Um die Bewährung unserer Rechtsordnung
Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Adalbert Rückerl
Um die Bewährung unserer Rechtsordnung
Gedenkrede des Leiters der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen Dr. Adalbert Rückerl am 20. Juli 1975 in der Stadthalle Bonn-Bad Godesberg
Am Abend des 30. Januar 1933 zog in Berlin die SA mit Fackeln durch das Brandenburger Tor zur Reichskanzlei, um dem gerade ernannten neuen Regierungschef zuzujubeln. Zur selben Stunde machten sich an vielen Orten Deutschlands Frauen und Männer, die ahnten, was nun kommen würde, Gedanken darüber, wie man dem drohenden Unheil begegnen könnte. Die Geburtsstunde des sogenannten „Dritten Reiches“ war gleichzeitig auch die Geburtsstunde des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Herrschaft.
Mit dem Attentat des Grafen Stauffenberg erreichte am 20. Juli 1944 der Widerstand gegen das Hitler-Regime seinen sichtbaren Höhepunkt. Als heute vor 31 Jahren in den Abendstunden bekannt wurde, dass der Anschlag missglückt und der Umsturzversuch gescheitert war, da wusste man auch, dass es nun nur noch in der Macht der alliierten Armeen liegen würde, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft über Deutschland und die zu dieser Zeit noch im deutschen Machtbereich liegenden Gebiete zu beenden. Zehn Monate später war es dann soweit. Das sogenannte „Dritte Reich“ existierte nicht mehr.
Hatten nun die Frauen und Männer des Widerstandes, denen es gelungen war, sich in den Monaten nach dem Attentat den wütenden Verfolgungen der Gestapo zu entziehen, ihr Ziel erreicht, das Ziel, für das sie bereit gewesen waren Gesundheit, Freiheit und Leben einzusetzen? Die Antwort ist: Nein. Das, wogegen sie gekämpft hatten, die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus, das war beseitigt; das, wofür sie sich eingesetzt haben, ein neues Deutschland auf der Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrung der Menschenwürde, das galt es jetzt erst zu schaffen.
Die Forderung nicht nach Rache, sondern nach einer gerechten Bestrafung derer, die sich unter dem NS-Regime in verbrecherischer Weise gegen Menschlichkeit und Menschenwürde vergangen hatten, konnte für die Frauen und Männer des Widerstandes nur als eine logische Fortsetzung ihres Kampfes um Recht und Freiheit gelten.
Das neue Deutschland, für das die Widerstandskämpfer eingetreten sind, hat in der Bundesrepublik seinen freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ausdruck gefunden. Wie weit aber wurde die Forderung nach einer Bestrafung der NS-Verbrecher erfüllt? Das ist die eine Frage. Die andere lautet: Hat es heute, dreißig Jahre danach, noch einen Sinn, auf dieser Forderung zu bestehen?
Ich möchte es mir ersparen, auf die einzelnen Phasen näher einzugehen, die bei einer Untersuchung der Verfolgung von NS-Verbrechen in den letzten dreißig Jahren festzustellen sind. Es genügt hier, sie aufzuzählen und ganz kurz zu charakterisieren.
Da ist zunächst die Phase der Prozesse vor dem Internationalen Militärgerichtshof und den Militärgerichten der einzelnen Alliierten. Sie begann mit großem Elan. Allein die Militärgerichte der drei westlichen Besatzungsmächte erkannten neben zahlreichen langjährigen Freiheitsstrafen in 806 Fällen auf Todesstrafe. 486 Todesurteile wurden vollstreckt. Aber schon um 1950 begannen die Westmächte, ihre Verurteilten - auch solche, die ursprünglich rechtskräftig zum Tode verurteilt worden waren - zu begnadigen und aus der Strafhaft zu entlassen.
Die in der gleichen Zeit von Dienststellen der Militärregierungen nicht gerade überzeugend begonnene und auf deren Weisung in der Folgezeit von deutschen Behörden meist sehr bürokratisch fortgesetzte sogenannte „Entnazifizierung“ verfehlte weitgehend ihr Ziel. Ein beträchtlicher Teil der wahren Schuldigen wurde gar nicht erfasst. Die Gründe dafür sind teilweise in den mangelhaften gesetzlichen Bestimmungen, teilweise in den turbulenten Verhältnissen der ersten Nachkriegsjahre zu suchen.
Den deutschen Justizorganen wurde von den Besatzungsmächten erst Anfang der fünfziger Jahre die uneingeschränkte Befugnis zur Strafverfolgung der NS-Verbrechen übertragen. Sie gingen anfangs nur sehr zögernd an diese Aufgabe heran. Erst Ende des Jahres 1958 fassten die Verantwortlichen den Entschluss, die Dinge systematisch und mit Nachdruck anzugehen. Die deutsche Justiz musste und muss heute noch wegen der Art, in der sie die NS-Prozesse betreibt, viele Vorwürfe hören. Manche davon sind sicher berechtigt. Die Mehrzahl der Vorwürfe wird aber - wie ich meine - zu Unrecht erhoben. Die Schwierigkeiten, die ein NS-Prozess im Vergleich zu einem anderen Strafverfahren mit sich bringt, werden vielfach unterschätzt. Es ist hier nicht der Ort und die Zeit, um auf diese Probleme ausführlicher einzugehen. Ihre Erörterung müsste Stunden in Anspruch nehmen.
Seit 1958 standen bis zum Jahresende 1974 in 334 Verfahren insgesamt 798 Personen wegen eines unter dem NS-Regime begangenen Tötungsverbrechens vor den Schwurgerichten. 542 wurden zu Strafen verurteilt, davon 115 zu lebenslanger Freiheitsstrafe.
