"Selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich."

Odilo Braun

„Selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich.“

Predigt von Pater Odilo Braun am 19. Juli 1968 in der Sühne-Christi-Kirche, Berlin

Meine Christen, liebe Freunde!

„Selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich.” Was hat dieses Wort des Herrn für eine Bedeutung gehabt für diejenigen, zu deren Gedächtnis wir heute schon zum 24. Mal zusammengekommen sind. In die tiefsten Tiefen ihrer Not und Qual, ihrer Erniedrigung ist dieses Wort des Herrn aus der Bergpredigt zu ihnen gedrungen. Wir alle haben uns an dieses Wort des Herrn geklammert in der Zeit der Sorge um das eigene Leben und um das Leben der anderen, und schließlich haben wir in unserer Trauer um die Gatten und Söhne und Brüder und Freunde und Schicksalsgefährten nur in dieser Verheißung des Herrn Halt und Trost finden können.

Das aber kann und darf nicht das Letzte oder gar Einzige sein, was unseren Zusammenkünften Inhalt geben kann. Die Opfer der Toten und unser aller Opfer sind nicht die einzigen Opfer der Willkür eines gottlosen und menschenunwürdigen Regimes. Als der Zusammenbruch uns alle in ein entsetzliches, ja grausiges Chaos hineingeworfen hat, da sind eines Dichters Worte buchstäblich in Erfüllung gegangen:

„Nichts Heiliges ist mehr,

es lösen sich alle Bande, frommer Scheu.

Der Gute räumt den Platz dem Bösen,

und alle Laster walten frei.“

Ein jeder von uns ist damals auf einem schmalen Grat seinen Weg gegangen, und rückblickend müssen wir in demütigem Dank bekennen, dass oft und oft der gnädige Gott uns vor dem Sturz in die Tiefe bewahrt hat. Wir fanden Hilfe und Rückhalt in einer Familie, bei Freunden, die alles taten, um uns zu helfen, den Weg in ein Leben der Ordnung zurückzufinden. Wie viele aber haben diesen Schutz und Rückhalt nicht gehabt. Sie waren entwurzelt, mittellos, alleinstehend unter Menschen, die nur daran dachten, das nackte Leben, das sie wie durch ein Wunder gerettet hatten, zu erhalten. Lebensangst und Lebensgier waren für viele die einzigen Impulse ihres Daseins. An tausend Toden vorbeigegangen, abgestumpft für alle Lebenswerte, ja für das Leben überhaupt, sind sie schuldig geworden; schuldig vor dem Gesetz, das dieses ihr menschliches Versagen ahnden muss. Aber sie sind Opfer dieses verruchten Systems, genau wie die Toten, derer wir gedenken, Opfer, wie wir alle. Nur ist ihr Opfer noch weit, weit schwerer. Sie sind schuldig geworden, als Verbrecher aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen.

Können wir es fertig bekommen, sie aus unserer großen Gemeinschaft der Opfer auszuschließen? Weil wir fürchten, dass wir unsere weiße Weste beschmutzen könnten, weil sie nicht wert sind, unserer Opfergemeinschaft anzugehören. Sind wir so sicher, dass ihnen wirklich volle Gerechtigkeit widerfahren ist im Sinne des Wortes aus der Bergpredigt, im Sinne der anderen Seligpreisung des Herrn: „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden.“

