Tot ist nur, wer vergessen ist.

Emil Henk

Tot ist nur, wer vergessen ist.

Tischrede von Emil Henk, Stiftung „Hilfswerk 20. Juli“ am 20. Juli 1960 im Haus der Kaufleute, Berlin

Es ist schwer, den 20. Juli in kurzen Zügen zu umreißen. Er ist, wie jeder Aufstand gegen einen totalitären Staat, sehr kompliziert. Man macht es sich in der Öffentlichkeit leicht und sagt, das Attentat sei gescheitert; man sagt, es sei ungenügend vorbereitet gewesen; man sagt, es hätte an einheitlicher Leitung gefehlt. Wer so etwas behauptet, versteht nichts von diesen Dingen und weiß nicht, was es heißt, gegen die vollkommene Diktatur der Weltgeschichte ein Attentat zu wagen. Darüber will ich sprechen: über Schwierigkeiten, über Gefahren, über die sehr begrenzten Möglichkeiten, überhaupt etwas gegen Hitler zu unternehmen.

Da ist zu sagen: Die Opposition setzte sich nicht aus einer einzigen Widerstandsgruppe zusammen, sondern aus sehr vielen. Diese Gruppen hatten verschiedene Ziele. Es gab konservative, es gab liberale, es gab religiöse und es gab die Gegnerschaft der Sozialisten. Alle waren ursprünglich getrennt und fanden sich erst mit der wachsenden Not zusammen. Aber sie hatten alle eines gemeinsam: Alle wollten die Diktatur beseitigen, und sie alle wollten Deutschland vor dem Untergang retten. Den Rechtsstaat und die Demokratie wollte man wieder herstellen.

Da sind einmal die Sozialisten, die grundsätzlich Gegner Hitlers waren. Sie hatten jahrelang illegale Organisationen aufgezogen, die fast alle der Gestapo zum Opfer fielen. Später, nach der Zerstörung der Illegalität, bestand nur ein loser Zusammenhang ohne Organisation. Es gab Freundeskreise. Warum? Weil die politische Organisation nicht genug gesichert ist. Man beschränkte sich daher auf Freundeskreise. Die moralischen Werte der Freundschaft wurden damals zur unentbehrlichen Voraussetzung der Illegalität, weil die reine politische Bindung gegenüber dem totalitären System nicht genügte. Freundschaft und Politik wurden die Grundlagen der Opposition. Hier waren Männer wie Leuschner, Mierendorff, Haubach, Leber und Reichwein. Sie alle waren zutiefst unzerstörbare Personen. Aber für sie alle galt: Sie waren völlig machtlos, aber sie alle waren bei den Massen noch bekannt. Leuschner bedeutete die Gewerkschaft, Mierendorff bedeutete die politische Arbeiterschaft. Sie alle waren daher potentielle Machtträger. Im Falle eines Staatsstreiches wussten die Massen: Das ist unser Mann.

So eben ist die illegale Situation gewesen: Ein Mann vertrat stellvertretend die Massen, und von hier aus begreift man den Weg des Umsturzes: Diese potentiellen Machtträger mussten mit echten Trägern von militärischer Macht zusammenkommen, also mit Generälen der Wehrmacht, dann waren die großen Chancen für einen Umsturz gegeben. Geschichtlich gesehen ist dieses Bündnis beider Gruppen die Voraussetzung des 20. Juli 1944.

Es gab eine große Reihe bürgerlicher Oppositionsgruppen. Sie waren meist Inhaber wichtiger Positionen oder wichtiger Verbindungen. Auch sie waren entschlossene Gegner Hitlers, aus politischen, moralischen wie aus religiösen Gründen. Allen aber war das Dritte Reich die Verneinung eines lobenswerten Lebens. Sie waren wichtiger als bedeutende Einzelpersönlichkeiten, aber sie waren fast alle ohne mögliche Massenbasis. Hierher gehören Männer wie Goerdeler, Jessen, Männer der „Mittwochgesellschaft“. Hierher gehören mutige Katholiken wie der Pater Delp. Sehr viele fromme Protestanten gehörten zu der Opposition, wie Steltzer, Fürst Fugger, ja fast alle hohen Offiziere, Gewerkschaftler wie Maaß und Habermann, der größte Teil des „Kreisauer Kreises“. Ihre Welt war durch Hitler vereint. Viele waren jahrelang Einzelne im Lande, und das Problem war, sie zusammenzubringen.

