Sie alle tragen Schuld

Fabian von Schlabrendorff
Sie alle tragen Schuld
Gedenkrede von Fabian von Schlabrendorff am 20. Juli 1957 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Stauffenbergstraße, Berlin



Wir haben uns hier versammelt, um in Treue der Toten des 20. Juli 1944 zu gedenken. Damit richtet sich unser Blick notwendig in die Vergangenheit. Das mag vielleicht für einen Außenstehenden als ein Mangel erscheinen. Wer aber weiß, was Erinnerungen im Leben der Völker vermögen, der wird dieses Sichversenken in die Vergangenheit nicht gering achten. Will man den Toten des 20. Juli gerecht werden, so muss man die Zeit kennen, in der sie gelebt haben, man muss wissen, mit welchen Mächten sie im Kampf gelegen haben.


Als durch den Zweiten Weltkrieg die Auseinandersetzung zwischen dem Nationalsozialismus einerseits und der nichtnationalsozialistischen Welt andererseits offenbar wurde, da haben die nichtnationalsozialistischen Völker ihre ganze Kraft bis auf das äußerste anspannen müssen, um des Nationalsozialismus Herr zu werden. Und doch unterscheidet uns vom deutschen Widerstand von den nichtnationalsozialistischen Mächten dieser Welt ein bedeutsamer Unterschied: Für die anderen Völker fielen Nationalsozialismus und Deutschland in der Gestalt des gemeinsamen Gegners zusammen.


Wir vom Widerstand kämpften gegen den Nationalsozialismus, aber für Deutschland. Das ist das Charakteristikum der nationalsozialistischen Zeit, welches die Männer des Widerstands während des Tages nicht losließ und ihnen über die Nacht den Schlaf raubte. Wenn man die Weltgeschichte überblickt, so liegt auf der Hand, dass zu allen Zeiten Recht und Unrecht, Freiheit und Wirrnis, Lüge und Wahrheit, Menschlichkeit und Brutalität auf dieser Erde nebeneinander gelebt haben. So war es, so ist es und so wird es nach der Erfahrung der Geschichte auch in Zukunft bleiben. Was den Nationalsozialismus charakterisiert, ist die Tatsache, dass er statt des Rechts das Unrecht, statt der Freiheit die Wirrnis, statt der Wahrheit die Lüge, statt der Menschlichkeit die Brutalität zum tragenden Prinzip erhob. Im Nationalsozialismus wurde der Versuch gemacht, die öffentliche Ordnung zu gründen: auf die Macht der Lüge, des Unrechts, der Wirrnis und der Unmenschlichkeit. Das galt es zu bekämpfen. Der Nationalsozialismus ist nicht der Unglaube an die Macht des Gewissens im Menschenherzen, der Nationalsozialismus ist der Gegenglaube an die Macht der Willkür.


Berlin ist eine geschichtliche Stätte. Von hier sind für die Geschichte des deutschen Volkes unendliche Bewegungen ausgegangen und vor mehr als 150 Jahren hat hier in Berlin der große Philosoph Johann Gottlieb Fichte gelehrt. Er hat uns Deutschen eingeprägt, was es heißt, Verantwortung haben, Gewissen haben und Glaube haben. Wenn deshalb der Nationalsozialismus die Macht des Unrechts, der Wirrnis, der Lüge und der Unmenschlichkeit zum tragenden Staatsprinzip erhob, so verriet er damit den deutschen Geist. In unserer Geschichte mischen sich, wie in der Geschichte aller Völker, gute und böse Züge, aber das kann man getrost sagen: Diese Mächte der Unterwelt aufzurufen und auf ihnen die öffentliche Ordnung zu begründen – das war der Verrat des deutschen Geistes. Wir haben ein Beispiel in der antiken Welt: Als die Griechen kämpften um ihren Bestand, da fand sich ein Ephialtes, der dem Gegner den Weg wies in den Rücken des eigenen Landes. Dieser Ephialtes hat sich auch bei uns gefunden – bei uns aber fand sich auch ein Leonidas. Bei uns fanden sich auch dreihundert Spartaner, die in den Thermopylen kämpften, starben und mit diesem, ihrem Opfergang, ein Denkmal aufgerichtet haben. Was für die Griechen von damals gilt, das gilt auch für die Toten des 20. Juli: ”Ist der Leib in Staub zerfallen, lebt der große Name noch”.


