Über uns kommt manchmal ein Gefühl der Demut
Willy Brandt
Über uns kommt manchmal ein Gefühl der Demut
Tischrede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Willy Brandt am 20. Juli 1959 im Haus der Kaufleute, Berlin
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich möchte eigentlich keine Rede halten, sondern ein paar Worte des Dankes sagen. Zunächst danken wir Ihnen allen, dass Sie auch in diesem Jahr und gerade in diesem Jahr hierher an diesem Tag, zu diesem Tag, zu uns nach Berlin kommen wollten. Wir wissen das sehr zu schätzen, und ich darf dafür namens des Senats und unseres Abgeordnetenhauses Dank sagen. Ganz besonders schulden wir, glaube ich, alle miteinander, wir, die wir hier beieinander sind und sehr viele in dieser Stadt, wenn nicht alle, denen Dank, die aus dem unmittelbaren Erleben und ihrer Stellung heraus diesen Tag beschrieben, gedeutet, gewürdigt haben.
Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass Josef Müller heute zu uns gesprochen hat, und ich bin Herrn Goerdeler dankbar für das, was er gestern sagen wollte, gerade auch über die innere Beziehung zwischen diesem Kreis und dieser Stadt. Ich darf auch als Bürgermeister dieser Stadt noch einmal das unterstreichen, was Herr Henk vorhin sagte. Ich glaube, es war eine große Sache, von der etwas ausstrahlen wird, dass der General von Hobe heute Mittag für den Bundesverteidigungsminister und für die Bundeswehr gesprochen hat. Wir sind ihm dankbar, dass er unter uns ist, und bitten ihn, die Grüße dieses Kreises und dieser Stadt mitzunehmen, dem Minister und der Bundeswehr auszurichten. Herr Minister Lemmer kann nicht mehr da sein, er war gestern draußen mit in Plötzensee, gestern Abend bei Gehrhus, war heute Mittag ja auch in der Stauffenbergstrasse. Wir sind ihm und Herrn Staatssekretär Anders dankbar dafür, dass sie als Vertreter der Bundesregierung hier zu uns gekommen sind und auch durch ihre persönliche Anwesenheit zeigen, wie sehr Bundesregierung und Senat von Berlin an diesem Tag zusammenstehen und einer gemeinsamen Sache, einem großen gemeinsamen Gedanken dienen.
Ich verrate kein Geheimnis, dass mich bei diesen Begegnungen besonders freut, wenn auch leider allzu kurz, mit dem Kreis der Jugend zusammentreffen zu können, und zu sehen, wie viel Lebendigkeit, wie viel Ernst, aber nicht nur Ernst, auch Weltoffenheit, in den jungen Frauen und Männern steckt, die etwas weiterzuführen haben nach doch häufig auch sehr schweren Jahren, die hinter ihnen liegen, und ich stehe zu dem Wort im Gedenken, das vorhin dort am Tisch gesprochen wurde, da das hier in Berlin am 19. und 20. Juli nicht immer ganz leicht ist. Ich möchte sehr gern einmal zu einer der Begegnungen des Kreises der Jungen kommen dürfen, um das Gespräch, das hier begonnen worden ist, mal in Ruhe führen zu können. Das vorige Jahr, so habe ich mir sagen lassen, hätte man an einem Tische bei Gehrhus sich gefragt, ob man mich nicht fragen sollte, mich dazuzusetzen, und ich habe hinterher zugegeben, dass ich nicht recht den Mut gehabt hätte, mich dazuzusetzen. Die ersten Hemmungen sind jetzt in diesem Jahr auf beiden Seiten überwunden worden. Das mag die Voraussetzung für ein Gespräch sein, von dem ich überzeugt bin, dass ich eine Menge dabei lernen kann.