Im vergangenen Jahr - 29 Jahre nach Kriegsende - hatten sich 20 Angeklagte wegen Mordtaten aus der NS-Zeit vor den Schwurgerichten zu verantworten. 16 wurden verurteilt, davon 6 zu lebenslanger Freiheitsstrafe.
In diesem letzten Jahr mussten aber auch Verfahren wegen NS-Verbrechen gegen weit mehr als 2.000 teils bekannte, größtenteils aber unbekannte Personen eingestellt werden, weil die Tatverdächtigen nicht zu ermitteln oder inzwischen verstorben waren oder weil mangels ausreichender Beweismittel eine Aufklärung der Taten nicht mehr möglich war.
Die Chancen, ein vor 30, 35 oder auch 40 Jahren begangenes NS-Verbrechen aufzuklären und die Täter vor Gericht zu bringen, werden infolge der aus dem Zeitablauf sich ergebenden Umstände - das heißt infolge zunehmender Beweisschwierigkeiten und des Ausfalls der Beschuldigten durch Krankheit und Tod - immer geringer. Schon heute und in steigendem Maße in den nächsten Jahren bedarf es des Zusammentreffens günstiger Umstände, um ein Verfahren wegen NS-Verbrechen mit der Verurteilung der Täter abzuschließen.
Will man den Erfolg und die Wirkung der NS-Prozesse allein nach der Zahl der ausgesprochenen und der voraussichtlich noch zu erwartenden Verurteilungen und nach der Höhe der verhängten Freiheitsstrafen bewerten, so muss man zu dem Ergebnis kommen, dass die deutsche Justiz ihren Wettlauf mit der Zeit verlieren wird oder schon verloren hat. Sie hat diesen Wettlauf nicht zuletzt deswegen verloren, weil sie ihren Gegner, den Zeitablauf, nicht immer genügend ernst genommen hat und deshalb das Rennen in den ersten Runden zu langsam und zu unentschlossen angegangen ist. Inzwischen hat es sich gezeigt, dass der Rückstand nicht mehr aufzuholen ist. Soll nun die Justiz resignieren? Soll sie das Rennen aufgeben? Was will man mit den NS-Prozessen überhaupt noch erreichen? Welchen Sinn hat es heute noch Straftaten zu verfolgen, die vor mehr als dreißig Jahren unter ganz anderen gesellschaftlichen Verhältnissen begangen wurden? Was kann heute noch mit einer Bestrafung der inzwischen alt gewordenen Täter bezweckt werden?
Über Sinn und Zweck der Strafe wurde in den vergangenen Jahren viel diskutiert. Die Gemüter erhitzten sich bei dem Streit, ob dem Gedanken der Besserung, der Resozialisierung, der Abschreckung, der Sühne oder der Vergeltung der Vorzug zu geben sei.
Nach meiner Überzeugung besteht im Jahre 1975 keine Chance, aber auch keine Notwendigkeit mehr, heute in der Regel zwischen 60 und 75 Jahre alten durch eine wie auch immer geartete Bestrafung die NS-Täter abzuschrecken, zu bessern, zu heilen oder zu resozialisieren. In manchen Urteilen gegen NS-Verbrecher habe ich gelesen, dass die Gerichte angesichts dieser Situation als einzigen Strafzweck nur noch die Sühne anerkennen wollen. Sie folgen damit der Argumentation des Bundestagsvizepräsidenten Dr. Jäger aus der Debatte um die Verlängerung der Verjährungsfrist für Mord. Er hat damals im Juni 1969 vor dem Deutschen Bundestag erklärt:
„Sicherlich gibt es verschiedene Strafzwecke. Aber wenn ich die Mörder der nationalsozialistischen Zeit betrachte meine ich, daß vor ihnen die Gesellschaft nicht mehr geschützt zu werden braucht. Der Gedanke, der heute bei manchen modernen Theorien im Vordergrund steht, ist hier ganz hinfällig. Denn diese Regimetäter haben nur unter den Umständen des Regimes gemordet; sie hätten es in einer normalen Gesellschaft nicht getan. Es braucht deshalb auch niemand mehr abgeschreckt zu werden, und die Resozialisierung der Täter haben diese längst selber besorgt. Gerade an dem Fall der NS-Morde sehen wir, dass der wichtigste Zweck des Strafrechts eben die Sühne ist.“
Ich kann mich dieser Auffassung nicht anschließen. Sühne ist ein Vorgang, an dem der Verurteilte aktiv beteiligt sein muss. Der Verurteilte und das Volk, in dessen Namen ja das Gericht das Urteil spricht, müssen bereit und willens sein, sich auszusöhnen. Das setzt voraus, dass sich der Verurteilte selbst zu der Erkenntnis und dem Bekenntnis durchringt, Unrecht getan zu haben. Er muss seine Bereitschaft erkennen lassen, dafür zu büßen. Eine solche Erkenntnis und eine solche Bereitschaft ist aber bei den NS-Tätern heute in der Regel nicht mehr zu finden. Sie fühlen sich nicht als Schuldige, sondern als Opfer eines Systems, als Prügelknaben.
Wie steht es aber mit der Vergeltung als Strafzweck? Meint man, wenn man von Sühne spricht, vielleicht nur die Vergeltung? Auge um Auge, Zahn um Zahn? Einer aktiven Beteiligung des Verurteilten bedarf es dabei sicherlich nicht. Er wird zum bloßen Objekt. Man wird hier aber fragen müssen: Kann es für Verbrechen dieses Ausmaßes überhaupt eine angemessene Vergeltung geben?
Mir ist darüber hinaus nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass Menschen nach Vergeltung rufen für Taten, an denen sie zwar nicht unmittelbar beteiligt waren und die sie schließlich auch verabscheuten, für die sie aber durch ihr Schweigen und ihre Untätigkeit den Boden bereitet haben, als es noch an der Zeit war, zu reden und auch zu handeln.
