Sie haben den Tod überwunden, denn sie leben in uns!

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Anna Stiegler

Sie haben den Tod überwunden, denn sie leben in uns!

Gedenkrede von Anna Stiegler am 20. Juli 1954 zur Eröffnung des Parteitages der SPD

Der Parteivorstand erfüllt eine tiefe Verpflichtung, wenn er am zehnten Jahrestag des 20. Juli 1944 der Eröffnung des Parteitages eine Stunde des Gedenkens an die Männer des 20. Juli, der toten, immer lebendigen, unvergesslichen Freunde, vorausgehen lässt.

Es war ein verhältnismäßig kleiner Kreis von Politikern, früheren Staatsmännern, hervorragenden Gewerkschaftlern, Wissenschaftlern, Arbeitern und Militärs, die sich trotz Verfolgung und vorübergehender Verhaftung immer wieder zusammenfanden, um Wege zu suchen, die zur Ablösung der volkszerstörenden Ungesetzlichkeit durch einen Rechtsstaat führen konnten und sei es auch durch einen Staatsstreich.

Es waren Männer mit hohen Begabungen, von tadellosem Charakter, hohem Idealismus und besessen von dem heiligen Willen, den Umsturz vorzubereiten, der dem deutschen Volk die Erlösung bringen sollte von dem schandbarsten Regime, das die Welt jemals gesehen hat.

Alle wussten, dass es um ihr Leben geschehen sei, wenn auch nur ein Rädchen in dem gefassten Plan versagte. Julius Leber sagte - und er hat es wohl für alle gesagt -: Ich habe nur einen Kopf und ich kann ihn für keine bessere Sache einsetzen als diese. Das sind die Worte eines Mannes, der sich bis zur letzten Klarheit durchgerungen hat.

Die Schmerzlichkeit dieser inneren Auseinandersetzung kann wohl nur ermessen, wer jahrelang jeden Tag vor derselben Situation gestanden, den dunklen Weg hat gehen sehen von lieb gewordenen Schicksalsgefährten und teilgenommen hat an dem schmerzlichen Abschied von allem, was ihnen lieb und wert war.

Mit dem Scheitern des Attentatsversuches schwand die letzte Chance, das schlimmste Unheil von Deutschland abzuwenden. Ein brutales Schicksal nahm nun seinen Lauf. Verhaftungen, tage- und nächtelange Vernehmungen mit ihren qualvollen Foltern, die oft auch ihre äußeren Zeichen hinterließen - wir kennen sie alle.

Das verwerflichste und schandbarste Mittel, Geständnisse zu erpressen, ist die Verhaftung von Frauen und Kindern als Geiseln. Auch diese seelische Folter blieb einzelnen unserer Getreuen nicht erspart.

Der Abschluss des Dramas war das Todesurteil für die führenden Persönlichkeiten.

Es waren alles Männer in bestem, schöpferischem Alter, von denen unser Volk, unser Land und unsere sozialistische Bewegung noch große Leistungen erwarten konnte. Dieses zukunftsträchtige Leben haben sie eingesetzt, um ihr Volk zu erlösen aus Hunger, Schmach und Schande.

Julius Leber sagte in seinem letzten Brief an seine Freunde: Für eine gute und gerechte Sache ist der Einsatz des eigenen Lebens der angemessene Preis.

Wenn es anders - im Sinne unserer Freunde - ausgegangen wäre, unserem Volke und unserem Land wäre der letzte Abschnitt des schaurigen Geschehens erspart geblieben.

Das können am besten jene ermessen, die das Fegefeuer der letzten neun Monate im Konzentrationslager erlebt haben, als die überlebenden Insassen der östlichen Lager vor den vorrückenden Russen nach dem Westen getrieben wurden, um hier liquidiert zu werden oder zu verhungern. Millionen Menschen in den Lagern wären vor dem Gastod bewahrt geblieben. Hunderttausende wären nicht an Hunger und Seuchen gestorben. Vielen tausend Soldaten wäre der Soldatentod oder die Vernichtung ihrer gesunden Glieder erspart geblieben und ungezählte Kinder weniger ständen heute vater- oder elternlos in der Welt.

Ich rufe die Jugend auf: Schützt das Andenken dieser Kämpfer, wenn wir, ihre Zeit- und Kampfgenossen, es nicht mehr können. Duldet es nicht, wenn durch spätere Geschichtsfälschung das reine Wollen der Männer des 20. Juli besudelt werden sollte. Wir wissen, was wir ihnen schuldig sind und geloben in dieser Stunde, dass wir in Dankbarkeit und Treue das Opfer ihres Lebens als ein heiliges Vermächtnis hüten und ehren wollen.

In dieses Gelöbnis schließen wir ein alle die Opfer, die in diesem Freiheitskampf gefallen sind, vor 1933 und nachher, sei es im offenen Kampf oder als wehrlose Gefangene in den Konzentrationslagern.

Denn auf die breite Widerstandsbewegung der vorausgegangenen Jahre mit ihren ungezählten Opfern, bekannten und namenlosen, konnte sich der letzte Akt des 20. Juli aufbauen.

Niemals wäre dem deutschen Volk die Befreiung von dem Misstrauen und dem Hass der Völker so schnell gelungen, wenn nicht in den Lagern die deutschen Häftlinge durch ihre menschliche und kameradschaftliche Haltung gegenüber den ausländischen Widerstandskämpfern und den unglücklichen Juden, die so viel Leid ertragen mussten, den Nachweis erbracht hätten, dass es noch ein anderes Deutschland gab.

Wir wollen aber auch nicht vergessen, den Hinterbliebenen unserer Kämpfer zu danken für die Tapferkeit, mit der sie ihr hartes Schicksal auf sich genommen haben. Sie haben sich damit dem Opfer ihrer Väter, ihrer Söhne oder der Gatten würdig zur Seite gestellt und verdienen unsere Hochachtung und unseren Dank.

Wir schließen aber auch - und nicht zuletzt - in dieses Gedenken ein unsere Brüder und Schwestern jenseits der Grenze, der wir so nahe sind und die immer noch zwei Welten von einander trennt, wo heute noch, neun Jahre nach der sogenannten Befreiung, ein freies Wort mit Zuchthaus bestraft wird und wo man gegen wehrlose, unbewaffnete Arbeiter, die für ihr Menschenrecht demonstrierten, schwere Kriegsmaschinen eingesetzt hat.

Allen, die in diesem neunjährigen aufreibenden, unterirdischen oder offenen Kampf gegen Hunger und schamlose Ausbeutung, für Freiheit und Menschenwürde gefallen sind, ihnen allen Dank und Ehre für ihr tapferes Aushalten, verbunden mit einer tiefen Trauer, weil wir ihr Schicksal nicht verhindern konnten.

Wir fügen diesem Gedenken das Gelöbnis hinzu, nicht zu erlahmen in dem Kampf um die Einheit des deutschen Volkes, damit die Erde, in der die Opfer der östlichen Diktatur ruhen, bald eine freie werde!