Gerade wir sollten nicht müde werden, im Sinne dieser Seligpreisung des Herrn unsere Stimme zu erheben. Man hat – Gott sei es gedankt – hier und da schon Versuche unternommen, dieses Problem zu lösen. Meine Feststellung, dass mindestens die Hälfte derer, die heute die Zuchthäuser füllen, Lebenslängliche, schuldig geworden in den Jahren 1945-48, bei normalen Zeiten niemals schuldig geworden wären, diese Feststellung ist mir immer wieder bestätigt worden von hohen, höchsten und allerhöchsten Instanzen der Justiz, wenn man sich einmal die Zeit genommen hat, ehrlich und ernsthaft über diese Fragen nachzudenken. Wenn ein Fortschritt trotzdem kaum wahrzunehmen ist, so liegt das einfach an einigen Tabus, mit denen juristische Instanzen nicht fertig werden können. Schon der Begriff „rechtskräftiges Urteil“ ist zu sehr geeignet, die Initiative, das Interesse und das Mühen um ein Hineindenken zu lähmen. Ich kenne genügend Urteile, die rechtskräftig geworden sind, obgleich der Rechtsgehalt sehr bresthaft, ja geradezu schwindsüchtig ist. Ein Bescheid: „Bei der Schwere der Tat kann die bisherige Strafverbüßung nicht als hinreichende Sühne angesehen werden. Darum muss ich Sie ablehnend bescheiden“ vermag den, der diesen Bescheid bekommt, nicht zu überzeugen, dass hier ein ernstes Bemühen um letzte Rechts- und Wahrheitsfindung stattgefunden hat. Wie oft ist es nichts anderes als übersteigerte Selbstgerechtigkeit, die hier zu Worte kommt, oder gar die Scheu vor dem Blick in den Spiegel, der die eigene Unzulänglichkeit offenbar machen würde. Wie sagt der Herr: „Wenn Eure Gerechtigkeit nicht vollkommener sein wird, als die der Schriftgelehrten und Pharisäer...“

Damit des Herren Wille nach echter Gerechtigkeit auch erfüllt werde, darum hat die christliche Moral die These von den „hostes voluntarii“ aufgestellt. Wenn Lebensumstände, Situationen, Notfälle, die zum Zwang werden können, einen Menschen völlig beherrschen, dann kann von einer freien Willensentscheidung nicht mehr gesprochen werden. Da ist es Aufgabe ehrlichen Strebens und Mühens, herauszufinden, ob ein Mensch überhaupt schuldig geworden ist oder in welchem Maße seine Verantwortung herabgemindert ist.

Alle diese Erwägungen sind entschieden zu kurz gekommen in den ersten Nachkriegsjahren bei Prozessen, bei denen es um Kapitalverbrechen ging. Ich entsinne mich ganz deutlich einer Schwurgerichtsverhandlung im Jahre 1946, bei der ich zum ersten Mal nach dem Kriege Zeuge eines Todesurteils wurde. Die Persönlichkeit des Angeklagten, die Umstände, die zu einer Kurzschlusshandlung führten, waren so, dass wir alle im Höchstfalle mit einer kurzfristigen Strafe wegen Notwehrüberschreitung gerechnet hatten. Dass es nach der Verkündigung des Urteils zu tumultartigen Szenen kam, die in dem Aufschrei ausklangen: „Der Mann durfte doch nie zum Tode verurteilt werden“, war dann nur eine Selbstverständlichkeit. Als Kuriosum sei nur angeführt, dass der Richter, der das Todesurteil verkündete, wenig später von seinem Amt suspendiert werden musste, weil er seine Zugehörigkeit zur NSDAP verschwiegen hatte. Aber das Urteil ist „rechtskräftig“ geworden. Den Bemühungen um die Begnadigung vom Schafott zu „lebenslänglichem Zuchthaus“ wurden durch den Tod des Verurteilten ein Ende gesetzt. Er war verhungert, bevor es zu einer Entscheidung gekommen war. In den ersten Nachkriegsjahren war man so befangen und gehalten von der Praxis, die von 1933-1945 getätigt worden war, dass man wie aus einer Angstpsychose heraus urteilte. Man meinte, kurzen Prozess machen zu müssen, um unser Volk und die Menschheit zu retten. Nach Jahren noch sagte mir ein früherer Generalstaatsanwalt, dass er sich manchmal bis in den Grund der Seele schäme in dem Gedanken, welche unmöglichen Urteile in den ersten Nachkriegsjahren gefällt worden sind, auch Todesurteile, die dann sogar vollstreckt wurden.

