Totalitarismus mit aller Kompromisslosigkeit bekämpfen

Roman Herzog

Totalitarismus mit aller Kompromisslosigkeit bekämpfen

Grußwort von Bundespräsident Prof. Dr. Roman Herzog am 20. Juli 1994 beim Empfang im Schloss Bellevue, Berlin

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

zu dem kleinen Empfang, zu dem ich Sie eingeladen habe, begrüßen meine Frau und ich Sie aufs Herzlichste. Vor allem begrüßen wir die Delegationen von Widerstandskämpfern, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind, aus Frankreich, Luxemburg, Dänemark, Belgien, Großbritannien, aus der Schweiz, Österreich, den Niederlanden und Israel, und ich hoffe, dass die Aufzählung vollständig ist. Wir freuen uns, dass Sie zu uns gekommen sind, und wir hoffen auf eine Stunde angeregter und weiterführender Gespräche.

Zu dem Anlass, der uns heute – wieder einmal, wenn auch zu einem besonderen Jubiläum – zusammengeführt hat, möchte ich weiter nichts mehr sagen, schon um Ihnen eine weitere Rede zu ersparen. Was mich im Zusammenhang mit dem deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus bewegt, das habe ich vor vier Jahren in der Bendlerstraße vor den meisten von Ihnen schon einmal ausgeführt. Ich habe daran keine Abstriche zu machen. Es gilt – was mich betrifft – alles noch so, wie ich es damals gesagt habe.

Wichtiger noch als damals ist mir heute die Erkenntnis, dass man den Totalitarismus – gleich welcher Couleur – nicht erst bekämpfen kann, wenn er sich in einem Staat bereits eingenistet hat; unter dieser Erfahrung haben die Frauen und Männer des deutschen Widerstandes wahrscheinlich mehr gelitten, als wir heute ahnen können. Totalitarismus, so lernen wir gerade aus unserer Vergangenheit, muss man vom ersten Augenblick an bekämpfen, in dem er sein Haupt erhebt, und zwar mit aller Kompromisslosigkeit. Mir war dieser Satz, den ich in meiner Rede vor Ihnen im Jahre 1990 gesprochen habe, so wichtig, dass ich ihn vor drei Wochen in meiner Antrittsrede im Reichstag wörtlich wiederholt habe.

Und, meine Damen und Herren, das müssen wir über die Generation hinweg – auch unseren Kindern und Enkeln – nicht nur vermitteln, wir müssen es ihnen einimpfen. Unseren Kindern und Enkeln, die solche Erfahrungen ja schon aus Altersgründen nie machen mussten. Wenn irgendetwas, so ist das die Pflicht unserer Generation, der Generation, der ich angehöre.

Dazu gehört dann freilich, dass wir den jungen Menschen nicht nur die schrecklichen Folgen des Totalitarismus aufzeigen – Unterjochung von Völkern, Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen, Folter –, sondern dass wir sie mehr als bisher mit den Zeichen vertraut machen, die den Beginn einer solchen Entwicklung charakterisieren: Häme, Hetze gegen einzelne Menschen und Menschengruppen, gesellschaftliche Isolierung, Demütigung in den Kleinigkeiten des täglichen Lebens, Aufführungsverbote, Buchverbrennungen usw.

Man kann auf diesem Feld nicht genug tun, und ich verspreche Ihnen, dass das in den kommenden Jahren mein bevorzugtes Augenmerk haben wird. Bitte seien Sie also nicht irritiert, wenn ich nicht immer nur von den großen Verbrechen, sondern auch von diesen „Kleinigkeiten“ des Alltags spreche.

Der deutsche Widerstand, vor allem auch der 20. Juli 1944, meine Damen und Herren, ist in den vergangenen Monaten zunehmend wieder ins Gerede gekommen. Ich will dazu heute nicht Stellung beziehen. Ob der Widerstand, ob der 20. Juli 1944, meine Damen und Herren, effektiv genug war, ob er früh genug gekommen ist, ob er die ganz richtigen Ziele verfolgt hat, darüber mögen heute die Historiker urteilen, von denen ich für meinen Teil nur hoffe, dass sie ein halbwegs gerechtes und kein besserwisserisches Urteil finden mögen.

Nur auf ein paar vordergründige Streitpunkte, bei denen mich die Ahnung bedrückt, als sei es zu ihnen überwiegend deswegen gekommen, weil wir Deutschen – und hier nehme ich keinen aus – mit unserer Muttersprache nicht mehr so sorgfältig umgehen, wie sie es an sich verdienen würde und wie es auch der Gegenstand des heutigen Tages verlangt.

Ich erwähne nur zwei oder drei Beispiele, meine Damen und Herren: „Widerstand“ ist ein sehr umfassender Begriff, unter den man fast jede aktive Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus subsumieren kann; ich will die Beispiele hier nicht noch einmal anführen.

Selbst jener kleinen Leute kann man sich in diesem Zusammenhang erinnern, die die Demütigung verfolgter Nachbarn einfach nicht mitgemacht haben oder die es ganz einfach geschafft haben, sich jenem Trend zu widersetzen, der den Menschen so leicht dazu bringt, mit den Wölfen zu heulen.

Von einem „Widerstandskämpfer“ aber ist etwas mehr zu verlangen. Zu ihm gehört, wenn ich die deutsche Sprache noch richtig verstehe, eigene Gefährdung oder – zumindest bei denen, die ins Ausland abwandern mussten – ein eigenes Opfer. Wenn es gelänge, wenigstens hier eine sorgfältigere Sprache zu sprechen, als das bisher gelegentlich geschieht, meine Damen und Herren, wäre meines Erachtens schon sehr viel gewonnen.

Und ein zweiter Punkt: „Erinnern“, „Museum“, „Ausstellung“ sind neutrale Ausdrücke, die auf geschichtliche Wahrheit ausgerichtet sind. Es fällt niemandem eine Perle aus der Krone, wenn er zugibt, dass auch Kommunisten dem Widerstand angehörten, ja, dass sie sogar Widerstandskämpfer gewesen sind.

„Gedenken“ ist aber mehr; dieser Begriff ist positiv gestimmt, er ist, lassen sie es mich so sagen, er ist verehrend gestimmt. Da kommt es dann sehr wohl darauf an, welche Ziele der Einzelne verfolgt hat und wie er sich später verhalten hat. An Walter Ulbricht, um nur dieses eine Beispiel herauszugreifen, kann ich mich ohne jedes Problem erinnern, auch an seinen Beitrag im Kampf gegen Hitler. Aber ich für meinen Teil kann seiner nicht ehrend gedenken. Bei anderen Kommunisten mag das schon wieder ganz anders sein: Sie können ja durchaus auch gegen den Stalinismus und seine Scheußlichkeiten gestanden haben, und mancher von ihnen ist gerade deshalb in einem neuen KZ verschwunden, kaum dass er dem alten entronnen war.

Mehr als von den anderen, meine Damen und Herren, kann man von uns Nachgeborenen verlangen, dass wir uns der Klarheit der Begriffe und der Wahrhaftigkeit, der nüchternen Wahrhaftigkeit des Urteils befleißigen.

Ich habe mir für diese kurze Begrüßungsansprache keine andere Botschaft als diese vorgenommen. Und nachdem Sie mich so geduldig angehört haben, möchte ich deswegen jetzt auch schließen dürfen. Ich wünsche Ihnen einen interessanten und einen menschlich schönen Abend hier im Park des Schlosses Bellevue.