist eben ohne die Fähigkeit, die Größe des Geschehenen zu erkennen und zu verstehen, nutzlos.

Nur wer wirklich ermessen kann, was Stauffenberg, Beck, von Moltke und viele andere im Kern bewogen hat, sich gegen Hitler zu stellen und den Tyrannenmord zu planen, wird verstehen, dass sie alle - jawohl, trotz zum Teil beachtlicher politischer Meinungsunterschiede - eines verband, nämlich der Wille, der Welt zu zeigen, dass es noch ein anderes, ein besseres Deutschland gab als das, das Hitler repräsentierte.

Erst wenn man die Biografien der damals Beteiligten studiert hat, wird klar, wie viel entsetzliche Verzweiflung, Ausweglosigkeit und Qualen sie durchschritten haben müssen, bevor sie sich entschlossen haben, diese Tat zu wagen, von der sie wussten, dass ein Scheitern wahrscheinlicher sein würde als ein Erfolg.

Meine Damen und Herren, sein Vaterland zu lieben und dennoch seine Niederlage zu wünschen, diesen Konflikt haben alle durchlitten, die am 20. Juli 1944 beteiligt waren. Am Ende haben sie sich einer persönlichen Verantwortung gestellt, die, wie ich meine, zutiefst bewundernswert ist. Vor Freislers Richterstuhl jedenfalls stand nach dem Attentat das Beste, was Deutschland zu bieten hatte: Menschen, die von ethischen Überzeugungen geleitet, Freiheit, Humanität und Toleranz retten und bewahren wollten.

Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus insgesamt, aber vor allem der des 20. Juli gehört ohne Zweifel zu dem, was wir an hoffnungsvollen Elementen dieser Zeit und damit als ungeheuer wertvolle Erinnerung bewahren sollten. Mehr noch: Er steht für eine Tat, für die wir als Deutsche heute besonders dankbar sein müssen. Theodor Heuss sprach bei seiner Rede zum zehnjährigen Jahrestag des 20. Juli im Jahre 1954 von einem „Geschenk an die deutsche Zukunft“. Er meinte damit, dass das Lebensopfer dieser Männer trotz des Scheiterns des Attentats ein „Anrecht“ auf ein dankbares und ehrenvolles Gedenken verliehen hat.

Dieses Anrecht auf ein dankbares Gedenken gründet aus meiner Sicht auf zwei Säulen. Zum einen steht das Attentat dafür, dass man nicht ohne weiteres Hitler und Deutschland gleichsetzen darf, sondern dass es auch damals ein anderes Deutschland gab, in welchem Menschen lebten, die die geistigen Traditionen eines Lessing, Leibniz, Kant und Goethe bewahren wollten.

Die zweite Säule ist die über die Zeiten hinweg beeindruckende und, wie ich meine, ermutigende Kraft des Gewissens. Inmitten dieser Wucht des Bösen, die von der nationalsozialistischen Diktatur ausging, ist es für mich eine Geschichte der Hoffnung, dass es Kräfte im Menschen gibt, die sich eben nicht gänzlich korrumpieren lassen, ja, die vielleicht sogar erst in der höchsten Not zu ungeahnter Stärke aufsteigen. Das Gewissen des Menschen, so meine ich, ist eine solche Kraft. Die Zeit des Nationalsozialismus lehrt uns deshalb nicht nur, dass Menschen sehr leicht zum Bösen verführt werden können. Sie lehrt zugleich auch, dass es Kräfte im Menschen gibt, die uns Gott sei Dank dazu befähigen, dem Bösen unter Inkaufnahme des Verlustes des eigenen Lebens die Stirn zu bieten.

Ich kenne natürlich - es ist mir wichtig, dies zu ergänzen - die vielfältigen Debatten um die Erinnerungskultur in unserem Land und weiß auch darum, dass immer wieder gerne auf die Unterschiede zwischen den Vorstellungen, die die Männer des 20. Juli von der Zukunft Deutschlands hatten, und unserer demokratischen Kultur heute hingewiesen wird. Darüber hinaus kenne ich natürlich auch die Hinweise darauf, dass sich die Einstellung vieler Widerständler zum Nationalsozialismus erst im Laufe der Jahre verändert hat. Solche Einwände sind nicht unberechtigt. Allerdings, meine Damen und Herren, sollten wir uns auf der Basis unserer Nachkriegserfahrung vor posthumer Überheblichkeit hüten. Aber wenn wir uns an ein Urteil über die Vorstellungen der Attentäter z. B. auch über die Struktur eines Nach-Hitler-Deutschlands heranwagen, so finde ich, sollten wir nicht vergessen, dass alle Beteiligten bereits eine gescheiterte Monarchie, eine zerbrochene Demokratie, den faktischen wirtschaftlichen Zusammenbruch Deutschlands und den menschenverachtenden Nationalsozialismus persönlich erlebt hatten. Ich meine, es wäre deshalb schlicht arrogant, ungeschichtlich und unmoralisch, sich der Verpflichtung zum Gedenken an diese Männer mit dem Argument zu entziehen, dass sie sich nicht von Anbeginn an und später dann nahtlos im Verhältnis 1 : 1 in unsere heutigen Vorstellungen von Demokratie und Individualität einfügen lassen.

So, wie diese Männer waren, mit allem was sie wussten, dachten und taten, mit allem, was sie prägte, und mit allem, was sie im Laufe ihres Lebens gelernt, aber auch verlernt, umgelernt und neu erlernt haben - in dieser Gesamtheit, die ihre jeweilige Persönlichkeit ausmachte, zu der sie sich bis zum 20. Juli 1944 entwickelt hatten, haben sie die moralische Kraft, die Charakterstärke und den Mut zu einer Tat aufgebracht, die unserer dankbaren Erinnerung mehr als würdig ist.