Was bleibt dann noch?
Auf einer vom Deutschen Juristentag im April 1966 in Königstein veranstalteten Klausurtagung wurde von den Teilnehmern einstimmig die Entschließung gefasst, die mit den Worten beginnt: „Die Bewährung der Rechtsordnung und der Schutz des menschlichen Lebens erfordert die Verfolgung und Bestrafung der NS-Gewaltverbrecher.“ Das ist es, worum es heute vorrangig geht: Die Bewährung der Rechtsordnung.
Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass es nicht in erster Linie die Furcht vor Strafen ist, welche die Mehrzahl der Bürger unseres Landes zu einem gesetzeskonformen, rechtlichen Verhalten veranlasst. Vielmehr wird man annehmen dürfen, dass das ausschlaggebende Motiv für das Wohlverhalten der meisten Menschen in ihrem Rechtsbewusstsein und ihrer Rechtsüberzeugung zu suchen ist. Mit dieser Annahme läuft man keineswegs Gefahr, Ethos und Moral des Durchschnittsbürgers zu überschätzen. Die Mehrzahl der Menschen hat einfach erkannt, dass sich der Einzelne in der Gesellschaft an gewisse Spielregeln des Zusammenlebens zu halten hat, wenn es nicht zu einem Chaos kommen soll. Wenn nun aber ein Staat darauf verzichtet, eine Verletzung dieser Spielregeln zu ahnden, und wenn er damit sein Desinteresse an der Verteidigung der Rechtsgüter jedes einzelnen seiner Bürger - sei es nun Eigentum, Ehre, Freiheit oder Leben - erkennen lässt, so muss dies zwangsläufig bei diesen Bürgern zu einer Zerrüttung des Rechtsbewusstseins und damit zur Auflösung eines geordneten und sicheren Zusammenlebens führen. Rechtsbewusstsein und Rechtsüberzeugung können sich ihrem Inhalt nach ändern (Denken wir dabei nur an die Wandlungen, die das Sexualstrafrecht in jüngster Zeit erfahren hat.). Aber unverrückbar fest steht das Gebot: Du sollst nicht töten!
Um der Bewährung der Rechtsordnung willen ist es deshalb auch erforderlich, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem millionenfachen Mord an den Gegnern des NS-Regimes und an den Juden nicht um eine Art von politischen oder gar militärischem „Betriebsunfall“ gehandelt hat, dem ein krimineller Charakter weitgehend fehlte. In seinem Buch „Verbrechen unter totalitärer Herrschaft“ schreibt Herbert Jäger:
„Für das öffentliche Bewußtsein ist die neuartige Form der totalitären Kriminalität in gewissem Sinne nicht existent. Der Begriff ‚Verbrechen’ hat durch seinen Alltagsgebrauch eine verengte Bedeutung angenommen, die im Einzelmord zu kulminieren scheint. Bis hierhin reicht der Begriff und was darüber liegt, so könnte man sagen, gilt als ‚Geschichte’, ‚Politik’, ‚Krieg’, jedenfalls aber als etwas, das mit Maßstäben gemessen werden muß, die nicht vorhanden oder doch im Bewußtsein nicht fest verankert zu sein scheinen.“
Wenn wir nicht wollen, dass die Grenzen zwischen Recht und Unrecht im öffentlichen Bewusstsein verwischt werden, dann muss uns auch weiterhin daran gelegen sein, mit den uns gegebenen Mitteln, vor allem auch mit den Mitteln der Justiz, die unter der NS-Gewaltherrschaft begangenen Mordtaten als Unrecht und als Verbrechen zu dokumentieren.
Um der Bewährung der Rechtsordnung willen ist es aber auch erforderlich, deutlich zu machen - und die NS-Prozesse bieten sich dafür geradezu an -, dass jeder Einzelne sein eigenes Handeln, auch noch nach dreißig Jahren, zu verantworten hat, und dass er sich nicht hinter eine wie auch immer geartete Obrigkeit zurückziehen kann.
Die Bewährung der Rechtsordnung erfordert die Bestrafung der NS-Verbrecher. Die Bewährung der Rechtsordnung ist ein Gebot, eine Aufgabe, die in die Zukunft weist. Die Abrechnung mit der Vergangenheit tritt in den Hintergrund. Eine „Bewältigung der Vergangenheit“ im Sinne einer geistigen und seelischen Überwindung vergangener Ereignisse lässt sich nicht mit den Mitteln des Strafrechts erreichen. Die Vorstellung, dass mit jedem Urteil gegen einen NS-Verbrecher gewissermaßen ein Teilstück der Vergangenheit bewältigt sei und ad acta gelegt werden könne, wäre nicht nur absurd sondern in höchstem Maße schädlich. Wir können die Vergangenheit nicht ad acta legen. Sie wirkt weiter. „Alles, was man gemeinhin Vergangenheit nennt, ist im Grunde nur eine leiser und dunkler gewordene Art von Gegenwart.“ sagt Gertrud von Le Fort.
Es geht bei den NS-Prozessen nicht um eine Verewigung und Institutionalisierung eines deutschen Schuldgefühls.
Nahezu zwei Drittel der heute in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Menschen, das heißt alle bis zum Alter von etwa 45 Jahren, waren während des Krieges Kinder oder noch gar nicht geboren. Sie haben für sich selbst kein Schuldbewusstsein und brauchen es auch nicht zu haben. Was sie berührt ist nicht eine Kollektivschuld sondern eher eine Kollektivhaftung. Diese aber kann durch die NS-Prozesse weder vergrößert noch vermindert werden.