Die Macht des Gewissens war der letzte Urgrund der Männer und Frauen vom 20. Juli. Das war letztlich ihre einzige Rüstung. Mit dieser Rüstung sind sie in den Kampf gezogen und mit dieser Rüstung sind sie in Ehren gefallen. Auch die Männer des 20. Juli, auch die Toten von damals hatten menschliche Gebrechen. Auch sie sind nicht ohne Schuld, sie tragen die Schuld desjenigen, der den Bereich der Kontemplation verlässt und handelt. Aber diese Schuld wiegt gering gegenüber der Schuld derjenigen, die die Macht des Unrechts zum Prinzip erhoben haben. Es gibt aber noch andere, die ein großes Maß Schuld tragen, ich meine nicht diejenigen, die die Zeichen der Zeit weder erkannt noch erkennen konnten, ich meine auch nicht diejenigen, denen das Schicksal es versagte, sich dem Nationalsozialismus zu stellen – ich meine diejenigen, die die Zeichen der Zeit erkannt und obwohl sie die Pflicht hatten, kraft ihrer Kenntnis und kraft ihrer Stellung, nach ihrem Gewissen zu handeln, nichts taten, sondern duldeten. Ich meine auch diejenigen, die nicht die Zeichen der Zeit erkannten, aber sie hätten erkennen können, wenn sie ihr Gewissen hoch genug angespannt hätten. Das hat zur Folge, dass damals wie heute viele Vorwürfe gegen die Toten des 20. Juli erhoben werden. Man spricht vom Hochverrat, aber man vergisst dabei, dass ein Staat nur bestehen kann, wenn er auf dem Boden der Sittlichkeit gegründet ist und wenn die Staatsführung die Unsittlichkeit zum tragenden Prinzip macht, wenn eine Kluft sich ergibt, die nur geschlossen werden kann: durch Revolution. Es gibt eben Zeiten, in denen muss, um das Recht wiederherzustellen, das Gesetz gebrochen werden. Es gibt ein altes deutsches Wort, nach dem in gewissen Zeiten der Bruch der Gesetze mehr ehrt als die Befolgung.


Es gibt noch einen anderen Vorwurf: den Vorwurf des Landesverrats, weil Männer des 20. Juli während des Krieges mit Persönlichkeiten des Auslandes gesprochen haben. Wer geschichtliche Ereignisse mit der Schneiderelle des Strafgesetzbuches messen will, möge es tun, aber der vergisst, dass einst der Reichsfreiherr von Stein an der Spitze russischer Truppen nach Ostpreußen gezogen ist, nicht um eine Herrschaft Russlands über Deutschland aufzurichten, sondern um Deutschland selbständig zu machen.


Es gibt auch noch den Vorwurf vom Bruch des Fahneneides. Wer sich diesen Vorwurf zu eigen macht, der kennt Friedrich den Großen nicht, der einst gesagt hat: „Das Volk ist von seiner durch den Eid geleisteten Treuepflicht enthoben, wenn der Herrscher seine oberste Pflicht, für das Wohl des Volkes zu sorgen, verletzt hat.” Ein andermal hat es Friedrich der Große noch deutlicher ausgeführt, indem er zu einem seiner Untergebenen sagte: „Ich habe ihn zum General gemacht, damit er weiß, wann er nicht zu gehorchen hat.”


Es gibt auch den Vorwurf des Tyrannenmordes. Man kann über den Tyrannenmord mit guten Gründen streiten, aber man sollte sich eine Empfindung bewahren für das tiefe Urgefühl, das in Worten von Heinrich von Kleist steckt: „Schlagt sie tot, das Weltgericht fragt Euch nach den Gründen nicht.“ Und letztlich gibt es welche, die werfen den Toten des 20. Juli vor, dass ihnen der Aufstand nicht gelungen ist. Mit dem feinen Takt eines großen Volkes haben die Griechen in ihrer großen Heldensage den Lorbeer nicht dem Sieger, sondern dem Unterlegenen überreicht, nicht Achill, Hektor! Das ist der Held der trojanischen Sage.