Und, meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Schluss bitte diese Zumutung: Wenn wir die innere Kraft aufbringen würden, uns einmal selber kritisch anzuschauen, dann drängt sich für mich die bedrückende und - ich gebe zu - zugleich beängstigende Frage auf, wo wir, jeder einzelne ganz persönlich, am 20. Juli 1944 wohl gestanden hätten und wie viele von uns in einer vergleichbaren Situation wohl den Mut, die Kraft und die Weitsicht aufgebracht hätten, einen beinahe erfolgreichen Versuch zu unternehmen, Hitler ein Ende zu bereiten. Viele, die heute urteilen, sollten erst die Frage persönlich beantworten, bevor sie urteilen.

Hätte dieser Aufstand des Gewissens Erfolg gehabt, so wäre Deutschland und der Welt vieles erspart geblieben. So sind allein auf deutscher Seite zwischen August 1944 und Mai 1945 mehr Menschen ums Leben gekommen als in den fünf Kriegsjahren zuvor. Nicht zuletzt wären viele Städte nicht mehr zerstört worden. Ich nenne hier nur die Namen Dresden, Würzburg, Königsberg und Breslau. Und vielleicht hätte auch ein junger, begabter jüdischer Komponist wie Gideon Klein die Chance erhalten, der Nachwelt ein umfangreicheres musikalisches Erbe zu hinterlassen als das, was nun glücklicherweise wieder gefunden worden ist.

All dies ist nicht geschehen. Der Diktator überlebte. Zahlreiche Menschen, die als Gegner Hitlers galten, wurden nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet, insgesamt mehr als zweihundert Personen, unter ihnen fünfunddreißig Offiziere, zwei Botschafter, sieben Diplomaten, ein Minister, drei Staatssekretäre und viele Beamte. Aber auch Frauen gehörten zu den Opfern - das will ich an dieser Stelle ganz besonders erwähnen -, so z. B. auch Elisabeth von Thadden. Sie hatte sich zusammen mit anderen Frauen um humanitäre Hilfe für Verfolgte, darunter auch Juden, bemüht. Aber auch unabhängig von diesem Massaker wütete der Terror. Meine Damen und Herren, ich darf daran erinnern: Allein im Jahr 1943 gab es 5.684 amtlich registrierte Exekutionen, und ein Jahr später, 1944, waren es 5.764.

Freya von Moltke, deren Mann am 23. Januar 1945 wegen seiner Zugehörigkeit zum Kreisauer Kreis von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde, hat dazu vor einigen Wochen geschrieben:

„Jede Form und jeder Akt des Widerstands gegen den Nationalsozialismus hat sich gelohnt. ... Es hat sich gelohnt, weil der deutsche Widerstand die europäische Menschlichkeit in Deutschland lebendig gehalten hat.“

Der heutige Festakt ist, wie ich meine, eine gute Gelegenheit, solchen Spuren der Menschlichkeit in der deutschen Geschichte nachzugehen. Der 20. Juli 1944 jedenfalls sollte wegen seiner herausragenden Einmaligkeit künftig gleichgestellt werden mit den großen historischen Ereignissen, wie etwa dem 17. Juni 1953 oder dem Tag der Deutschen Einheit, dem 3. Oktober.

Fazit: Wer die Gegenwart verstehen und die Zukunft, auf der Erfahrung der Vergangenheit aufbauend, gestalten will, braucht nun einmal Erinnerung.

Aus allen diesen Gründen ist es mir eine ganz besonders große Freude, dass wir für den heutigen Festakt einen Referenten gewonnen haben, der wohl wie kaum ein anderer Mann in Deutschland über die Zusammenhänge des 20. Juli aus historischer Sachkenntnis und persönlicher Bindung zu berichten weiß.

Dr. Klaus von Dohnanyi gehört zu den Menschen, die man in Deutschland nicht groß vorstellen muss. Es zeichnet ihn aus, dass er seine vielfachen Begabungen immer wieder in den Dienst unserer Demokratie und seines Vaterlandes gestellt hat. Bereits sein Elternhaus macht ihn für das heutige Thema zu einem exzellenten Experten. Sein Vater Hans von Dohnanyi gehörte zum engeren Kreis des Widerstandes gegen Hitler. Seine Mutter Christine war die Schwester von Dietrich Bonhoeffer. Er bekleidete zahlreiche staatliche Ämter - Sie wissen es -: Er war Staatssekretär, er war Bundesminister, und wir in Niedersachsen erinnern uns gerne an seine Zeit als Erster Bürgermeister von Hamburg.

Klaus von Dohnanyi hat einmal gesagt:

„Wir wissen nichts über die Zukunft. Doch vielleicht dies: Der einzelne Mensch lernt in seinem Leben, die Menschheit aber hat sich bisher nur sehr zögernd als lernfähig erwiesen. Deswegen ist noch immer die Hoffnung unser sicherster Grund. Unsere Arbeit allein kann sie festigen.“

In diesem Sinne wünsche ich dem heutigen Festakt einen guten, lehrreichen und sinnhaften Verlauf. Denn um nichts weniger geht es beim historischen Lernen als um die Arbeit an einer verantwortungsvoll gestalteten Zukunft.

Wir freuen uns auf den Vortrag von Herrn Dr. von Dohnanyi und hören jetzt noch ein Musikstück, wiederum von Gideon Klein.






Weitere Reden

15.07.2004
Dr. Klaus von Dohnanyi
Dr. Klaus von Dohnanyi