Es geht bei den NS-Prozessen nicht um eine „Bewältigung der Vergangenheit“, es geht vielmehr um die „Bewältigung der Zukunft“, um die Stärkung und Erhaltung des Rechtsbewusstseins und der Rechtsüberzeugung bei den heutigen und den kommenden Generationen.
Wenn wir nun darin den Sinn der NS-Prozesse sehen, müssen wir aber auch bereit sein, die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu akzeptieren. Es darf in den NS-Prozessen nichts geschehen, was auch nur den geringsten Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens hervorrufen kann. Der Angeklagte im NS-Prozess steht nicht vor Gericht stellvertretend für ein verbrecherisches Regime. Es geht nur um seine ganz persönliche Schuld. Hüten wir uns davor, eine großzügigere Anwendung des prima-facie-Beweises zu fordern. Die Zugehörigkeit einer Person zu einer an NS-Verbrechen beteiligten Dienststelle genügt nicht zu einer Verurteilung wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord, auch wenn die Verdachtsmomente noch so schwerwiegend erscheinen mögen. Wie in anderen Strafverfahren ist es auch in NS-Prozessen unabdingbar, dass dem Angeklagten sein persönliches gesetzwidriges Verhalten in objektiver und subjektiver Hinsicht zweifelsfrei nachgewiesen wird. Mit Recht stellen die Gerichte mehr als dreißig Jahre nach der Tat an einen zur Verurteilung ausreichenden Nachweis hohe Anforderungen. Dadurch steigen die Chancen der Täter, sich der Bestrafung zu entziehen. Das muss hingenommen werden.
Das Bemühen um Rechtsstaatlichkeit verträgt wohl einen zweifelhaften Freispruch; eine zweifelhafte Verurteilung verträgt es nicht.
Stellt sich einmal heraus, dass ein Gericht in einem NS-Verfahren geirrt hat, dann darf die Justiz in einem Rechtsstaat nicht zögern, den Fehler mit allen ihr zur Verfügung stehenden prozessualen Mitteln wieder gutzumachen. Zu dem Bemühen um Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit gehört es aber auch, einen Menschen, der in der Öffentlichkeit in den Verdacht geraten ist, an einem NS-Verbrechen beteiligt gewesen zu sein, unverzüglich von diesem Verdacht zu befreien, wenn den Justizorganen seine Unschuld bekannt wird.
Vor einigen Wochen nahm ich an einer Diskussion teil, in deren Verlauf ein junger Mann forderte, man sollte doch mit den NS-Verbrechern kurzen Prozess machen so wie seinerzeit diese selbst, als sie sich noch als Herren über Leben und Tod fühlten, mit ihren Opfern kurzen Prozess gemacht hatten. Ein ehemaliger Widerstandskämpfer, der für seine Überzeugung jahrelang im Konzentrationslager gelitten hatte, antwortete ihm. Er sagte: Wenn man heute in diesem Staat den NS-Mördern einen kurzen Prozess machen würde, wenn man sie genauso oder auch nur ähnlich behandeln würde, wie sie selbst damals mit den in ihrer Gewalt befindlichen Menschen umgegangen sind, dann wären alle die Opfer und Leiden derer umsonst gewesen, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus mit ihrem Leben für Gerechtigkeit und Wahrung der Menschenwürde, kurz gesagt, für rechtsstaatliche Verhältnisse eingetreten sind.
Das Bemühen um Rechtsstaatlichkeit, das unter anderem in den NS-Prozessen seinen Ausdruck findet, ist ein wirksames Mittel, um der Gefahr einer Wiederholung der schrecklichen Ereignisse der NS-Zeit vorzubeugen.
Die NS-Prozesse werden aber ihren Zweck, zur Stärkung des Rechtsbewusstseins in unserem Volk beizutragen, mit Sicherheit dann verfehlen, wenn durch irgendeinen Umstand der Eindruck entstünde, dass es dabei nicht so sehr um Recht und Gerechtigkeit im eigenen Lande, sondern vorrangig um fremde Interessen geht. Dieser Eindruck kann immer dann entstehen, wenn man Fragen nach den von anderen an Deutschen begangenen Verbrechen krampfhaft auszuweichen versucht. Diese Verbrechen sind nun einmal, ebenso wie die NS-Verbrechen, ein Teil unserer Geschichte. Die Gefahr, dass durch eine Erörterung dieser Dinge Aufrechnungstendenzen gefördert werden könnten, halte ich für gering. Wer hier aufrechnen will, ist entweder böswillig oder dumm. Ich glaube auch nicht, dass durch eine unbefangene Erörterung die Entspannung oder die gegenseitige Versöhnung gefährdet wird, wenn es die andere Seite mit der Entspannung und der Versöhnung ernst meint.
Nur in einer offenen Diskussion, frei von jedem Tabu, wird es möglich sein, klar und deutlich herauszustellen: Wir schulden die Bestrafung der NS-Mörder nicht in erster Linie anderen; wir schulden sie uns selbst. NS-Verbrechen werden in der Bundesrepublik Deutschland verfolgt, weil unsere eigene Rechtsordnung in ihrem Streben, die Achtung vor dem Leben und der Würde des Menschen zu stärken und zu erhalten, die Verfolgung erfordert. Diese Forderung bedeutet aber nicht: NS-Prozesse um jeden Preis. Sie kann nur bedeuten: NS-Prozesse dort, wo dies unter Einhaltung aller rechtsstaatlichen Garantien auch heute noch möglich ist.
Nur so können wir dazu beitragen, das Vermächtnis jener Menschen zu erfüllen, die in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Kampf um rechtsstaatliche Ideale ihr Leben geopfert haben - das Vermächtnis der Frauen und Männer des Widerstandes, die wir heute an diesem Abend, aber nicht nur heute, ehren wollen.