Es war schwer, weil der Mensch im Dritten Reich isoliert leben musste. Groß und entscheidend war die Gruppe des Militärs. Ihr Zentrum waren die Leute um Generaloberst Beck. Hier lag ein tiefer und sittlicher und geistiger Gegensatz zum totalen Staat vor. Generaloberst Beck war gegen den Krieg und gegen den vermessenen weltpolitischen Spieler – Hitler. Er war der leitende Kopf, Militär und auch Staatsmann. Er war aus inneren Gründen gegen den Diktator, aber er war darüber hinaus bedrängt von der Not des Vaterlandes. Zu ihm gehörten maßgebende Generäle wie Fellgiebel, Olbricht, Tresckow und Feldmarschall von Witzleben. Der größte Teil der Feldmarschälle aber blieb neutral. Die oppositionellen Offiziere haben früh versucht, Hitler zu stürzen. Ein solcher Versuch scheiterte durch das Münchener Abkommen und ein weiterer scheiterte durch den Einmarsch Hitlers in Österreich; dann kamen der Krieg und Sieg. Es gibt kein Attentat gegen den siegreichen Diktator. Die Masse geht nicht mit.

Man muss die Lage sehen: Deutschland war in einem ungeheureren Weltkrieg, und es ging um Sein oder Nichtsein; die Lage war hoffnungslos. Hitler war Herr des Landes wie noch nie ein Mensch. Die inneren Gegner des Systems landeten in den Zuchthäusern oder in den ungeheuerlichen Konzentrationslagern. Das Volk war durch die Gestapo überwacht, und es lebte bereits über ein Jahrzehnt unter fürchterlichen Einschränkungen. Der Einzelne war isoliert, und eine zivile Macht – unabhängig von der Diktatur – gab es nicht.

Wer Hitler beseitigen wollte, musste die Niederlage, die unvermeidlich war, in Kauf nehmen. Der Weg ist sehr weit bis zu dieser erschütternden Einsicht. Die Lage war klar: nur Militärs konnten Hitler stürzen; wie gesagt: es gab keine zivile Macht. Und es war weiter klar: nach dem Putsch des Militärs musste eine zivile Regierung kommen. Niemand wollte eine militärische Diktatur. Aber wie stand es mit den Militärs? Sie waren an den Eid gebunden, auch, wenn sie gegen Hitler waren, und die jüngeren Offiziere standen lange auf Seiten des Dritten Reiches.

Eine ungeheuerliche Lage: Es gibt keinen Massenaufstand, da keine Massen da sind. Die Entscheidung also lag bei den Offizieren, die in zentraler Machtstellung waren. Sie lag nicht bei den Soldaten. Nur hohe Machtstellen konnten handeln. Man versteht den 20. Juli 1944 nicht, wenn man nicht weiß, dass ein Umsturz nur möglich war über hohe Kommandostellen, die Armeen Befehle erteilen konnten. Also: es gab keinen Massenaufstand, er ist reine Illusion in der Diktatur. Es gab nur generalstabsmäßig vorbereiteten Übergang der Macht von einer Kommandostelle auf eine andere. Die Voraussetzung dazu war unausweichlich Hitlers Tod. Aber Hitler hatte die Zentralstellen inne und keine Division war ohne sein Wissen unterwegs.

Wie aber Hitler beseitigen? Es war klar, es gab keinen Anmarsch von Divisionen auf das sogenannte Führerhauptquartier, die Wolfsschanze, wie es einmal ein verzweifelter General plante. Der Diktator hatte das Stellwerk der Armeen in der Hand. Er wusste, wo jede Division stand. Es ist tragisch: rebellische hohe Offiziere waren selbst machtlos. Die Konsequenz ist eindeutig: Es kam nur ein Einzelattentat in Frage. Daneben gab es die SS-Truppen, und die Gefahr eines Bürgerkrieges mitten im Krieg war groß. Eine komplizierte, unvergleichbare, eine fast hoffnungslose Lage, man muss es sehen, wenn man den tragischen Ausgang des 20.Juli 1944 verstehen will.

Es gab allerdings nur eine Stelle, die neben der Wolfsschanze Befehlsgewalt haben konnte, und diese war der Befehlshaber der Ersatzheere. Der Herr dieser Befehlsstelle war Generaloberst Fromm, ein harter Realist. Von dieser Stelle aus waren nach dem Plan „Walküre“, den Tresckow und Stauffenberg ausgearbeitet hatten, tatsächlich Befehle möglich. Diese Stelle hatte auch ein Recht, das entscheidend werden sollte: das Recht des direkten Vortrags bei Adolf Hitler.