Was uns in unserem Kreise dabei am meisten erschrecken muss, ist die Tatsache, dass man viel großzügiger verfährt, wenn es sich um Verbrechen aus der Zeit der Diktatur handelt. Man unterscheidet zwischen Ideal-Mord und Not-Mord. Man kommt zu der Feststellung, dass es doch viel schlimmer sei, wenn jemand mit eigener Hand tötet, als wenn jemand ein Schreibtischmörder ist, wobei es dann keine Rolle mehr zu spielen scheint, dass es sich bei den Schreibtisch-Morden um die hundert- oder gar tausendfache Zahl von Opfern handelt. Umso mehr erheben wir unsere Stimme und fordern Gerechtigkeit für diejenigen, die durch die Not der Zeit schuldig, also auch Opfer des Hitler-Regimes geworden sind.

„Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“.

Was fordern wir? Keine Generalamnestie. Sie kann das Feigenblatt sein, hinter dem sich die Trägheit verbirgt, im Sinne der Seligpreisung des Herrn wirklich Gerechtigkeit zu suchen. Der einzelne Mensch und sein Versagen fordern, dass man sich die allergrößte Mühe gibt, ihm und seiner Tat ganz gerecht zu werden. Ein Gnadenerweis und Straferlass muss auch vernünftig und sinnvoll sein, er muss die Sorge um die Zukunft des Begnadigten mit umfassen. Wir alle haben die Pflicht, jedem einzelnen der schuldig gewordenen Opfer die helfende Hand zu reichen, ihn wieder zu einem normalen Leben zu führen. Ein Hilfskomitee der Opfer sollte es in seinen Aufgabenbereich mit hineinnehmen, echte und hilfsbereite Bewährungshelfer zu mobilisieren. Wenn wir zu müde und uns zu schade sind, für die Rettung eines einzelnen Menschen unsere besten Kräfte einzusetzen, dann bleiben alle Worte über das Mühen um die Rettung unseres Volkes nichts als leere Worte. Wir klagen darüber, dass die Jugend keine Ehrfurcht mehr kennt. Sind wir bereit, dem Bruder, der gefallen ist, in Ehrfurcht zu begegnen, ihm die Hand zu reichen zur Hilfe auf dem Wege in ein neues Leben?

Der Strafverteidiger Paul Ronge – er gehört auch zu unserem Kreise – hat seine Memoiren geschrieben. Das Buch trägt den Titel „Im Namen der Gerechtigkeit“. Ronge selbst hat dieser Titel niemals zugesagt. Er sagte oft, er habe sich den Wünschen des Verlages nicht widersetzen wollen. Ihm missfiel dieser Titel, weil, wie er sagte, in seiner langen Tätigkeit die Gerechtigkeit ihm nie begegnet sei. Jahre später – er hatte mit einem befreundeten Juristen bei einem Glas Wein gesessen – wurde er am späten Abend vor seiner Haustüre abgesetzt. Er hatte schon das Haus betreten, als er plötzlich noch einmal herausgelaufen kam und seinem Bekannten zurief: „Jetzt weiß ich den richtigen Titel des Buches: Warten auf Gerechtigkeit!“ Warten ist Harren, mit Sehnsucht warten. Kommt das nicht dem Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit nahe? Wenige Tage später war Paul Ronge tot. Es ist, als hätte die Hand des Herrn ihn angerührt, um seinem Warten Erfüllung zu geben, um ihn zu führen zur Anschauung der Gerechtigkeit.

„Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden.“

Wenn wir in einem Jahr zum 25. Mal zum Gedenken der Opfer zusammenkommen, dann sollte es sein, dass wir ein Stück vorwärts gekommen sind auf dem Wege zu dem Ziele, das sich unsere Brüder und Freunde damals gesteckt hatten; das zu erreichen sie ihr Leben hingegeben haben.

Herr, wir stehen vor Deinem Angesichte. Wir danken Dir für den Trost und die Kraft, die Du uns gegeben hast durch Deine Seligpreisungen derer, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen. Gib uns allen, wir bitten Dich, dass wir auch würdig werden Deiner Seligpreisung derer, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit.

Amen.






Weitere Reden