Adalbert Rückerl
Um die Bewährung unserer Rechtsordnung
Gedenkrede des Leiters der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen Dr. Adalbert Rückerl am 20. Juli 1975 in der Stadthalle Bonn-Bad Godesberg
Am Abend des 30. Januar 1933 zog in Berlin die SA mit Fackeln durch das Brandenburger Tor zur Reichskanzlei, um dem gerade ernannten neuen Regierungschef zuzujubeln. Zur selben Stunde machten sich an vielen Orten Deutschlands Frauen und Männer, die ahnten, was nun kommen würde, Gedanken darüber, wie man dem drohenden Unheil begegnen könnte. Die Geburtsstunde des sogenannten „Dritten Reiches“ war gleichzeitig auch die Geburtsstunde des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Herrschaft.
Mit dem Attentat des Grafen Stauffenberg erreichte am 20. Juli 1944 der Widerstand gegen das Hitler-Regime seinen sichtbaren Höhepunkt. Als heute vor 31 Jahren in den Abendstunden bekannt wurde, dass der Anschlag missglückt und der Umsturzversuch gescheitert war, da wusste man auch, dass es nun nur noch in der Macht der alliierten Armeen liegen würde, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft über Deutschland und die zu dieser Zeit noch im deutschen Machtbereich liegenden Gebiete zu beenden. Zehn Monate später war es dann soweit. Das sogenannte „Dritte Reich“ existierte nicht mehr.
Hatten nun die Frauen und Männer des Widerstandes, denen es gelungen war, sich in den Monaten nach dem Attentat den wütenden Verfolgungen der Gestapo zu entziehen, ihr Ziel erreicht, das Ziel, für das sie bereit gewesen waren Gesundheit, Freiheit und Leben einzusetzen? Die Antwort ist: Nein. Das, wogegen sie gekämpft hatten, die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus, das war beseitigt; das, wofür sie sich eingesetzt haben, ein neues Deutschland auf der Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrung der Menschenwürde, das galt es jetzt erst zu schaffen.
Die Forderung nicht nach Rache, sondern nach einer gerechten Bestrafung derer, die sich unter dem NS-Regime in verbrecherischer Weise gegen Menschlichkeit und Menschenwürde vergangen hatten, konnte für die Frauen und Männer des Widerstandes nur als eine logische Fortsetzung ihres Kampfes um Recht und Freiheit gelten.
Das neue Deutschland, für das die Widerstandskämpfer eingetreten sind, hat in der Bundesrepublik seinen freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ausdruck gefunden. Wie weit aber wurde die Forderung nach einer Bestrafung der NS-Verbrecher erfüllt? Das ist die eine Frage. Die andere lautet: Hat es heute, dreißig Jahre danach, noch einen Sinn, auf dieser Forderung zu bestehen?
Ich möchte es mir ersparen, auf die einzelnen Phasen näher einzugehen, die bei einer Untersuchung der Verfolgung von NS-Verbrechen in den letzten dreißig Jahren festzustellen sind. Es genügt hier, sie aufzuzählen und ganz kurz zu charakterisieren.
Da ist zunächst die Phase der Prozesse vor dem Internationalen Militärgerichtshof und den Militärgerichten der einzelnen Alliierten. Sie begann mit großem Elan. Allein die Militärgerichte der drei westlichen Besatzungsmächte erkannten neben zahlreichen langjährigen Freiheitsstrafen in 806 Fällen auf Todesstrafe. 486 Todesurteile wurden vollstreckt. Aber schon um 1950 begannen die Westmächte, ihre Verurteilten - auch solche, die ursprünglich rechtskräftig zum Tode verurteilt worden waren - zu begnadigen und aus der Strafhaft zu entlassen.
Die in der gleichen Zeit von Dienststellen der Militärregierungen nicht gerade überzeugend begonnene und auf deren Weisung in der Folgezeit von deutschen Behörden meist sehr bürokratisch fortgesetzte sogenannte „Entnazifizierung“ verfehlte weitgehend ihr Ziel. Ein beträchtlicher Teil der wahren Schuldigen wurde gar nicht erfasst. Die Gründe dafür sind teilweise in den mangelhaften gesetzlichen Bestimmungen, teilweise in den turbulenten Verhältnissen der ersten Nachkriegsjahre zu suchen.
Den deutschen Justizorganen wurde von den Besatzungsmächten erst Anfang der fünfziger Jahre die uneingeschränkte Befugnis zur Strafverfolgung der NS-Verbrechen übertragen. Sie gingen anfangs nur sehr zögernd an diese Aufgabe heran. Erst Ende des Jahres 1958 fassten die Verantwortlichen den Entschluss, die Dinge systematisch und mit Nachdruck anzugehen. Die deutsche Justiz musste und muss heute noch wegen der Art, in der sie die NS-Prozesse betreibt, viele Vorwürfe hören. Manche davon sind sicher berechtigt. Die Mehrzahl der Vorwürfe wird aber - wie ich meine - zu Unrecht erhoben. Die Schwierigkeiten, die ein NS-Prozess im Vergleich zu einem anderen Strafverfahren mit sich bringt, werden vielfach unterschätzt. Es ist hier nicht der Ort und die Zeit, um auf diese Probleme ausführlicher einzugehen. Ihre Erörterung müsste Stunden in Anspruch nehmen.
Seit 1958 standen bis zum Jahresende 1974 in 334 Verfahren insgesamt 798 Personen wegen eines unter dem NS-Regime begangenen Tötungsverbrechens vor den Schwurgerichten. 542 wurden zu Strafen verurteilt, davon 115 zu lebenslanger Freiheitsstrafe.