Hitler selbst war ungeheuer gesichert. Er lebte in einem kleinen Kreis bei Rastenburg oder auf dem Obersalzberg. Fast niemand hatte Zutritt; ein tierisches Misstrauen beherrschte ihn. Er besaß eine unwahrscheinliche Witterung für Gefahren. Zudem: viele Attentatsversuche sind gescheitert. Die Bombe, die Schlabrendorff ins Flugzeug schmuggelte, explodierte nicht. Die neuen Uniformen, die mit einer Bombe vorgeführt werden sollten, wurden am Vortag durch Fliegerbomben zerstört. Beim zweiten Versuch fehlte Himmler, und zum dritten Versuch bekam der Offizier, der das Attentat unternehmen sollte, Axel von dem Bussche, keinen Urlaub. Ein anderes Mal gab es für den Ordonnanzoffizier, der die Bombe hatte, keinen Zutritt ins Führerzimmer. Es schien, als würde der Satan Hitler schützen. Die Zeit verging und die Lage Deutschlands wurde verzweifelt.

Da wurde Oberst Graf Stauffenberg am 1. Juli 1944 zu Generaloberst Fromm versetzt. In dieser Position war, wie gesagt, Vortrag bei Hitler möglich. Die dynamischste Persönlichkeit der Opposition bekam Zutritt zum kleinen Kreis im Führerhauptquartier. Stauffenberg hatte den Walküreplan ausgearbeitet und eine glänzende generalstabsmäßige Vorbereitung des Attentats entworfen, er war also der Organisator des Umsturzes. Auf der anderen Seite: er allein konnte bei Hitler vortragen, und damit gab es keinen anderen Ausweg, Stauffenberg wurde der Mann des Attentats. Es ist ein Verhängnis, das nicht zu vermeiden war: Der Leiter des Aufstandes und der Attentäter selbst waren dieselbe Person.

Die Chancen des Attentats waren nicht übermäßig hoch. Einige Hundert todesbereite Männer standen dem riesigen Machtapparat Hitlers gegenüber. Dieser Apparat war auf den Tyrannen eingespielt, und darum war sein Tod eine unerlässliche Voraussetzung des Gelingens. Eine zweite Voraussetzung war, dass schnelle Tatsachen geschaffen wurden. Der Aufstand musste rasch gelingen. Ein Staatsstreich der Stunden war nötig. Stauffenberg hatte geplant, dass in den ersten zwei Stunden nach Hitlers Tod alle Nachrichten-Dienststellen von Wehrmacht, Partei, SS und Verwaltungen erobert würden. Alle Sendestationen mussten in den Händen der Aufständischen sein. Nach weiteren vier Stunden mussten alle Machtpositionen erobert sein. Einen Tag später: Ruhe. Wir sagen: ein ungeheurer Plan, dem die grausige Notlage im Gesicht steht.

Dreimal hat Stauffenberg das Attentat versucht. Am 11. Juli war er in Berchtesgaden zum Attentat bereit, aber Himmler fehlte. Am 15. Juli war er wieder bereit zur Tat, aber Hitler verließ bei Beginn der Besprechung den Raum. Aber es ist doch etwas geschehen. Berlin hatte an diesem Tag nach dem „Walküreplan“ Voralarm gegeben, und Generalfeldmarschall Keitel hatte diesen Vorgang scharf gerügt. Der Voralarm konnte also nicht wiederholt werden, was sich am 20. Juli bitter rächte. Die Lage hatte sich verschlechtert. Militärisch war die Situation katastrophal, und es kam hinzu, dass zwei Beteiligte aus dem Zivilsektor, Leber und Professor Reichwein, verhaftet wurden. Es war aber auch bekannt, dass gegen Goerdeler Haftbefehl vorlag. Stauffenberg war daher entschlossen, am 20. Juli um jeden Preis zu handeln. Erschwert war auch die Lage für ihn selbst: Hitler war nach Ostpreußen, nach Rastenburg umgesiedelt und war in einem unvorstellbaren Maße gesichert; zudem musste er in einem völlig unbekannten Milieu und ohne Ortskenntnis handeln. Das Hauptquartier war eine Festung im Lande, und gesichert durch drei fast unpassierbare Sperrkreise. Der erste Sperrkreis war etwa 3 km vom Zentrum entfernt, der zweite 800 m, und in den dritten kam man nur mit einem Seltenheitsausweis. Das Hauptquartier war von der Welt abgeschlossen.