Meine Freunde, im vorigen Jahr am 20. Juli, vielleicht haben wir es schon vergessen, da umgaben uns die Zeitungsnachrichten über einen gewissen Höhepunkt der Suezkrise, und es lag in der Luft, dass sich aus dem Geschehen im Nahen Osten etwas Unheilvolles für die ganze Welt, für uns mit, ergeben könnte. In diesem Jahr umgibt uns jene Berlin-Krise, die im November vorigen Jahres vom Zaun gebrochen worden ist. Wir sind durch die ersten acht Monate dieser neuen Berlin-Krise viel besser hindurchgekommen, als wir es damals, als es anfing, hoffen durften. Der Anschlag auf das, was man die innere Front dieser Stadt nennen könnte, ist misslungen, wir stehen wirtschaftlich sehr viel besser da als vor einem Jahr. Das konnten wir nicht erwarten, und wir können sogar feststellen, dass durch diese Berlin-Krise viele Menschen draußen in der Welt mit dem Problem dieser Stadt und des geteilten Deutschlands sehr viel näher, besser, bekannt geworden sind, als es vorher der Fall war. Das hatten sich auch diejenigen nicht ausgerechnet, die diese Krise vom Zaun gebrochen haben, und trotzdem gibt es Grund zur Sorge.
Es gibt nicht nur diese eine Seite der Bilanz, die verhältnismäßig günstig ist, es gibt auch eine weltpolitische Seite dieser Bilanz, die nicht ganz so günstig aussieht, ohne dass ich das jetzt vertiefen möchte. Nur eins darf ich sagen: Die Menschen in dieser Stadt und diejenigen, die für sie sprechen und sprechen dürfen, sind trotz allem voller Zuversicht. Sie haben Vertrauen zu sich selbst, Vertrauen zu ihren Freunden, guten, auch starken Freunden draußen in der Welt, und sie dürfen hoffen, durch die vor uns liegenden Krisen hindurchzukommen. Jedenfalls wissen wir oder glauben wir zu wissen, dass es ebenso wie vor zehn und vor elf Jahren hier nicht allein geht um das Leben und die Zukunft von ein paar Millionen Menschen, die in dieser Stadt wohnen, leben, arbeiten, sondern dass hier zugleich über einiges mehr entschieden wird.
Und in dem, was sich in dieser Stadt rührt und regt, was hier allen Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten zum Trotz gestaltet wird, darin ist manches lebendig von dem, woran uns dieser Tag erinnern soll. Und ich glaube, wir, die wir in dieser Stadt wirken, sind es unseren Freunden im deutschen Westen und um unser Deutschland herum schuldig, bei solchen Gelegenheiten der Begegnung wie heute auch, schlicht, aber sehr herzlich zu danken für all die Anteilnahme, das Verständnis, die Sympathie, das helfen Wollen, das uns umgibt, in das wir eingeschlossen, eingebettet sind. Über uns kommt manchmal ein Gefühl der Demut, wenn wir etwa daran denken, dass einfache Menschen in den Vereinigten Staaten auf der anderen Seite des Ozeans das Schicksal dieses Punktes, dieser Stadt, so weit weg von ihnen, als eine Frage des Prinzips weit mehr als ein Symbol betrachten. Aber auch wenn wir uns umschauen im deutschen Westen, es hat sich etwas gewandelt, es ist eine sehr viel engere Beziehung da zu dem Schicksal dieser Stadt und damit zum Ringen um das ganze Deutschland. Irgendwie hat, davon wurde gestern und heute jedenfalls andeutungsweise schon gesprochen, und wir sollten es nicht stärker als andeutungsweise sagen, damit hat die Tat vom 20. Juli 1944 etwas zu tun, dass die Grundidee dessen, was die Männer damals bewegte, nun auch Teil des gedanklichen Weiterwirkens in einer veränderten Welt wird.
Ich darf Ihnen allen noch einmal danken, hoffen, dass wir uns das nächste Mal hier wiedersehen und dass, obgleich es heute nicht ganz rosig aussieht, es doch nicht so sehr viele Jahre mehr dauern wird, bis wir dann das Zurückdenken an diesen 20. Juli werden zusammenfließen, zusammenschmelzen lassen können mit dem beglückenden Gefühl, dass aus diesem unserem zerrissenen Land und dieser zerrissenen Stadt wieder eins geworden sein wird.