Im vergangenen Jahr - 29 Jahre nach Kriegsende - hatten sich 20 Angeklagte wegen Mordtaten aus der NS-Zeit vor den Schwurgerichten zu verantworten. 16 wurden verurteilt, davon 6 zu lebenslanger Freiheitsstrafe.
In diesem letzten Jahr mussten aber auch Verfahren wegen NS-Verbrechen gegen weit mehr als 2.000 teils bekannte, größtenteils aber unbekannte Personen eingestellt werden, weil die Tatverdächtigen nicht zu ermitteln oder inzwischen verstorben waren oder weil mangels ausreichender Beweismittel eine Aufklärung der Taten nicht mehr möglich war.
Die Chancen, ein vor 30, 35 oder auch 40 Jahren begangenes NS-Verbrechen aufzuklären und die Täter vor Gericht zu bringen, werden infolge der aus dem Zeitablauf sich ergebenden Umstände - das heißt infolge zunehmender Beweisschwierigkeiten und des Ausfalls der Beschuldigten durch Krankheit und Tod - immer geringer. Schon heute und in steigendem Maße in den nächsten Jahren bedarf es des Zusammentreffens günstiger Umstände, um ein Verfahren wegen NS-Verbrechen mit der Verurteilung der Täter abzuschließen.
Will man den Erfolg und die Wirkung der NS-Prozesse allein nach der Zahl der ausgesprochenen und der voraussichtlich noch zu erwartenden Verurteilungen und nach der Höhe der verhängten Freiheitsstrafen bewerten, so muss man zu dem Ergebnis kommen, dass die deutsche Justiz ihren Wettlauf mit der Zeit verlieren wird oder schon verloren hat. Sie hat diesen Wettlauf nicht zuletzt deswegen verloren, weil sie ihren Gegner, den Zeitablauf, nicht immer genügend ernst genommen hat und deshalb das Rennen in den ersten Runden zu langsam und zu unentschlossen angegangen ist. Inzwischen hat es sich gezeigt, dass der Rückstand nicht mehr aufzuholen ist. Soll nun die Justiz resignieren? Soll sie das Rennen aufgeben? Was will man mit den NS-Prozessen überhaupt noch erreichen? Welchen Sinn hat es heute noch Straftaten zu verfolgen, die vor mehr als dreißig Jahren unter ganz anderen gesellschaftlichen Verhältnissen begangen wurden? Was kann heute noch mit einer Bestrafung der inzwischen alt gewordenen Täter bezweckt werden?
Über Sinn und Zweck der Strafe wurde in den vergangenen Jahren viel diskutiert. Die Gemüter erhitzten sich bei dem Streit, ob dem Gedanken der Besserung, der Resozialisierung, der Abschreckung, der Sühne oder der Vergeltung der Vorzug zu geben sei.
Nach meiner Überzeugung besteht im Jahre 1975 keine Chance, aber auch keine Notwendigkeit mehr, heute in der Regel zwischen 60 und 75 Jahre alten durch eine wie auch immer geartete Bestrafung die NS-Täter abzuschrecken, zu bessern, zu heilen oder zu resozialisieren. In manchen Urteilen gegen NS-Verbrecher habe ich gelesen, dass die Gerichte angesichts dieser Situation als einzigen Strafzweck nur noch die Sühne anerkennen wollen. Sie folgen damit der Argumentation des Bundestagsvizepräsidenten Dr. Jäger aus der Debatte um die Verlängerung der Verjährungsfrist für Mord. Er hat damals im Juni 1969 vor dem Deutschen Bundestag erklärt:
„Sicherlich gibt es verschiedene Strafzwecke. Aber wenn ich die Mörder der nationalsozialistischen Zeit betrachte meine ich, daß vor ihnen die Gesellschaft nicht mehr geschützt zu werden braucht. Der Gedanke, der heute bei manchen modernen Theorien im Vordergrund steht, ist hier ganz hinfällig. Denn diese Regimetäter haben nur unter den Umständen des Regimes gemordet; sie hätten es in einer normalen Gesellschaft nicht getan. Es braucht deshalb auch niemand mehr abgeschreckt zu werden, und die Resozialisierung der Täter haben diese längst selber besorgt. Gerade an dem Fall der NS-Morde sehen wir, dass der wichtigste Zweck des Strafrechts eben die Sühne ist.“
Ich kann mich dieser Auffassung nicht anschließen. Sühne ist ein Vorgang, an dem der Verurteilte aktiv beteiligt sein muss. Der Verurteilte und das Volk, in dessen Namen ja das Gericht das Urteil spricht, müssen bereit und willens sein, sich auszusöhnen. Das setzt voraus, dass sich der Verurteilte selbst zu der Erkenntnis und dem Bekenntnis durchringt, Unrecht getan zu haben. Er muss seine Bereitschaft erkennen lassen, dafür zu büßen. Eine solche Erkenntnis und eine solche Bereitschaft ist aber bei den NS-Tätern heute in der Regel nicht mehr zu finden. Sie fühlen sich nicht als Schuldige, sondern als Opfer eines Systems, als Prügelknaben.
Wie steht es aber mit der Vergeltung als Strafzweck? Meint man, wenn man von Sühne spricht, vielleicht nur die Vergeltung? Auge um Auge, Zahn um Zahn? Einer aktiven Beteiligung des Verurteilten bedarf es dabei sicherlich nicht. Er wird zum bloßen Objekt. Man wird hier aber fragen müssen: Kann es für Verbrechen dieses Ausmaßes überhaupt eine angemessene Vergeltung geben?
Mir ist darüber hinaus nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass Menschen nach Vergeltung rufen für Taten, an denen sie zwar nicht unmittelbar beteiligt waren und die sie schließlich auch verabscheuten, für die sie aber durch ihr Schweigen und ihre Untätigkeit den Boden bereitet haben, als es noch an der Zeit war, zu reden und auch zu handeln.