Stauffenberg, der Mann mit dem einen Auge und dem einen Arm mit nur drei Fingern, war früh ins Hauptquartier seines Todfeindes gekommen, und es gelang ihm, die Zündung der Bombe im Beratungsraum auszulösen. Es erfolgte eine ungeheure Explosion, und Stauffenberg, der Hitler aus dem Raum hinausfliegen sah und tot glaubte, musste sofort an seine zweite Aufgabe denken: Der Attentäter musste zurück um die Leitung des Aufstandes zu übernehmen. Er hat das Unwahrscheinliche vollbracht, er kam durch alle drei Sperrzonen hindurch. Er hat es genial gemacht. Nach drei Stunden kam er nach Berlin. Er stellte das erste Verhängnis schon auf dem Flugplatz fest: Der Putsch war nicht ausgelöst worden. Drei entscheidende Stunden waren verloren, eben weil man nicht ohne Gewissheit zum zweiten Male Voralarm auslösen wollte. Geschichtliche Verstrickungen, die niemand voraussehen kann.

Die zweite Katastrophe, die folgte, war, dass General Fellgiebel im Hauptquartier nicht die Nachrichtensperre durchgeführt hatte. Entscheidend aber war das Dritte: Hitler lebte, er war nicht tot. Das Ungeheuer mit Menschenantlitz war lebend davongekommen. Ein Aufstand gegen den lebenden Hitler, der den ganzen Machtapparat des Staates beherrschte, war aussichtslos. Stauffenberg gab unbeirrt Befehle an die Heimatarmee und an die Front durch, sie wurden aber durch die Rastenburger Gegenbefehle wieder aufgehoben. In Berlin kamen die Truppen mindestens drei Stunden zu spät. Stauffenberg kämpfte vergeblich. Er hat das Unwahrscheinliche versucht und versuchen müssen: gegen die riesige Macht des lebenden Hitlers anzugehen. Er wusste: wenn Hitler lebte, war die Befehlsstelle, die er, Stauffenberg, besaß, machtlos und ohne militärische Geltung und Wert. Ein Aufstand gegen den lebenden Diktator musste scheitern, und die Männer, denen Freiheit und Ehre mehr war als ein schönes Leben, gingen stolz in den Tod. Sie haben aber die Ehre unseres Volkes gerettet.

Der 20. Juli 1944 wird viel mit dem Aufstand der Bevölkerung in der Ostzone am 17. Juni 1953 verglichen. An beiden Tagen wurde um die Freiheit gekämpft. Die Tragik des 20. Juli 1944 aber ist, dass er ein Aufstand ohne das eigene Volk war und sein musste. Das Volk wusste nichts und schwieg. Der 17. Juni 1953 dagegen ist ein Aufstand des Volkes gegen die Fremdherrschaft. Der 20. Juli 1944 ist ein tragischer Aufstand echter und großartiger Eliten. Durch ein Verhängnis kam man nicht an das Volk heran. Der 17. Juni 1953 ist ein Aufstand ohne Eliten und Plan, während beim 20. Juli 1944 alles vom Funktionieren des Planes abhing; dieser Tag war daher unberechenbar. Der Umsturz am 20. Juli 1944 war im ersten Akt ein Aufstand von Militärs gegen Militärs und später sollte der zivile Sektor in Aktion treten. Der 17. Juni 1953 dagegen war ein ungelenkter Massenausbruch, ein Freistoß der Massen für sich selbst. Der 20. Juli 1944 war notgedrungen eine Revolution, die von einer militärischen Befehlszentrale ausging und über eine Nachrichtenapparatur laufen musste. Eine moderne „Klappenschrank-Revolution“, die tragischerweise durch geschichtliche Verhängnisse nicht auf die Straße gekommen ist.

Das Scheitern des Aufstandes ist kein Beweis. Die Männer des 20.Juli wussten um ihren Auftrag. Der Tag war nur möglich durch hohe Menschen. Ungeheuer viel Genialität war zusammengefasst, Geist und Charakter hatten sich gefunden. Sie alle waren todbereite Menschen; nur um Deutschlands willen haben sie auf ihr Lebensglück verzichtet. Selten in unserer Geschichte war so viel Begabung, Menschenwürde und hohes Ziel beisammen. Der 20. Juli 1944 ist eine genial vorbereitete Revolution von oben, die durch tragische Zufälle nicht nach unten kam. Aber wir wissen: Wäre der Tag gelungen, es wäre die Weltlage heute eine andere als sie ist.

Wir aber sind gewiss: Die Toten und das Attentat vom 20.Juli 1944 bleiben unvergessen; und wir wissen: Tot ist nur, wer vergessen ist.