Nachdem der Aufstand vom 20. Juli 1944 zusammengebrochen war, begann das Leiden und Sterben der Männer und Frauen. Trotz Aktenvernichtung sind uns viele Zeugnisse aus dieser Zeit überliefert. Diese Zeugnisse legen die beiden Wurzeln bloß, aus denen die Männer vom 20. Juli gelebt und gehandelt haben und gestorben sind. Die erste Wurzel ist die Liebe zum Vaterland. Die Denkschriften Ludwig Becks, von Anfang bis zu Ende, sind ein klassisches Zeugnis für die hohe Vaterlandsliebe dieses Leonidas. Es gibt drüben in Amerika ein Dokument, das stammt von einem Gewaltigen der Gestapo und ist an den deutschen, damaligen Tyrannen gerichtet. Es enthält einen Bericht über die Untersuchung über einen der am 20. Juli Beteiligten. In diesem Dokument steht der englische Satz: „Was man auch untersuchen mag, durch das Leben dieses Mannes zieht sich wie ein roter Faden seine Vaterlandsliebe.” Alle diese Zeugnisse bestätigen das einzigartige Wort Hölderlins: „Oh, heiliges Herz der Völker, oh Vaterland!“


Die zweite Wurzel der Männer des 20. Juli ist die Bewahrung der überregionalen Werte, die auf dieser Menschenwelt Geltung haben, ohne Unterschied der Rasse und Religion. Wenn der Grundsatz von Treue und Glauben weder innerhalb eines Staates noch zwischen den Staaten Geltung hat, dann bricht dieses Staatensystem zusammen. Und darum war und ist es notwendig, an den überregionalen Werten, die für alle Menschen Gültigkeit haben, unter allen Umständen, auch mitten im Kriege, festzuhalten. Es ist keine kleine Sache, solche überregionalen Werte auch dann zu bewahren, wenn es mit dem nationalen Gefühl durchgeht, aber umso größer ist die Pflicht, an diesen überregionalen Werten festzuhalten. Die Nation ist nicht der letzte Höchstwert. Die deutsche Geschichte mit ihren religiösen Kämpfen zeigt, dass es auch höhere Werte gibt, denen sich weder der Mensch noch ein Volk noch die Menschheit ungestraft entziehen können.


Wir haben in Deutschland uns daran gewöhnt, Vaterlandsliebe, Patriotismus auf der einen Seite und Menschheit und Kosmopolitentum nur als Gegensätze zu sehen. Nicht ist falscher als das. Der eben erwähnte Fichte hat es in einer Zeit schwerer Not unseres Vaterlandes deutlich ausgesprochen: Der Patriot weiß, dass die in einer Nation entwickelnden Werte der ganzen Menschheit zugute kommen müssen. Und der Kosmopolit weiß, dass der wahre Wert für die Menschheit erst in einer Nation geboren und entfaltet werden muss. Deshalb sagte Fichte: Patriotismus und Kosmopolitentum sind nicht Gegensätze, sie ergänzen sich.


Mag man über diese Dinge denken, wie man will. Eines steht fest: Spätere Historiker werden mit Recht darauf hinweisen, dass es zwischen den Männern des 20. Juli sehr verschiedene Auffassungen gegeben hat. Sollten diese Historiker aber der Meinung sein, dass diese Verschiedenheiten das Wesentliche sind, so irren sie. Das Wesentliche der Männer und Frauen des 20. Juli war, dass sie aus einem Geist heraus empfanden, dachten und handelten. Die andersartige Meinung des einen oder des anderen wurde nicht angesehen als die Meinung des Todfeindes, sondern als die Überzeugung eines Freundes, der ein Recht darauf hatte, dass seiner Meinung mit Achtung begegnet wurde.


Das Leben und Sterben der Männer und Frauen vom 20. Juli ist nicht nur ein Ereignis unserer Geschichte, es ist nicht nur ein Akt der Erinnerung – darüber hinaus ist es Vermächtnis und Ansporn für die Nachwelt. Noch sind wir nicht am Ende aller Tage angelangt, noch harren unser neue Fragen und neue Aufgaben. Sollte durch die zukünftige Geschichte Deutschlands noch einmal der Mantel Gottes rauschen, so wollen wir beherzt einen Zipfel dieses Mantels ergreifen – eingedenk der Toten des 20. Juli in dem verpflichtenden Sinne des Wortes von Ludwig Uhland:


”Ihr habt vernommen, was dem Gott gefällt,
geht hin, bereitet Euch, gehorchet still.
Ihr seid das Saatkorn einer neuen Welt.
Das ist der Weihe Frühling, den er will.”