Was bleibt dann noch?
Auf einer vom Deutschen Juristentag im April 1966 in Königstein veranstalteten Klausurtagung wurde von den Teilnehmern einstimmig die Entschließung gefasst, die mit den Worten beginnt: „Die Bewährung der Rechtsordnung und der Schutz des menschlichen Lebens erfordert die Verfolgung und Bestrafung der NS-Gewaltverbrecher.“ Das ist es, worum es heute vorrangig geht: Die Bewährung der Rechtsordnung.
Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass es nicht in erster Linie die Furcht vor Strafen ist, welche die Mehrzahl der Bürger unseres Landes zu einem gesetzeskonformen, rechtlichen Verhalten veranlasst. Vielmehr wird man annehmen dürfen, dass das ausschlaggebende Motiv für das Wohlverhalten der meisten Menschen in ihrem Rechtsbewusstsein und ihrer Rechtsüberzeugung zu suchen ist. Mit dieser Annahme läuft man keineswegs Gefahr, Ethos und Moral des Durchschnittsbürgers zu überschätzen. Die Mehrzahl der Menschen hat einfach erkannt, dass sich der Einzelne in der Gesellschaft an gewisse Spielregeln des Zusammenlebens zu halten hat, wenn es nicht zu einem Chaos kommen soll. Wenn nun aber ein Staat darauf verzichtet, eine Verletzung dieser Spielregeln zu ahnden, und wenn er damit sein Desinteresse an der Verteidigung der Rechtsgüter jedes einzelnen seiner Bürger - sei es nun Eigentum, Ehre, Freiheit oder Leben - erkennen lässt, so muss dies zwangsläufig bei diesen Bürgern zu einer Zerrüttung des Rechtsbewusstseins und damit zur Auflösung eines geordneten und sicheren Zusammenlebens führen. Rechtsbewusstsein und Rechtsüberzeugung können sich ihrem Inhalt nach ändern (Denken wir dabei nur an die Wandlungen, die das Sexualstrafrecht in jüngster Zeit erfahren hat.). Aber unverrückbar fest steht das Gebot: Du sollst nicht töten!
Um der Bewährung der Rechtsordnung willen ist es deshalb auch erforderlich, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem millionenfachen Mord an den Gegnern des NS-Regimes und an den Juden nicht um eine Art von politischen oder gar militärischem „Betriebsunfall“ gehandelt hat, dem ein krimineller Charakter weitgehend fehlte. In seinem Buch „Verbrechen unter totalitärer Herrschaft“ schreibt Herbert Jäger:
„Für das öffentliche Bewußtsein ist die neuartige Form der totalitären Kriminalität in gewissem Sinne nicht existent. Der Begriff ‚Verbrechen’ hat durch seinen Alltagsgebrauch eine verengte Bedeutung angenommen, die im Einzelmord zu kulminieren scheint. Bis hierhin reicht der Begriff und was darüber liegt, so könnte man sagen, gilt als ‚Geschichte’, ‚Politik’, ‚Krieg’, jedenfalls aber als etwas, das mit Maßstäben gemessen werden muß, die nicht vorhanden oder doch im Bewußtsein nicht fest verankert zu sein scheinen.“
Wenn wir nicht wollen, dass die Grenzen zwischen Recht und Unrecht im öffentlichen Bewusstsein verwischt werden, dann muss uns auch weiterhin daran gelegen sein, mit den uns gegebenen Mitteln, vor allem auch mit den Mitteln der Justiz, die unter der NS-Gewaltherrschaft begangenen Mordtaten als Unrecht und als Verbrechen zu dokumentieren.
Um der Bewährung der Rechtsordnung willen ist es aber auch erforderlich, deutlich zu machen - und die NS-Prozesse bieten sich dafür geradezu an -, dass jeder Einzelne sein eigenes Handeln, auch noch nach dreißig Jahren, zu verantworten hat, und dass er sich nicht hinter eine wie auch immer geartete Obrigkeit zurückziehen kann.
Die Bewährung der Rechtsordnung erfordert die Bestrafung der NS-Verbrecher. Die Bewährung der Rechtsordnung ist ein Gebot, eine Aufgabe, die in die Zukunft weist. Die Abrechnung mit der Vergangenheit tritt in den Hintergrund. Eine „Bewältigung der Vergangenheit“ im Sinne einer geistigen und seelischen Überwindung vergangener Ereignisse lässt sich nicht mit den Mitteln des Strafrechts erreichen. Die Vorstellung, dass mit jedem Urteil gegen einen NS-Verbrecher gewissermaßen ein Teilstück der Vergangenheit bewältigt sei und ad acta gelegt werden könne, wäre nicht nur absurd sondern in höchstem Maße schädlich. Wir können die Vergangenheit nicht ad acta legen. Sie wirkt weiter. „Alles, was man gemeinhin Vergangenheit nennt, ist im Grunde nur eine leiser und dunkler gewordene Art von Gegenwart.“ sagt Gertrud von Le Fort.
Es geht bei den NS-Prozessen nicht um eine Verewigung und Institutionalisierung eines deutschen Schuldgefühls.
Nahezu zwei Drittel der heute in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Menschen, das heißt alle bis zum Alter von etwa 45 Jahren, waren während des Krieges Kinder oder noch gar nicht geboren. Sie haben für sich selbst kein Schuldbewusstsein und brauchen es auch nicht zu haben. Was sie berührt ist nicht eine Kollektivschuld sondern eher eine Kollektivhaftung. Diese aber kann durch die NS-Prozesse weder vergrößert noch vermindert werden.
Es geht bei den NS-Prozessen nicht um eine „Bewältigung der Vergangenheit“, es geht vielmehr um die „Bewältigung der Zukunft“, um die Stärkung und Erhaltung des Rechtsbewusstseins und der Rechtsüberzeugung bei den heutigen und den kommenden Generationen.
Wenn wir nun darin den Sinn der NS-Prozesse sehen, müssen wir aber auch bereit sein, die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu akzeptieren. Es darf in den NS-Prozessen nichts geschehen, was auch nur den geringsten Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens hervorrufen kann. Der Angeklagte im NS-Prozess steht nicht vor Gericht stellvertretend für ein verbrecherisches Regime. Es geht nur um seine ganz persönliche Schuld. Hüten wir uns davor, eine großzügigere Anwendung des prima-facie-Beweises zu fordern. Die Zugehörigkeit einer Person zu einer an NS-Verbrechen beteiligten Dienststelle genügt nicht zu einer Verurteilung wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord, auch wenn die Verdachtsmomente noch so schwerwiegend erscheinen mögen. Wie in anderen Strafverfahren ist es auch in NS-Prozessen unabdingbar, dass dem Angeklagten sein persönliches gesetzwidriges Verhalten in objektiver und subjektiver Hinsicht zweifelsfrei nachgewiesen wird. Mit Recht stellen die Gerichte mehr als dreißig Jahre nach der Tat an einen zur Verurteilung ausreichenden Nachweis hohe Anforderungen. Dadurch steigen die Chancen der Täter, sich der Bestrafung zu entziehen. Das muss hingenommen werden.
Das Bemühen um Rechtsstaatlichkeit verträgt wohl einen zweifelhaften Freispruch; eine zweifelhafte Verurteilung verträgt es nicht.
Stellt sich einmal heraus, dass ein Gericht in einem NS-Verfahren geirrt hat, dann darf die Justiz in einem Rechtsstaat nicht zögern, den Fehler mit allen ihr zur Verfügung stehenden prozessualen Mitteln wieder gutzumachen. Zu dem Bemühen um Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit gehört es aber auch, einen Menschen, der in der Öffentlichkeit in den Verdacht geraten ist, an einem NS-Verbrechen beteiligt gewesen zu sein, unverzüglich von diesem Verdacht zu befreien, wenn den Justizorganen seine Unschuld bekannt wird.
Vor einigen Wochen nahm ich an einer Diskussion teil, in deren Verlauf ein junger Mann forderte, man sollte doch mit den NS-Verbrechern kurzen Prozess machen so wie seinerzeit diese selbst, als sie sich noch als Herren über Leben und Tod fühlten, mit ihren Opfern kurzen Prozess gemacht hatten. Ein ehemaliger Widerstandskämpfer, der für seine Überzeugung jahrelang im Konzentrationslager gelitten hatte, antwortete ihm. Er sagte: Wenn man heute in diesem Staat den NS-Mördern einen kurzen Prozess machen würde, wenn man sie genauso oder auch nur ähnlich behandeln würde, wie sie selbst damals mit den in ihrer Gewalt befindlichen Menschen umgegangen sind, dann wären alle die Opfer und Leiden derer umsonst gewesen, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus mit ihrem Leben für Gerechtigkeit und Wahrung der Menschenwürde, kurz gesagt, für rechtsstaatliche Verhältnisse eingetreten sind.
Das Bemühen um Rechtsstaatlichkeit, das unter anderem in den NS-Prozessen seinen Ausdruck findet, ist ein wirksames Mittel, um der Gefahr einer Wiederholung der schrecklichen Ereignisse der NS-Zeit vorzubeugen.
Die NS-Prozesse werden aber ihren Zweck, zur Stärkung des Rechtsbewusstseins in unserem Volk beizutragen, mit Sicherheit dann verfehlen, wenn durch irgendeinen Umstand der Eindruck entstünde, dass es dabei nicht so sehr um Recht und Gerechtigkeit im eigenen Lande, sondern vorrangig um fremde Interessen geht. Dieser Eindruck kann immer dann entstehen, wenn man Fragen nach den von anderen an Deutschen begangenen Verbrechen krampfhaft auszuweichen versucht. Diese Verbrechen sind nun einmal, ebenso wie die NS-Verbrechen, ein Teil unserer Geschichte. Die Gefahr, dass durch eine Erörterung dieser Dinge Aufrechnungstendenzen gefördert werden könnten, halte ich für gering. Wer hier aufrechnen will, ist entweder böswillig oder dumm. Ich glaube auch nicht, dass durch eine unbefangene Erörterung die Entspannung oder die gegenseitige Versöhnung gefährdet wird, wenn es die andere Seite mit der Entspannung und der Versöhnung ernst meint.
Nur in einer offenen Diskussion, frei von jedem Tabu, wird es möglich sein, klar und deutlich herauszustellen: Wir schulden die Bestrafung der NS-Mörder nicht in erster Linie anderen; wir schulden sie uns selbst. NS-Verbrechen werden in der Bundesrepublik Deutschland verfolgt, weil unsere eigene Rechtsordnung in ihrem Streben, die Achtung vor dem Leben und der Würde des Menschen zu stärken und zu erhalten, die Verfolgung erfordert. Diese Forderung bedeutet aber nicht: NS-Prozesse um jeden Preis. Sie kann nur bedeuten: NS-Prozesse dort, wo dies unter Einhaltung aller rechtsstaatlichen Garantien auch heute noch möglich ist.
Nur so können wir dazu beitragen, das Vermächtnis jener Menschen zu erfüllen, die in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Kampf um rechtsstaatliche Ideale ihr Leben geopfert haben - das Vermächtnis der Frauen und Männer des Widerstandes, die wir heute an diesem Abend, aber nicht nur heute, ehren wollen.